Göttinger Appell

Kommunalfinanzen in der Krise
von am 12. September 2010 veröffentlicht in Hintergrund, Lokalpolitik, Rotstiftmilieu, Titelstory

Appelle aus Göttingen sind nichts neues. 1957 verfassten 18 Wissenschaftler (wie seinerzeit üblich tatsächlich nur Männer!) den Göttinger Appell gegen das Vorhaben, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten. Auch heute gibt es wieder einen Göttinger Appell, diesmal allerdings zur Rettung der kommunalen Finanzen. Der Göttinger Appell zu den Kommunalfinanzen lehnt nicht nur Haushaltskürzungen bei Städten, Gemeinden und Kreisen rigoros ab, sondern fordert zudem auch eine Erhöhung diverser Steuern. Am Freitag hätte der Rat der Stadt entscheiden sollen, ob auch er den Appell mitträgt. Die Fraktion der Grünen hatte ihn jedoch wegen inhaltlicher Differenzen gar nicht erst auf die Tagesordnung setzen lassen.

Dabei hätten sie dazu allen Grund gehabt: um die kommunalen Finanzen steht es – nicht nur in Göttingen – alles andere als gut. Seit Jahren sinken die Zuweisungen, die von Bundes- und Landesregierungen an die Städte und Kreise weitergereicht werden. Das liegt zum Teil sicherlich am schlechten Charakter der Abgeordneten, hat seine Ursache im wesentlichen aber wohl eher in der miesen finanziellen Situation bei Bund und Ländern.

HINTERGRUND

Der Göttinger Appell zu den Kommunalfinanzen (PDF)

Die Jungle World über das Sparpaket der Bundesregierung

Der Freitag über Bürgerinitiativen in der Krise

Es werden weniger Steuern gezahlt, während gleichzeitig mehr für Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsförderung berappt werden muss. Gekniffen sind am Ende vor allem die am Ende der Nahrungskette – und das sind die Kommunen, die daran am wenigsten ändern können. „Dass die öffentlichen Haushalte sich nicht weiter verschulden können, dass wir deutlich weniger Steuereinnahmen haben, das ist ja ein Fakt“, sagte dann auch Göttingens Sozialdezernentin Dagmar Schlapheit-Beck. „Und ich muss ja das Faktische erstmal akzeptieren und meine Politik danach ausrichten.“ Der Stadt Göttingen geht es dabei noch verhältnismäßig gut, die aktuelle Sparrunde ging weitgehend ohne grobschlächtige Kürzungen an sensiblen Stellen über die Bühne.

Auffällig am Göttinger Appell ist nun zunächst, das beide Forderungen sich an unterschiedliche Zielgruppen richten. Über die Kürzungen in den kommunalen Haushalten entscheiden Rat und Kreistag – über die Steuergesetzgebung Bund und Land. Und auch in deren Haushalten sieht es alles andere als rosig aus. Das spräche zwar dafür, dass diese sich auf die Forderungen einlassen sollten, wirft allerdings gleichsam die Frage auf, warum von dem Geld ein erklecklicher Betrag nach unten durchgereicht werden sollte. Von dieser Frage ist allerdings in dem Appell wenig zu lesen – und drängt sich unweigerlich der Gedanke auf, hier wären lediglich die Forderungen der letzten 30 Jahre vergeblichen sozialen Widerstandes gegen die Abholzung sozialer und kultureller Standards neu aufgelegt worden.

