Lesung im Deutschen Theater

Uwe Timm beim Literaturherbst
von am 24. Oktober 2011 veröffentlicht in featured, Kultur, Rezensionen, Theater

Am Sonntag war der Autor Uwe Timm im Deutschen Theater zu Gast. Im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes las er aus seiner Novelle „Freitisch“ und sprach über Politik. Ein literarischer Abend jenseits des akademischen Käfigs.

Uwe Timm ist mit dem Roman „Heißer Sommer“ in den Siebzigern als ein literarischer Autor bekannt geworden, der die 68er Bewegung zu dokumentieren versuchte. Timm, 1940 in Hamburg geboren, kehrt auch in seinen heutigen Werken immer wieder in diese Zeit zurück. Gerade ist seine neue Novelle „Freitisch“ erschienen. Darin geht es um eine Gruppe von Studenten, die in den 60er Jahren bei einer Versicherungsfirma in München häufig an einem gemeinsamen Tisch speisten, vor allem, weil dort das Essen besser war als in der Mensa. 40 Jahre später treffen sich zwei von ihnen auf dem Bahnhofsvorplatz in Anklam, an der deutsch-polnischen Grenze, wieder. Der eine ist pensionierter Lehrer und wohnt in Anklam, der andere ist Investor für eine Mülldeponie (Timm hat eine Vorliebe für Müll), die in der strukturschwachen Stadt für Arbeitsplätze sorgen soll. Nach und nach entfaltet sich die Erinnerung an die gemeinsame Zeit in den Sechzigern, das gemeinsame Interesse am Schreiben und die Verehrung für den avantgardistischen Autor und Kritiker der autoritären Adenauer-Ära, Arno Schmidt.

Der Saal des Deutschen Theaters ist prall gefüllt und stickig. Doch das zumeist ältere Publikum lauscht gespannt, während Timm einige Auszüge aus der Novelle „Freitisch“ vorliest. Timm benutzt eine klare, nicht verschnörkelte, natürliche Sprache. Dabei gelingt es ihm, der Sprache Rhythmus zu verleihen, seine Prosa also mit Elementen der Poesie zu gestalten. Im Gespräch mit der Moderatorin, der Göttinger Germanistin Janet Boatin, erklärt Timm, dass er so lange an seinen Sätzen feilt, bis er genau die Worte gefunden hat, die den Sinngehalt seines Textes auch rhythmisch übertragen. Da können schon mal 50 Ansätze nötig sein, bis ein brauchbarer Satz dabei ist. Hier zieht Timm die Grenze zwischen philosophischen, wissenschaftlichen Texten, die den Sinngehalt nüchtern und sachlich transportieren, und literarischen Texten, die dieses auch rhythmisch und kunstvoll tun. Dabei können die Themen allerdings die gleichen sein.

Für Timm ist das Schreiben auch jedes Mal wieder ein Prozess der Selbstdisziplinierung, der Auseinandersetzung mit Sprache. Sprache sieht er als Identitätsmerkmal, sie ist der unmittelbarste Ausdruck von Kultur. Boatin fragt ihn, ob er auch in einer anderen Sprache als Deutsch schreiben würde, was Timm verneint. Er bekennt offen, dass ihm sprachliche Fähigkeiten so schnell verloren gehen, wie er sie sich aneignen kann. Dann erzählt er mit reichlich Selbstironie, wie er Französisch und Spanisch erlernt und dann wieder verlernt hat, worauf ein schallendes Lachen durch den Saal geht.

Boatin spricht seine politische Einstellung an. Uwe Timm war ein Schulfreund des 1967 von einem Berliner Polizisten erschossenen Benno Ohnesorg. Im selben Jahr wurde Timm selbst politisch beim „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ aktiv. In den Siebzigern war er außerdem Mitglied der DKP. Heute verortet Timm sich immer noch in einer „linken Ecke“, allerdings nicht mehr parteipolitisch. Er betont, dass er weder konservativ, noch neo-liberal geworden sei. Allerdings ist er ratlos. Genauso schätzt er auch die Occupy-Bewegung ein. Doch er wertet es als positiv, dass der Kapitalismus endlich wieder in breiterer Öffentlichkeit kritisch thematisiert wird. Neu sei das aber nicht. Eine genaue Analyse von Funktion und Auswirkung der kapitalistischen Profitmaximierung könne man immer noch am Besten bei Karl Marx nachlesen. Die Analyse ist also schon da. Anstatt also den Status quo einfach „fatal“ zu finden, hofft Timm, dass sowohl die breite Öffentlichkeit, als auch kritische Ökonomen (von denen es seiner Meinung nach viel zu wenig gibt) und Soziologen Alternativen zum Status quo suchen, entwickeln und umsetzen werden.

