Kommentar

It’s not enough to be leftwing
von am 14. März 2012 veröffentlicht in Hintergrund, Lokalpolitik, Rotstiftmilieu, Titelstory

Während die außerparlamentarische Linke die Auseinandersetzung um den „Zukunftsvertrag“ ignoriert, fahren einige Gruppen lieber nach Frankfurt um gegen Alles und Nichts zu demonstrieren. Die aktuelle linke Praxis in Göttingen scheint mehr von einer theologischen Zwei-Welten-Lehre geleitet zu sein, als von einem materialistischen Verständnis über gesellschaftliche Veränderung. Eine Gast-Kritik.

Seit über 3 Jahren diskutiert die außerparlamentarische Linke über die kapitalistische Krise und ihre Bedeutung für die deutschen Verhältnisse. Bis heute gibt es kaum Ansatzpunkte, das Scheitern des kapitalistischen Krisenaufschubs in soziale Auseinandersetzung zu überführen. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen blicken wir auf die Prozesse in Südeuropa und den USA, wo die sozialen Erschütterungen auch die Metropolen erfassen. In Deutschland dagegen ist es den sozialtechnologischen Eliten bislang gelungen, diese Erschütterungen in einem vielfach geschichteten System sozialer Stoßdämpfer und Wellenbrecher aufzufangen: Kurzarbeit, Abwrackprämie, vergleichsweise geräuschlose Fluktuation der LeiharbeiterInnen, Bankenrettungsschirme, Arbeitsverdichtung. Deutschland ist es in der Tat gelungen, wie von Merkel angedroht, gestärkt aus der Krise heraus zu kommen.

Dies ist ein kritischer Gastbeitrag zur Reaktions- und Handlungsfähigkeit linker Politik in Göttingen, insbesondere auch in Bezug auf den zur Zeit in der Diskussion befindlichen „Zukunftsvertrag“. Wir veröffentlichen auch gern Repliken auf diesen Beitrag, diese können an die Redaktion geschickt werden.
Kritischer Austausch zum „Rotstiftmilieu“ ist außerdem in einer themenbezogenen Facebook-Gruppe möglich.

Die außerparlamentarische Linke reibt sich über dieses politische Husarenstück bisher hilflos die Augen. Die sog Antikrisenbündnisse konnten bislang nicht einmal die üblichen Verdächtigen aktivieren. Die Aktionsmobilisierungen (Umzingelung von Bundestag oder Banken in Frankfurt am Main) sind entweder mangels Beteiligung vorzeitig abgesagt worden oder sind lokale Ereignisse geblieben.

Die gescheiterten Mobilisierungen zeigen auch eine Krise der linken Praxisformen der letzten 10 Jahre. Die Konzentration der eigenen Ressourcen auf Großereignisse mit dem Ziel eines möglichst großen – je nach Schule – symbolischen/diskursiven/medialen Impacts ist für die Zuspitzung sozialer Konflikte zum jetzigen Zeitpunkt offensichtlich eine ungeeignete Praxis.

Es ist eindeutig ein Fortschritt, dass sich die Linke wieder zunehmend die Frage stellt, wie sie Akteur in den sozialen Konflikten werden kann, die auch in Deutschland tagtäglich statt finden. Soziale Konflikte kommen hierzuladen aber in der Regel nicht so dramatisch daher wie die aktuellen Konflikte z.B. in Griechenland. Die Linke nimmt jedoch offensichtlich soziale Konflikte ohne brennende Barrikaden gar nicht als solche wahr. Ihr fehlt der Sensor dafür, soziale Auseinandersetzungen überhaupt zu erkennen, selbst wenn sie sich direkt in ihrem Wohnzimmer abspielen. Das beste Beispiel dafür ist in der Tat die aktuelle geradezu entweltlichte Praxis der außerparlamentarischen Göttinger Linken in Bezug auf den „Zukunftsvertrag“.