Zugegeben: sie sind schön aufgeschrieben, die Forderungen. Der rhetorische Kniff, lediglich die steuerliche Situation von 1990 wieder einzuführen, trägt seinen Teil dazu bei, dem Appell eine nicht zu unterschätzende Plausibilität zu verleihen. Wenn vor 20 Jahren der Spitzensteuersatz ebenso bei 56% lag (heute: 42%) wie die Körperschaftssteuer (heute: 15%) – warum sollte sich diese Gesetzeslage angesichts des desolaten Zustands staatlicher und kommunaler Haushalte wieder herstellen lassen? Dasselbe gilt auch für die Forderung nach einer „Mehrwertsteuer auf den Handel mit allen Finanzprodukten“, die noch vor 10 Jahren unter dem Namen Tobinsteuer durch die linksliberalen Debatten geisterte. Hatte sich nicht noch zum Jahresbeginn die CSU für eine solche Steuer ausgesprochen?

Tatsächlich stellt sich die Lage wohl etwas komplexer dar. Bei der Erhöhung der Körperschaftssteuer ist immer auch die für den Kapitalismus zentrale Frage nach der Kapitalverwertung berührt, die im Rahmen weltweiter Konkurrenz vor sich geht. Das sieht beim Spitzensteuersatz schon wieder ganz anders aus. Ob die Einkommens- und Lohnsteuer in erster Linie von Besser- oder Schlechterverdienenden, ob sie von Krankenschwestern oder Ärzten, von den MalocherInnen am Band oder Vorstandsvorsitzenden bezahlt werden, spielt für das Kapital keine Rolle. Hier ließe sich tatsächlich und ganz nachhaltig die Umverteilungswirkung der letzten Jahrzehnte korrigieren. Ob das Geld dann allerdings auch am Ende auch im Göttinger Haushalt auftauchen würde, bleibt weiterhin unklar.

Wesentlich problematischer als das umstandslose Durcheinanderwerfen von unterschiedlichsten politischen Forderungen scheint jedoch die hinter dem Appell stehende Problemanalyse zu sein. Zwar kommt der Appell glücklicherweise fast durchgängig ohne Schuldzuschreibungen aus (lediglich die“Spielcasinos‘ der Finanzwelt“ tauchen an einer Stelle kurz auf), aber es drängt sich doch der Gedanke auf, als sei die heutige Situation in erster Linie auf die Entscheidungen politischer HandlungsträgerInnen zurückzuführen und als könne sie dementsprechend durch eine andere Politik die Krise beseitigt und der Sozialstaat gerettet werden.

Dagegen spricht zunächst einmal, dass die ja tatsächlich beängstigende Situation nicht nur in Deutschland an der Tagesordnung steht, sondern in so ziemlich jeder Volkswirtschaft auf der Welt. Das legt den Gedanken nahe, es könne sich bei den Krisen der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht um politisch verantwortete, sondern um systemisch bedingte Krise handeln. Weltweit ist die Konjunktur mitte der 70er Jahre eingebrochen, weltweit sind seitdem Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung angewachsen, weltweit sind die Staatsschulden explodiert, weltweit hat sich die Gewinnerwirtschaftung der Unternehmen mehr und mehr auf die Finanzmärkte verlagert. Das alles ist empirisch einigermaßen unumstritten und wird allenthalben zugestanden. Nur das die Ursache trotz allem in den politischen Entscheidungen der politischen Klasse gesucht wird, die halt an den falschen Knöpfen gedreht haben soll.

Stattdessen stellt sich die Frage, ob das Problem nicht tiefer geht. Ob nicht gerade die sinkenden Gewinne der Unternehmen und die stagnierenden Absatzmärkte seit den 70ern die Ausweichbewegung in Staatsverschuldung und Finanzmarktökonomie nötig gemacht hat. Ob nicht nach dem Ende dessen, was die kritische Wirtschaftssoziolgie Fordismus genannt hat, einfacht kein neues Modell eines selbsttragenden kapitalistischen Wachstums mehr zu erwarten ist.

