Jahresrückblick Soziale Bewegungen
Träge, aber beharrlich
von Rakete am 25. Dezember 2010 veröffentlicht in Hintergrund, Soziale Bewegungen, Titelstory2010 wurde in Göttingen wie immer hartnäckig protestiert. Allzuviele Menschen fanden dieses Jahr dabei den Weg nicht auf die Straße: mehr als 200 waren es selten. Trotzdem gab es Erfolge. In unserem Jahresrückblick betrachten wir die Sozialen Bewegungen der Stadt und ihre Aktivitäten im Jahr 2010.
Das größte Durchhaltevermögen bewies in diesem Jahr die Anti-Abschiebungs-Bewegung im Kampf gegen die Deportationen von Roma in das Kosovo. Unzählige Demonstrationen und Kundgebungen mit oft allerdings überschaubaren Teilnehmendenzahlen schafften regelmäßig Öffentlichkeit für die Belange der Roma-Flüchtlinge. Bis zu 200 Menschen gingen dafür auf die Straße, nicht selten waren es aber auch nur 30.
Die Solidarität mit den Flüchtlingen zeigte sich nicht nur im passiven Protest. Bereits im Januar hatten 20 Menschen die Ausländerbehörde im Rathaus besetzt. Etwa zwei Wochen später blockierten 90 Linke das Amtsgericht, um eine Abschiebung zu verhindern. Die Parteibüros von SPD und Grünen wurden im März besetzt, um auf personale Beteiligung von Parteimitgliedern in der Abschiebemaschine hinzuweisen. Das Café Kabale kam im April in die Schlagzeilen, weil es eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde rausgeworfen hatte.
In einer Nacht im Juni verhinderten 80 Linke mit einer Blockade im Blümchenviertel, dass die Polizei eine Roma-Familie aus der Wohnung holen konnte. Am Tag darauf kam es zu Solidaritätsbekundungen während des Altstadtlaufs, der von der Polizei jedoch recht erfolgreich in der Wahrnehmbarkeit eingeschränkt wurde. Auf dem Weihnachtsmarkt versuchte sie erneut, den Protest von den Innenstadtbesucher_innen fern zu halten – dieses Mal ohne Erfolg. Im Dezember organisierte die Redical M eine Kundgebung gegen einen Vortrag von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, den sie für die deutsche Abschiebungspolitik verantwortlich machte. Der Vortrag selbst ging allerdings störungsfrei über die Bühne.
Ein Brandsatz in der Ausländerbehörde des Landkreises, der dort womöglich von einem Abschiebungsgegner platziert wurde, sorgte für das zweite, große Thema der Sozialen Bewegungen in diesem Jahr: Antirepressionsarbeit. Die Polizei übte sich Monatelang in Vorverurteilungen und Hetze gegen Linke, die ihren Höhepunkt in einer Hausdurchsuchung in der Roten Straße fand. Dass die Linke noch am ehesten zu Protesten bereit ist, wenn es um die eigenen Belange geht, zeigte sich im Anschluß an die Durchsuchung: 500 kamen zu einer der personenstärksten Demonstrationen im Jahr 2010, zu der nur wenige Tage mobilisiert wurde. Bereits am Abend der Durchsuchung hatten 200 Menschen dagegen demonstriert und dabei auch ein bisschen randaliert. Im Juni gingen die Ermittlungen ergebnislos zu Ende. Öffentlicher Kritik begegnete die Polizei mit Polemik und Diffamierung.
Dann ging die Bewegung in die Offensive. Im März startete ein breites Bündnis von Antifa-Gruppen bis hin zu Parteien eine Kampagne gegen Kriminalisierung und politische Justiz. Ein auf dieses Bündnis zurück gehender Ratsbeschluß forderte im Mai die Einrichtung eines Runden Tisches mit Vertreter_innen von Polizei, Politik und Sozialen Bewegungen. Im November wurde bekannt, dass Polizeipräsident Robert Kruse an einem solchen Treffen nicht teilnehmen will. Er traf sich stattdessen mit einigen Ratsmitgliedern unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Kommentar
Die Stärke der Sozialen Bewegungen in Göttingen ist eindeutig ihre Hartnäckigkeit. Insbesondere die Solidarität mit Flüchtlingen und der Kampf gegen Repression stand 2010 immer wieder auf der Agenda. Und das durchaus mit Erfolg: in Göttingen konnten fast alle Abschiebungen verhindert oder aufgeschoben werden, immer wieder war das Schicksal der Flüchtlinge nicht zuletzt wegen der Proteste Thema in den Medien. Das Erfolgsgeheimnis der Antirepressionsarbeit lag in deren Bündnischarakter. Durch die Zusammenarbeit mit Parteien war das Vorgehen gegen Linke von Polizei und Staatsanwaltschaft mehr als einmal Gesprächsthema in Göttingen. Das gilt für viele andere Ereignisse auch, über die ohne Protest nicht öffentlich diskutiert worden wäre. Traurig ist, wie wenig Menschen sich an Protestaktionen beteiligen: es sind oft die selben 50, die gegen die Deportationen ins Elend protestieren. Wesentlich mehr werden es nur, wenn die eigenen Strukturen angegriffen werden. Oder wenn es gelingt, über den Szenerand hinaus zu mobilisieren. Die eigene Trägheit ist es, die der Linken oft selbst im Weg steht.
