Proteste gegen "Pro Deutschland"

Fußtritt mit Folgen
von am 28. August 2013 veröffentlicht in Neonazis, Titelstory
Gefährliche Körperverletzung: Polizei schließt Lars Seidensticker von "Pro Deutschland"-Kundgebung aus
Gefährliche Körperverletzung: Polizei schließt Lars Seidensticker von "Pro Deutschland"-Kundgebung aus

Die selbsternannte Bürgerbewegung „Pro Deutschland“ führte am Samstag mehrere Kundgebungen in Göttingen durch. Etwa 300 Gegendemonstranten stellten sich sieben Rechtspopulisten in den Weg. Wegen gefährlicher Körperverletzung wird nun gegen Lars Seidensticker von „Pro Deutschland“ ermittelt.

Die Kundgebung zur Wahlkampftour von „Pro Deutschland“ Nahe der Al Imam Moschee in der Albrecht-von-Haller-Straße ist weiträumig von der Polizei abgesperrt. Die Gegendemonstranten werden einen Straßenblock weiter auf Distanz gehalten. Zu weit weg, um ihren Protest direkt am Ort des Geschehens zum Ausdruck zu bringen.

Unter bis jetzt noch ungeklärten Umständen kann ein 17-jähriger Gegendemonstrant auf der zweiten von drei angemeldeten „Pro Deutschland“-Kundgebungen das Wort ergreifen. Lars Seidensticker, der die Wahlkampftour der rechtspopulistischen Partei in Göttingen angemeldet hat,  hält eine Rede, als plötzlich der 17-jährige das Mikrofon in der Hand hält. Mit kräftiger Stimme ruft er: „Nazis raus, Nazis raus, Nazis raus!“ Er klammert sich mit beiden Händen am Mikrofon fest, während sich die „Pro Deutschland“-Aktivisten auf ihn stürzen. Der Jugendliche ist umzingelt.

„Gefährliche Körperverletzung“ – Seidensticker wird ausgeschlossen

In einem undurchsichtigen Handgemenge ist eines deutlich sichtbar: Lars Seidenticker holt von außen mit getrecktem Bein zu einem kräftigen Fußtritt aus, der den jungen Gegendemonstranten trifft. Gegenüber dem StadtRadio Göttingen leugnet Seidensticker anschließend getreten zu haben, spricht von Selbstverteidigung. Es dauert, bis die Rechtspopulisten dem Gegendemonstranten das Mikrofon wieder entreißen. Zwei Beamte filmen den Vorgang, nach einiger Zeit eilen weitere Polizisten herbei, um den 17-jährigen aus dem Pulk herauszuzerren und abzuführen.

Die Polizei geht zunächst davon aus, dass der Jugendliche Seidensticker das Mikrofon entrissen habe. Der Anwalt des Schülers, Rasmus Kahlen, schildert gegenüber MOG aber eine andere Sicht der Dinge: „Laut Aussage meines Mandanten stand er in der Nähe der Kundgebung, als Lars Seidensticker ihn gefragt hatte, ob er auch etwas sagen wolle.“ Als der Jugendliche dann am Mikrofon war, hätten mehrere „Pro Deutschland“-Aktivisten ihn getreten und auch gewürgt, so Kahlen. Der Göttinger Anwalt hat zunächst Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung gegen Unbekannt gestellt, da noch nicht zu erkennen sei, von wem genau welche Gewaltätigkeiten ausgingen.

Schon während der Kundgebung hat der Vorfall für den Anmelder Seidensticker Folgen: „Hast Du das auf Video?“ fragt ein Beamter den anderen, „Dann müssen wir einen Kurzbericht schreiben“. Sie prüfen das Videomaterial und stellen eine Straftat fest. Die Kundgebung von „Pro Deutschland“ wird unterbrochen, Seidensticker und ein weiterer „Pro Deutschland“-Aktivist werden gebeten ihre Personalien abzugeben, dann müssen sie die Veranstaltung verlassen. Die Polizei leitet ein Ermittlungsverfahren gegen Seidensticker und seinen Kollegen wegen versuchter schwerer Körperverletzung ein.

Handgreiflich auch gegen eine 73-jährige Frau

In einer ähnlichen Situation wurden die Islamfeinde von „Pro Deutschland“ wenige Minuten zuvor schon einmal handgreiflich. „Ich wollte das Mikrofon benutzen, um etwas gegen die Gruppe zu sagen,“ erzählt eine 73-jährige Antifaschistin, während sie von der Polizei abgeführt wird, „dann wurde ich überfallen von denen und die Polizei hat sehr lange gebraucht, um mich zu befreien.“

Die Frau hatte sich aus Protest das Mikrofon von „Pro Deutschland“ gegriffen. Blitzschnell rissen die Rechtspopulisten ihr das Mikrofon wieder aus der Hand, anschließend wurde sie gewaltsam bedrängt. Weil sie die Veranstaltung gestört hat, werden ihre Personalien von der Polizei aufgenommen. Für die 73-jährige Demonstrantin ist es besonders erschreckend, wie Neonazismus und Rechtsextremismus in Deutschland wieder um sich greifen, erklärt sie gegenüber MOG. „Ich bin 1940 geboren, ich werfe meinen Eltern vor, dass sie nicht genug gegen die Faschisten gemacht haben.“ Sie wolle nicht, dass ihre Enkelkinder in einem faschistischen Staat leben müssten. „Deswegen steh ich hier!“, erzählt sie.