Das hieße keineswegs, das politische Kämpfe überflüssig wären und wir nicht versuchen sollten, möglichst gute Lebensbedingungen für uns zu erstreiten. Gesellschaftliche Möglichkeiten gibt es ja genug: es werden nützliche Gegenstände in einem Maße hergestellt, wie das noch nie in der menschlichen Geschichte der Fall war. Es ist also kaum einzusehen, warum die Menschen sich einschränken sollten. Nur sollten wir uns von der Illusion lösen, der Markt und sein Zwillingsbruder, der Staat, könnten uns da irgendwie raushelfen. Es hilft kein Gott, kein Kaiser noch Tribun, wie schon die Internationale wusste. Uns aus dem Elend zu erlösen, das müssen wir schon selber tun.

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4 Kommentare auf "Kommunalfinanzen in der Krise"

  1. Hoppla sagt:

    Der letzte Absatz kommt aber etwas unvermittelt nach einer ansonsten streng deterministischen Ableitung der aktuellen Krise, die nichts mit Politik zu tun hat.
    Da passen zwei Gedanken nicht zusammen.

  2. ...möp sagt:

    …der Absatz zu einer möglichen Erhöhung des Spitzensteuersatzes ist irgendwie…komisch.

    Letzendlich steht Deutschland auch bei den Lohnkosten im internationalen Wettbewerb und Lohnkosten steigen (jedenfalls bei den besser-Verdienenden) auch durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Zwar nur indirekt, dadurch dass die gutverdienenden AN versuchen werden, die höheren Steuern auf die AGs und damit „das Kapital“ umzuwälzen, der Effekt ist aber der gleiche wie bei einer Erhöhung der Körperschaftssteuer.
    Abgesehen davon sind die gutverdienenden Arbeitnehmer in Deutschland international ähnlich mobil, was sich in den nächsten Jahren noch verschärfen wird. (Stichwort Schengen).

    Nur so als Einwand, das Fazit des Artikels bringts aufn Punkt 😉

  3. Widerspruch sagt:

    Der Göttinger Appell gibt nicht vor, Krisen bekämpfen zu können. Er will nur die Abwälzung der Krisenlasten auf die Schwächsten – das ging auch in der Geschichte über die Lasten-Verlagerung und die Verarmung der Kommunen (siehe diverse Papiere von Prof. Christoph Butterwegge) – bekämpfen. Ist das denn in den Augen des Autors dieses Artikels richtig, zielführend und auch politisch ok?
    Zum Thema, dass durch Steuererhöhung nicht mehr Geld rein kommen würde:
    1. Die Krise erzeugt einen Überschuss nicht nur an Waren, sondern auch an Geld (in hochakkumulierter Form, also in den Händen weniger). Darf man da nicht dran gehen?
    2. Deutschland treibt andere Länder nicht nur vor sich her, was das Lohndumping (gemessen an seiner Arbeitsproduktivität) angeht, sondern auch, was das Steuerdumping angeht, ist es in der EU vorne.
    Das alles kann in den FAQ der Seite goettinger-appell.de nachgelesen werden.

    Wenn es noch verbleibende Kritikpunkte gibt, dann sollten die wohl an info@goettinger-appell.de gesendet werden.
    Der Artikel nennt ein paar Kritiken. Die auszuräumen, ist mit diesem Kommentar versucht worden.
    Aber darüber hinaus: Gibt es denn Ideen, wie der miserablen, an historische, weltgeschichtlich fatale Vorbilder erinnernden Situation auf anderem Wege gegengesteuert werden kann?
    „… zu erlösen, das müssen wir schon selber tun.“
    Nichts anderes unternimmt der Appell.
    Denn die unterstützenden Organisationen hier in Göttingen vor Ort und die dahinter stehenden Menschen überlassen ihr Schicksal nicht mehr ihren Bundesspitzen.

  4. Karotte sagt:

    Am Dienstagabend wird um 18 Uhr eine thematisch passende Veranstaltung im ver.di Haus stattfinden:

    „Die Krise in den Kommunen! Warum die Gemeinden kein Geld haben und sich dies nicht ändern soll.“

    Weitere Informationen gibt es unter: http://verdijugendgoettingen.blogsport.de/

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