„Am Ende kommen Touristen“ – Gedanken zum Film und darüber hinaus
von am 27. Oktober 2007 veröffentlicht in Cinema, Leinwand, Texte

Auschwitz, Oświęcim und Polen – heute

Dieser Film mit dem zunächst sehr wenig assoziativen Titel Am Ende kommen Touristen erzählt von den Erlebnissen und Problemen des jungen Deutschen Sven, der seinen Zivildienst in einer Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Polen macht – genauer gesagt in Oświęcim, dem Ort, der unter seinem deutschen Namen Auschwitz traurige Berühmtheit erlangte. Diese Stelle stand auf Svens Wunschliste nicht ganz oben – war aber die einzige, die er noch bekommen konnte. Sven soll sich unter anderem um den eigenwilligen KZ-Überlebenden Krzemiński kümmern, ihn zur verhassten Krankengymnastik bringen und zu Zeitzeugengesprächen begleiten. Er wird nicht nur mit neuen Aufgaben, einer fremden Sprache und der historischen Bedeutung des Ortes konfrontiert, sondern auch mit der eingespielten Routine der Vergangenheitsbewältigung. Als er auf die polnische Dolmetscherin Ania trifft und sich in sie verliebt, lernt er das Leben in Oświęcim jenseits der Begegnungsstätte kennen.
Auf einer höheren Ebene beschäftigt sich der Film mit den Herausforderungen heutiger Gedenkstättenpolitik, dem heutigen Polen und dem deutsch-polnischen Verhältnis. Im Mittelpunkt des Films stehen die Fragen, wie Gedenken an einem solchen Ort aussehen, wie Erinnerung wach gehalten und wie diese Geschichte vermittelt werden kann.

Bilder im Kopf

Da der Film ausschließlich mit Handkameras und ohne zusätzliche Beleuchtung gedreht und auch weitestgehend auf Kamerafahrten verzichtet wurde, wirkt er sehr realistisch und nah am Leben. Auch die wenig konstruiert wirkenden Dialoge unterstützen diesen Eindruck.
Wir alle haben, sobald wir das Wort Auschwitz hören, ganz bestimmte Bilder im Kopf, die fest im kollektiven Bildergedächtnis verankert sind: Dazu gehören der Schriftzug Arbeit macht frei, die zum Tor von Auschwitz-Birkenau führenden Gleise oder die Unmengen menschlicher Haare in großen Vitrinen.
Positiv ist hervorzuheben, dass keine Effekthascherei mit diesen – zum einen betroffen machenden und zum anderen abgegriffenen – Bildern stattfindet. Da weder auf dem Gelände des ehemaligen Lagers noch im Museum gefilmt werden durfte, baute man als unverzichtbar erachtete Teile des Museums nach – auf alles andere wurde verzichtet. Dies erweist sich als ein großes Glück für den Film, denn so ergab sich die Möglichkeit, Auschwitz in anderen als den bekannten Bildern zu zeigen. Und sie wurde genutzt: wenn das Lager in den Blick kommt, dann eher beiläufig, als in den Alltag integriert, nicht als Mahnung oder Skandal – beispielsweise, wenn Sven und Ania zum baden an den See radeln und dabei die Außengrenze von Birkenau passieren, es ist ein sonniger Tag, sie lachen, sind glücklich.

Ritualisierung des Gedenkens

Diese Darstellung erscheint mir angemessen, denn wer sich nach Auschwitz begibt, findet einen vielfältigen wie vielschichtigen, geradezu absurden Ort der Gegenwart, der Ratlosigkeit auslöst. Der visuelle Eindruck und das Wissen um die Vergangenheit des Ortes lassen sich nicht in Einklang bringen, sie scheinen sich zu widersprechen. Die Vergangenheit wird von der Gegenwart überlagert: Der Ort selbst liegt in der Gegenwart und ist heute auch kein Ort des Schreckens. Beispielsweise wird immer wieder von der Friedlichkeit in Birkenau berichtet, von der Ruhe und den schönen dort wachsenden Blumen.
Der Alltag in der Gedenkstätte ist von den Touristenmassen aus dem In- und Ausland bestimmt, die im schnellen Rhythmus kommen und gehen. Da sind Voyeure, Überlebende oder auch Täter mit ihren Kindern und Enkeln, die meisten sind wohl irgendwo dazwischen anzusiedeln. Sie alle kommen mit verschiedenen Bedürfnissen an diesen Ort, handeln jedoch nahezu gleichförmig: Sie parken auf dem Auschwitz Parking genannten Parkplatz, werden über das Gelände geführt, machen, vielleicht ein paar Fotos, kaufen am Kiosk Eis, Postkarten, Blumen und Kerzen. Sie nehmen sich nur selten die Zeit, sich intensiver auf den Ort einzulassen. Das Gedenken erscheint ritualisiert und in festen Formen erstarrt, manchmal geradezu banal oder absurd.
Dies ist es, was Sven am Anfang des Films sichtlich verwirrt, irritiert und überfordert, vielleicht ist er auch ein wenig abgestoßen von dem geschäftigen Treiben der Touristen. Die Eingewöhnung fällt ihm schwer und wird ihm auch in der Tat nicht leicht gemacht, weder von seinem Chef noch von Krzemiński. Außerdem gerät er, ohne dies zu beabsichtigen, immer wieder zwischen die verschiedenen Fronten im Gedenkstättenbetrieb, er bemerkt zunehmend dessen Widersprüche. Ob er seinen Alltag an diesem Ort und seine Position dort wird finden können?

