Vorentscheid über "Zukunftsvertrag" - und über Kürzungen?
Unliebsames Wahlkampfthema Schuldenabbau
von Harvey am 14. Juni 2011 veröffentlicht in Lokalpolitik, RotstiftmilieuDie Stadt Göttingen ist verschuldet: Ein Volumen von etwa 190 Millionen Euro an „Liquiditätskrediten“ hielt sie Ende 2009. Nun besteht die Möglichkeit, die Schuldenlast zu reduzieren – zu einem hohen Preis: Über ein Jahrzehnt muss Göttingen einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Da dies wohl radikale Kürzungen bedeuten würde, entzündet sich nun Protest. Und der Kommunalpolitik, die diese Frage ohnehin lange vor sich her schob, läuft die Zeit davon: Das Angebot ist befristet. Am Mittwoch, 15.6., soll der Rat der Stadt nun beschließen, einen fristwahrenden Antrag zu stellen. Über die Durchführung soll dann nach den Kommunalwahlen im September entschieden werden.
Nach dem sogenannten „Zukunftsvertrag“ zwischen der Landesregierung Niedersachsen einerseits, der „Arbeitsgemeinschaft der Kommunalen Spitzenverbände Niedersachsens“ andererseits, wurde ein Gesetz erlassen, das eine Entschuldung ermöglicht. So werden aus einem „Entschuldungsfonds“ bis zu 75 Prozent der kommunalen Liquiditätskredite bezahlt – wenn strenge Auflagen erfüllt werden. Da das Land die Finanzen der Kommunen beaufsichtigt, diese aber vom Grundgesetz geschützt das Recht zur Selbstverwaltung haben, entzündet sich regelmäßig Protest an Eingriffen durch das Land. So sind es meist Gebietsreformen und Zusammenlegungen von Kommunen, die aus Kostengesichtspunkten vom Land gefordert werden – und die sich dann Kommunen wiederum nicht gefallen lassen wollen. Mit Hilfe des „Zukunftsvertrags“, der im Dezember 2009 verabschiedet wurde, sollten konkrete Anreize für die Kommunen geschaffen werden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Darauf aufbauend änderte das Land das Gesetz für den kommunalen Finanzausgleich, das über einen Teil der kommunalen Mittel entscheidet. Es wurde ein „Entschuldungsfonds“ eingerichtet, aus dem Kommunen Mittel erhalten, wenn sie Gebietszusammenlegungen zustimmen – oder über mehrere Jahre einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können. Das Geld in diesem „Entschuldungsfonds“ stammt hälftig aus dem Landeshaushalt, hälftig von den Kommunen selbst.
Die Stadtverwaltung befindet sich seit dem Jahresanfang in Verhandlungen mit dem Land über Hilfen aus dem Fonds für Göttingen. Die Debatte entwickelte sich dann rasant, nachdem Patrick Humke (LINKE) nach einem vertraulichen Hinterzimmergespräch, zu dem der Göttinger Oberbürgermeister Meyer die Ratsfraktionen geladen hatte, an die Presse ging, um das Ausmaß der möglichen Kürzungen darzustellen. Das sei notwendig, um einen Eindruck über das ganze Thema zu bekommen, so Humke. Er verwies darauf, dass andere Kommunalpolitiker bereits ausgesuchte Einzelheiten aus der Debatte berichtet hätten – und sie teilweise auch verfälscht dargestellt hätten. In einer städtischen Ausschusssitzung wurde ihm seine Veröffentlichung denn auch emotional aufgebracht vorgehalten. Er selbst hatte zuvor allen anderen Fraktionen Unehrlichkeit vorgeworfen und mit saftigen Formulierungen ebenfalls nicht gespart.
