Kommentar

Empörend aber normal
von am 23. April 2012 veröffentlicht in Rotstiftmilieu

Die Vorgänge im Vorfeld des Ratsbeschlusses sind empörend, aber normal im parlamentarischen Prozedere. Ein weit verbreitetes Vorurteil über parlamentarische Demokratie lautet, ihr Ziel sei die Umsetzung der Interessen der Mehrheit der Bevölkerung. Richtig ist dagegen, dass sich die politische Herrschaft im Kapitalismus dadurch auszeichnet, dass der Kapitalismus für die Entfaltung seiner produktiven Kräfte auf die breite Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen ist. Der Parlamentarismus spielt dabei eine zentrale Rolle. Dabei hat er eine heikle Aufgabe zu lösen. Er muss die Beteiligung an Entscheidungen zulassen, ohne dass diese Beteiligung anvisierte Entscheidungen substanziell gefährden könnte.

Dieser Kommentar bezieht sich auf die Debatte um die Rolle der Parteien im Tauziehen um den sogenannten „Zukunftsvertrag“ für die Stadt Göttingen, worüber wir im Artikel „Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt“ berichten.

Max Weber hat schon vor fast 100 Jahren nüchtern festgestellt: „Die modernen Parlamente sind in erster Linie Vertretungen der durch die Mittel der Bureaukratie Beherrschten. Ein gewisses Minimum von innerer Zustimmung mindestens der sozial gewichtigen Schichten der Beherrschten ist ja die Vorbedingungen der Dauer einer jeden, auch der bestorganisierten, Herrschaft. Die Parlamente sind heute das Mittel, dieses Minimum von Zustimmung äußerlich zu manifestieren“. (M. Weber, „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“) Damit das Parlament diese Funktion übernehmen kann, ist es nach Weber unumgänglich, die Parteien auch wirklich an der Macht zu beteiligen. Dies stellt eine wichtige Modernisierung von Herrschaft für das bis dahin autokratische Deutschland dar. Bisher hatte man befürchtet, der demokratische Einfluss auf den Machtapparat könnte zu groß werden, wenn das Personal der Parteien direkt in das Kabinett einziehen könnte. Deshalb sah die Reichsverfassung bis zum Ende des 1. Weltkrieges eine Trennung von Amt und Mandat (keine Regierungsposten für Parlamentarier) vor.

Weber vertraute dagegen auf die Macht des Apparates und erwartete sich von der Beteiligung der Parteien an der Macht genau den gegenteiligen Effekt: die politischen Führer der Parteien müssten in die Regierung eingebunden werden, damit sie wiederum die Politik der Regierung gegenüber ihren Parteien und Fraktionen (und damit auch den WählerInnen) vertreten und durchsetzen. Bedeutsam ist, dass der große bürgerliche Soziologe nicht normativ demokratietheoretisch argumentiert, sondern ausschließlich ordnungspolitisch utilitaristisch. Es geht ihm nicht um möglichst große Mitgestaltungsmöglichkeiten für Viele, sondern um die geräuschlose Umsetzung von Politik – gerade auch wenn sie sich gegen die Menschen richtet. Die Vorgänge aktuell in Göttingen, zeigen, dass der Parlamentarismus diese Aufgabe vorbildlich erfüllt. Er organisiert Akzeptanz noch für die größten Schweinereien. Die Antwort darauf kann nur in außerparlamentarischem Druck bestehen, der mit diesen Spielregeln bricht.

Text: buenaventura (Gastbeitrag)

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