Das Zeitzeugengespräch als Kuriositätenschau

Was Sven jedoch im Laufe des Films zunehmend betroffen macht, ist der oft gelangweilte bis rüde Umgang der Schulklassen und den anderen Besuchergruppen mit dem Überlebenden Krzemiński. So rückt die Problematik von heutiger Gedenkstättenarbeit, der Vermittlung von Geschichte und die Ignoranz einer Gesellschaft in den Blick, die sich fast schon routinemäßig, um des guten Gewissens oder der PR willen, aber nicht aus einem ernsthaften Interesse heraus mit der NS-Zeit beschäftigt. Man lässt sich gern mit Krzemiński fotografieren, mag ihm jedoch im Grunde genommen nicht zuhören. Er soll im Hinterrund bleiben, sich in die Routine des Gedenkens einfügen.
Die Überlebenden sind alt. In der täglichen Routine des Gedenkens erscheinen sie zwar als notwendig, wahrscheinlich sogar als unentbehrlich – doch ebenso als lästig und schwierig. Sie sprechen langsam und strapazieren so die Geduld insbesondere der jugendlichen Zuhörer, die nichts wissen wollen oder schon alles zu wissen glauben. Im schlimmsten Fall interessieren sie sich nur dafür, ob die Überlebenden tatsächlich die berühmte Nummer eintätowiert bekommen haben, überzeugen sich davon auch persönlich und zeigen sich dann enttäuscht, weil diese verblasst ist. Das Zeitzeugengespräch verkommt so zur voyeuristischen Kuriositätenschau, die man den Überlebenden eigentlich nicht zumuten möchte. Das Dogma von der Wirkungsmacht und Eindringlichkeit von Zeitzeugengesprächen bekommt so einige Kratzer, doch andere Lösungen werden weder im Film aufgezeigt, noch sind sie in der Realität leicht zu finden. Am Ende bleibt die Frage: Wie lässt sich diese Geschichte vermitteln – jetzt und nach dem baldigen Ende der Zeitzeugenschaft?

Gedenkstättenarbeit – auf der Höhe der Zeit?

Problematisiert wird auch, dass zugunsten der vermeintlichen Erfordernisse einer zeitgemäßen Gedenkstättenpädagogik und eines entsprechenden Umgangs mit dem Gelände und den materiellen Überbleibseln des Lagers oft die Bedürfnisse und Wünsche der Überlebenden hinten angestellt werden oder gar ganz unberücksichtigt bleiben. Aufgrund meiner bei Praktika und Workcamps in Gedenkstätten gesammelten Erfahrungen kann ich dies, leider, nicht für alle, aber für einige, eher für größere Gedenkstätten bestätigen: Überlebende fühlen sich – oftmals zu recht – an den Rand gedrängt und überflüssig im modernen Gedenkstättenbetrieb.
Krzemiński wird es von den hauptberuflichen, am Museum angestellten Konservateuren untersagt, weiterhin die Koffer der ehemaligen Häftlinge zu reparieren, denn die Zeit verlangt nun nach einer sachgemäßen Konservierung, nicht nach Reparatur. Sie fühlen sich von ihm in ihrer Arbeit behindert und bemängeln, er würde die Koffer letztlich unbrauchbar für die Ausstellung im Museum machen. Mit einer Entschuldigung, aber ohne weitere Erklärung, konsequent und unnachgiebig verbieten sie ihm die weitere Reparatur der Koffer. Für Krzemiński ist dies unbegreiflich, vor allem aber stürzt es ihn in eine tiefe Krise. Die Reparatur der Koffer hatte für ihn eine therapeutische Funktion und hat sein Leben strukturiert, ihm einen Sinn gegeben, er fühlte sich gebraucht.