Besonders scharf kritisiert Timm die Griechenland-Rettung. Hätte Griechenland gleich am Anfang der derzeitigen Krise Staatsbankrott anmelden dürfen, dann wäre der griechischen Bevölkerung nicht die Würde genommen worden. Dann hätte es einen Neuanfang geben können. Die derzeitigen Rettungsversuche dienten nicht dazu, Griechenland zu helfen, sondern allein dem Zweck, das europäische Bankensystem vor dem Kollaps zu bewahren. Im Publikum ruft ihm jemand zustimmend zu und klatscht Beifall, der sich bald auf einen großen Teil des Saals überträgt.

Nach diesem kleinen Abstecher in die Probleme der Gegenwart lenkt Moderatorin Boatin die Aufmerksamkeit auf Timms Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich und der Nachkriegszeit. Sie spielt auf seine autobiographische Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ an. Darin wird der frühe Tod von Timms 16 Jahre älteren Bruders und sein autoritärer Vater thematisiert. Als sich sein Bruder freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 an der Ostfront stirbt, ist Uwe Timm erst 3 Jahre alt. Er lernt seinen Bruder nur aus verherrlichenden Erzählungen seines Vaters kennen, der ihm seinen ihm unbekannten Bruder immer als positives Beispiel vorhalten musste. Erst 50 Jahre später hat Timm eine literarische Form gefunden, um dieses vom Vater konstruierte Idealbild seines Bruders zu entzerren. Offen bekennt der Schriftsteller, dass dabei einige Tränen geflossen sind, er also einige verschüttete Erinnerungen durch den Schreibprozess nach oben befördert und verarbeitet hat. Hier zeigt sich die geschickte Art und Weise, mit der Timm im Speziellen, nämlich an Hand einer subjektiven, persönlichen Erzählung, die Verdrängungs- und Verklärungsmuster der Nachkriegszeit im Allgemeinen beleuchtet. Auf Nachfrage räumt Timm schließlich ein, dass sein eigenes, persönliches Erinnern durch den Schreibprozess auch verändert wird. Anders ausgedrückt: Durch das Aufschreiben wird die Erinnerung neu geordnet.

Natürlich kann die Diskussion zu Wahrnehmung, Erinnerungskultur und NS-Regime nicht zu sehr in die Tiefe gehen, dazu reicht die Zeit nicht. Ziel einer Veranstaltung wie dem Literaturherbst ist es auch eher, diese Themen in bildungsbürgerlicher Unterhaltungskulisse zu streifen und beim Publikum ein tieferes Interesse für diese Themen zu wecken. Hohen Unterhaltungswert hat dieser Abend allemal. Die Chemie zwischen Autor und Moderatorin auf der Bühne stimmt. Die Gesprächsatmosphäre ist entspannt, locker, witzig und keinesfalls zu akademisch. Boatin stellt interessante, manchmal kecke Fragen, auf die Timm bedächtig und mit Schalk im Nacken antwortet. Nicht selten macht er Bemerkungen wie „da spricht jetzt die Germanistin“, „Sie als Literaturwissenschaftlerin“, oder „das überlasse ich den Germanisten“. Irgendwann fühlt Boatin sich leicht stigmatisiert und sagt „Darauf haben Sie jetzt schon drei Mal hingewiesen“. Als Timm ein viertes Mal darauf hinweist, ob in neckender Absicht oder rein zufällig ist nicht so ganz klar, zieht sich schallendes Gelächter durch den Saal und Boatin verzieht pseudobeleidigt das Gesicht. „Das war jetzt das vierte Mal. Gleich müssen Sie mir vier Bier ausgeben!“

Die Stimmung ist den ganzen Abend über ausgelassen. Gerade bei einem Thema wie Literatur, das von den moderierenden Literaturwissenschaftler*innen auch gerne mal etwas hölzern und fad abgehandelt und präsentiert wird, ist das sehr wichtig. Literatur muss nicht in den akademischen Käfig gesperrt, sondern kann auch lebendig und mit der nötigen Selbstironie behandelt werden, ohne dabei den Ernst der Themen zu verfehlen. Dieser Spagat ist Janet Boatin und Uwe Timm an diesem unterhaltsamen Abend gelungen.

Bild basierend auf Bild von hpschaefer, Lizenz: CC-BY-SA.

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