Nachdem die Bildungsproteste 2009 mit mehrwöchigen Besetzungen und einer Demonstration mit bis zu 10.000 Schüler_innen und Student_innen ungeahnte Ausmaße erreichten, war 2010 für diese Bewegung ein schlechtes Jahr. Zwar kamen zu einer Demonstration bis zu 2000 Protestierende. Trotz dieses größten Protestes in 2010 konnte die Bewegung aber keine Kontinuität aufbauen.
Klassische Antifa-Aktivitäten beschränkten sich in diesem Jahr auf Mobilisierungen in andere Städte (u.a. Bad Gandersheim, Bad Nenndorf und Dresden) und auf das Verprügeln von Personen mit Thor-Steinar-Kleidung. Hinweise auf einen angeblichen Nazi-Mord stellten sich im Herbst glücklicher Weise als Falschmeldung heraus. Eine Kampagne gegen den Vertrieb einer rechten Zeitung im Göttinger Zeitschriftenhandel endete im Herbst erfolgreich.
Immer wieder kam es auch 2010 zu Protest gegen Burschenschaften. Die Aktivitäten blieben in diesem Jahr allerdings überschaubar. Der personenstärkste Protest wurde im August von der Jugendantifa organisiert: 180 Antifas demonstrierten gegen einen angeblichen Übergriff durch Burschenschaftler auf linke Jugendliche. Immer wieder gab es Farbbeutelwürfe auf die zahlreichen Burschenschaftshäuser der Stadt.
Auf die Krise fand die Göttinger Linke nicht so recht eine Antwort. Hartnäckig halten sich am Gänseliesel die Montagsdemos mit einer Handvoll Teilnehmer_innen und immer wieder kommt es zu kleineren Protestaktionen gegen Sozialabbau und Armut. Auch die traditionelle Mai-Kundgebung vom DGB war wie immer gut besucht. Emanzipatorische Antworten auf die Wirtschaftskrise blieben 2010 in Göttingen jedoch weitestgehend aus.
Auch der Feminismus fristete 2010 in Göttingen eher ein Nischendasein. Zum internationalen Frauenkampftag gab es einen Infostand. An einer Demonstration unter dem Motto „Neither your beast, nor your beauty“ nahmen etwa 120 Menschen teil. Das Antifee-Festival, das den Feminismus doch mindestens eins seiner Standbeine nennt, feierte im vierten Jahr den bislang größten Erfolg. Bei strahlendem Sonnenschein kamen tausende, um Konzerten und Workshops beizuwohnen.
Im Vorfeld des Castor-Transportes lehnte sich die Anti-AKW-Bewegung kurzzeitig auf, die in Göttingen im Gegensatz zum Bundestrend eher stagniert bzw. schwächer wird. Im Oktober demonstrierten 230 Menschen gegen Atomkraft. An dem Abend, als der Castor durch den Göttinger Bahnhof rollte, protestierten erneut 200 Menschen vor dem Bahnhof. Zu Blockadeversuchen kam es in diesem Jahr allerdings nicht: der Zug passierte ungehindert das Stadtgebiet.
Wie immer nicht unkommentiert blieb auch ein Auftritt der Bundeswehr in der Stadthalle. 15 Antimilitarist_innen begossen sich im November öffentlichkeitswirksam mit Kunstblut.
Dieser Rückblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Haben wir was vergessen? Ergänzt es in den Kommentaren!
http://femko.blogsport.de/2010/03/21/demobericht-13-maerz/
es gab sehr wohl ne demo zum internationalen Frauenkampftag 😉
Danke. Hatte ich unter 2009 abgebucht.
Ich überlege grade ob nicht ein paar Zeilen zu den Protesten gegen die „Südspange“ hier noch reingehört hätten auch wenn es jetzt nicht unbedingt eine klassische soziale Bewegung sondern eher eine bürgerliche Bewegung war.
sponti und mahnwache wegen s21/bullengewalt?