Alltag in Oświęcim

„Es ist nicht so einfach, den Menschen etwas über eine Stadt zu erzählen, die aus Büchern und Zeitungen bekannt ist. Trotzdem leben hier einfach Leute, die sich an Wegkreuzungen treffen. Sie sprechen über gewöhnliche Dinge wie an irgendeinem Ort.“1
Die wenigsten wissen, dass die Gedenkstätte Auschwitz von der Kleinstadt Oświęcim umgeben ist und die Touristen nehmen sich keine Zeit für einen Besuch dort. Und umgekehrt existiert Oświęcim unabhängig von der Gedenkstätte. Es ist eine normale polnische Kleinstadt mit vielen Arbeitslosen und Jugendlichen, die in der örtlichen Disco auf der Suche nach ein bisschen Spaß und Zerstreuung sind, während sie sich wegsehnen oder oft auch konkrete Pläne für ihren Weggang ins Ausland schmieden. In der Tat ist die Arbeitsmigration von polnischen Jugendlichen ins westeuropäische Ausland sehr hoch. Polnische Zeitungen vermeldeten in den letzten Jahren desöfteren ein „intellektuelles Ausbluten“ des Landes, da vor allem gut ausgebildete junge Menschen das Land verlassen. In ihre Bildung investieren sie einiges: Sie lernen mehrere Fremdsprachen und ergreifen die Chancen, die ihnen geboten werden, konsequent. Anders als viele deutsche Altersgenossen, die, wenn überhaupt, eher wegen des wärmeren Klimas oder dem Reiz des „Fremden“ auswandern, sind junge Polen und Polinnen zielgerichtet auf der Suche nach Arbeit und einem höheren Lebensstandard.
Diese Unterschiede in der Lebensplanung bestehen auch zwischen Ania und Sven werden umso deutlicher, je näher sie sich im Verlauf des Films kommen. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden, die den Film wahrscheinlich leichter konsumierbar für ein breites Kinopublikum machen soll, empfinde ich deshalb nicht als Störung, sondern als eine Bereicherung für den Film, da sie das polnisch-deutsche Verhältnis mit all seinen Spannungen und die Unterschiede zwischen den beiden Ländern noch deutlicher in den Film einbringt.

… und Normalität

Außerdem verdeutlicht sie eine andere Problematik: Wie geht man damit um, wenn der Besuch in einer oder die geographische Nähe zu einer Gedenkstätte nicht die Ausnahme, sondern den Alltag darstellen? Ist ein alltäglicher Umgang mit diesem und das alltägliche Leben in diesem Ort möglich? – Ania ist in Oświęcim, in unmittelbarer Nähe zur Gedenkstätte Auschwitz, aufgewachsen. Für sie ist ihre Arbeit dort eine recht normale Arbeit, sie ist Alltag und einige der wenigen Möglichkeiten, in Oświęcim überhaupt zu arbeiten. Tagsüber arbeitet sie in der Gedenkstätte, abends geht sie in der örtlichen Disco tanzen, am Wochenende radelt sie an den See. Sie lebt Normalität, sie muss Normalität leben, sie kann nicht in einem Ausnahmezustand, in ewiger Trauer leben. Niemand kann das. Und es wäre auch niemandem damit geholfen. Trotzdem ist ein sensibler Umgang mit dem Ort unabdingbar. Diese Balance muss Sven erst noch erlernen und es ist eine der vielen Herausforderungen, die er – und die jeder und jede bewältigen muss, der oder die länger als für einen touristischen Kurzbesuch in einer Gedenkstätte bleibt.

Zum Schluss…

Insgesamt wird deutlich, dass die jeweils aktuelle Form des Gedenkens und der Alltag einer Gedenkstätte ein Spiegel der Gesellschaft und ihres Umgangs mit der Vergangenheit sind. Deshalb können Gedenkstätten Orte der intensiven Begegnung und der produktiven Auseinandersetzung sein, sind es aber nicht zwangsläufig.
Gedenken muss aktiv gefüllt werden. Es ist eine Herausforderung für jeden und jede von uns, die wir annehmen sollten, immer und immer wieder.

  1. Aus: Knut Dethlefsen, Thomas B. Hebler (Hg.): Bilder im Kopf. Auschwitz – Einen Ort sehen (Obrazy w glowie. Oswiecim – Ujecia pewnego miejsca). Berlin 1996 [zurück]

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[Im Lumière ist der Film bereits gelaufen, doch vom 8. bis zum 14. November wird er im Cinema gezeigt.]

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Ein Kommentar auf "„Am Ende kommen Touristen“ – Gedanken zum Film und darüber hinaus"

  1. irrgärtnerin sagt:

    ich weiß, der text ist recht lang geraten.
    ich wage jedoch zu behaupten, dass sich das lesen lohnt 😉
    und das anschauen des films lohnt sich sowieso.

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