Die 73-jährige Antifaschistin, der 17-jähriger Schüler und dessen ebenfalls anwesende Freundin gehören zu den wenigen „Pro Deutschland“-Gegnern unter einem Dutzend versammelter Anwohner, die der von der Polizei abgeschirmten zweiten Kundgebung lauschen. Lediglich vier stark ergraute Damen und Herren sind als Sympathisanten an diesem Tag in Göttingen zu sehen. Die anderen geben vor, Schaulustige zu sein, die sich über ein bisschen Action im Kiez freuen. Aus Richtung der Al Imam Moschee weht ein Dauerpfeifkonzert herüber. Es ist das Göttinger „Bündnis gegen Rechts“, das die Kundgebungen von „Pro Deutschland“ seit dem frühen Morgen lautstark stört und zu blockieren versucht.

Lauter Protest seit dem frühen Morgen

Sieben Jahre ist es her, dass Göttingen zuletzt gegen Rechts auf die Straße ging. 220 Neonazis standen damals, abgeschirmt von der Polizei, 4000 Gegendemonstranten gegenüber. Damals wie heute mobilisierte das „Bündnis gegen Rechts“ zu den Protestaktionen.

Das Bündnis scheint trotz des seltenen Einsatzes nicht eingerostet zu sein. Um 8:30 Uhr kommen auch diesen Samstag Gewerkschaften, Antifa-Gruppen und Parteien sowie religiöse Vertreter der muslimischen und jüdischen Gemeinden Göttingens in der Güterbahnhofstraße zusammen. Der Fußweg ist für „Pro Deutschland“ reserviert, die Polizei hat den schmalen Kundgebungsort mit Hamburger Gittern abgesperrt.

Als „Pro Deutschland“ gegen 10:00 Uhr ankommt, bricht ein Pfeifkonzert aus, „Haut ab!“-Rufe und Sitzblockaden folgen. Die Polizei versucht zu räumen, weil die Islamfeinde darauf bestehen, mit dem Bus auf ihren Kundgebungsrandstreifen vorzufahren. Der erste Versuch scheitert, Polizei und Blockierer stehen und sitzen sich gegenüber und warten ab. Währenddessen schmoren die sieben „Pro Deutschland“-Anhänger in ihrem gemieteten Kleinbus in der frühen Mittagshitze.

Polizei räumt Sitzblockaden

Eine Stunde später kesselt die Polizei die Blockade ein und setzt die Räumung fort. „Lassen Sie meinen Kopf los, sie tun mir weh“ beschwert sich eine Blockiererin, als sie gewaltsam von der Polizei weggetragen wird. Nachdem 40 Personen geräumt wurden, fährt „Pro Deutschland“ unter lauten Pfiffen vor und baut auf. Als es dann schließlich losgeht, übertönen die Gegendemonstranten die Kundgebung durch Pfeifen und Zwischenrufe dermaßen, dass man selbst direkt am Gitter kaum ein Wort versteht.

Eier, Bananenschalen, Paprika, Äpfel und Plastikflaschen werden in Richtung der rechten Kundgebung geworfen. Die Provokationen der Islamfeinde sollen im Keim erstickt werden, denn Provokation ist das Markenzeichen der Rechtspopulisten. Eine Frau von „Pro Deutschland“ proviziert durch das Tragen einer Burka. Durch solche Aktionen erreicht die rechte „Bürgerbewegung“ eine gewisse Aufmerksamkeit. Erbost über die Burka-Aktion erstattet Gerd Nier von der Göttinger Linken Anzeige wegen Volksverhetzung. „Das können Menschen, die dem Islam angehören, nicht anders verstehen als eine wirklich ernsthafte Beleidigung“ erklärt Nier gegenüber MOG.

Kritik am Vorgehen der Polizei

Bis zum Ende der Wahlkampftour um 15:30 Uhr am Albanikirchhof wird „Pro Deutschland“ mehrfach aufgehalten. Göttinger Antifagruppen blockieren immer wieder Straßenkreuzungen und Zufahrtswege. Es kommt zu Rangeleien, laut Polizei wird ein Demonstrant von einem Polizeihund gebissen. Seitens der Demonstrierenden wird von mehreren Verletzten durch Hundebisse berichtet. Die Polizei nimmt vereinzelt Personalien auf, Festnahmen gibt es aber keine.

Die „Antifaschistische Linke International“ (A.L.I) spricht in einer Mitteilung von Faustschlägen und Griffen ins Gesicht durch die BFE der Polizei. Auch der Kreisverband der Göttinger Grünen verurteilt den Polizeieinsatz und fordert Aufklärung von der niedersächsischen Landesregierung. In einer Mitteilung wird der Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray bei der Räumung von Sitzblockaden, sowie der Einsatz von Polizeihunden kritisiert.

Das Versammlungsrecht von „Pro Deutschland“ setzt die Polizei gegen den breiten Widerstand aus Göttingen durch. Lothar Hanisch vom Göttinger „Bündnis gegen Rechts“ wertet den Protest dennoch als Erfolg.

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