Die Empfindlichkeiten der Ratsabgeordneten gehen wohl auf mehr als nur den Bruch der Vertraulichkeit zurück. Im September sind Kommunalwahlen in Niedersachsen. Und eine Entscheidung mit solch einschneidenden finanziellen Auswirkungen wie die fällige Selbstverpflichtung zu einem ausgeglichenen Haushalt bietet Sprengstoff für den Kommunalwahlkampf. Die LINKE hat es programmatisch noch am einfachsten, sich nicht von je nach politischer Einordnung tatsächlichen oder konstruierten „ökonomischen Zwängen“ leiten zu lassen. Sie spricht sich daher strikt gegen die Nutzung des „Entschuldungsfonds“ aus. Andere hätten sich sicher lieber erst nach der Kommunalwahl auf dieses Thema konzentriert. Allerdings muss ein Antrag auf Nutzung der Entschuldungshilfe bis Ende Oktober gestellt sein – daher müsste ein entsprechender Antrag schon jetzt gestellt werden.
Es wird sich deshalb mit einem Trick beholfen, der wohl die Debatte vor den Kommunalwahlen auf ein Minimum beschränken sollte (oder wie es der Antrag beschreibt: weil „eine möglichst breite Diskussion über die notwendigen Maßnahmen zur Konsolidierung des Haushaltes ab 2012 zeitlich nicht zu realisieren“ sei). Der Antrag, der auf der Ratssitzung am 15. Juni beschlossen werden soll, betont, lediglich „fristwahrend und für die Stadt Göttingen unverbindlich“ zu sein. Eine Debatte solle dann später stattfinden – nach den Kommunalwahlen. An einem politisch möglichst schönen Anstrich versuchten sich die Kommunalpolitiker in einer Ausschusssitzung Mitte Mai: Der neugewählte Rat solle die „Option behalten“, sich für die Hilfen aus dem Fonds zu entscheiden. Politischer Sprengstoff ist jetzt aber bereits in der mit „fristwahrend“ – also eigentlich vorerst wirkungslos – etikettierten Entscheidung enthalten. Parteien, die dafür stimmen, werden sich die kommenden Monate mit Fragen beschäftigen müssen, wo sie denn die Kürzungen planen. Parteien, die dagegen stimmen, werden sich Ignoranz gegenüber ökonomischen Zwängen vorhalten lassen müssen.
Auch um den Ruhm, wer denn nun wann und in welchem Maß die Öffentlichkeit informiert habe und wer sich Transparenz auf die Fahnen schreiben dürfe und wer nicht, ist ein Streit unter den Parteien entbrannt. Immerhin geht es nun auch um den unausgesprochenen Vorwurf, hinter geschlossenen Türen Mauscheleien gegen die Interessen der Bürger_innen zu veranstalten. Kommunalpolitiker aller Parteien sehen sich plötzlich dazu genötigt, detailliert aufzuzählen, bei welchen Gelegenheiten sie über den „Zukunftsvertrag“ informiert hätten.
Inzwischen warnen außerhalb der kommunalen Vertretungen kulturelle und soziale Initiativen vor den Folgen einer zwangsweisen Haushaltskonsolidierung. Viele kulturelle und soziale Leistungen wären unter diesen Umständen nicht möglich. Sie verweisen auf eine ohnehin angespannte finanzielle Situation, der Wegfall vieler Angebote sei bei Kürzungen unvermeidlich. Als mehr oder minder wahrscheinliche Kürzungsvorschläge werden – aufbauend auf die von der LINKEN kolportierte Liste – die Schließung des Jungen Theaters, von Freibädern und Jugendzentren, Einschränkungen beim Schulessen, Altenhilfe, Händel-Festspielen, Rockbüro und vielen weiteren Einrichtungen beschrieben. Ebenso sei eine Grundsteueranhebung zu befürchten – die wegen der möglichen Umlage über die Mietnebenkosten auch die meisten Mieter treffen würde.
Die Ratssitzung findet am Mittwoch, 15. Juni, ab 17 Uhr im Ratssaal im Neuen Rathaus in Göttingen statt und ist öffentlich. Die Tagesordnung sowie die Anträge können über den Sitzungskalender der Stadt eingesehen werden. Monsters of Göttingen wird über die Sitzung berichten.
ich bin gespannt.. bis später!