„Zukunftsvertrag“ und Kommunalfinanzen

Seit Ende Januar liegt in Göttingen die angepeilte Streichliste der Stadtverwaltung auf dem Tisch, mit der ca. 5 Millionen Euro im städtischen Etat gespart werden sollen. Um die mögliche Gegenmobilisierung einfach zu machen, hat die Stadt alle betroffenen Einrichtungen gleich handlich in einer Broschüre zusammen gefasst. Die Kürzungen enthalten Angriffe auf nahezu alle Bereiche: Medien/Öffentlichkeit (Stadtradio), Soziales (Schulessen und Schulfahrten, Frauennotruf), Kultur (Musa/KAZ, Junges Theater), Infrastruktur (Freibad Weende) um nur einige Highlights zu nennen.

In dieser Auseinandersetzung verdichtet sich ein Konflikt, der schon seit Jahren bundesweit schwelt: die Ausdünnung der Kommunalfinanzen. Weil Bund und Länder, die ebenfalls hoch verschuldet sind, den Kommunen immer mehr Aufgaben zu geordnet haben und zugleich die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel nicht angepasst wurden, stehen die Städte und Gemeinden nun ebenfalls vor riesigen Schuldenbergen. Diese Situation gewinnt zusätzliche Brisanz durch die sog. Schuldenbremse im Grundgesetz (eine Wohltat der letzten schwarz-roten Bundesregierung), die auch in immer mehr Landesverfassungen übernommen wird. Sowohl die Austrocknung der Kommunalfinanzen als auch die Schuldenbremse sind eine institutionelle Vorbereitung für die Abwehr sozialer Ansprüche. Einmal durchgesetzt, wird die Politik durch die rigide Straffung der Finanzierungsregelungen daran gehindert, soziale Ansprüche von Unten schuldenfinanziert zu befriedigen. Dies erhöht den politischen Druck diese Ansprüche abzuwehren. Die Kommunen sind so z.B. in der institutionellen Logik ,gezwungen‘, Druck auf Erwerbslose zu machen, um die „Kosten der Unterkunft“ (Übernahme der Mietkosten) zu drücken, die sie tragen müssen (siehe hierzu für Göttingen: http://www.goest.de/kdu.htm). Die soziale Infrastruktur, die v.a. von einkommensschwachen Menschen in Anspruch genommen wird, muss immer weiter zurück gefahren werden (Kultur/Freizeitangebote, Öffentlicher Nahverkehr etc).

Die Ausdünnung der Kommunalfinanzen ist damit ein wichtiger Hebel um das Sozialsystem immer repressiver und ausschließender zu gestalten. Das ist eine konkrete Ausformung der Krise in Deutschland. Diese wird dadurch noch verschärft, dass durch die Verstaatlichung der Wirtschaftskrise selbige in eine Krise der Staatsfinanzen transformiert wurde. Was Einige sich vor drei Jahren als Ende des neoliberalen Paradigmas ausgemalt haben, wird nun im Gegenteil genutzt zur Verschärfung der Austeritätspolitik.

Auf der Ebene der Herrschaftstechnologien ähnelt diese lokale Auseinandersetzung jenen, die gerade im europäischen Maßstab geführt werden. Wie Deutschland gegenüber Griechenland, macht das Land Niedersachsen die Hilfe für die überschuldeten Kommunen davon abhängig, dass diese vorher ihre eigene soziale Infrastruktur kaputt kürzen. Die Krone wird dem Ganzen aufgesetzt durch einen ,Beteiligung‘ genannten Selbstzerfleischungsprozess, den die Stadt nun rund um ihre Kürzungsvorschläge organisiert. Dieser dient im wesentlichen der Legitimation: wenn die BürgerInnen selbst über die Kürzungen entschieden haben, müssen soziale Proteste ins Leere laufen.

In der lokalen Auseinandersetzung, die vordergründig um die Kürzungen der sog. „freiwilligen Leistungen“ der Stadt geführt wird, verdichten sich so die zentralen Herrschaftsformen des krisenhaften Kapitalismus.

Und die Linke?

Ist dies für die außerparlamentarische Linke ein Grund, zum Akteur in dieser Auseinandersetzung zu werden? Offensichtlich nicht! Mit einer Ausnahme (Schöner Leben, die das Thema schon 2011 auf die Agenda gesetzt haben) übt sich die Linke in Göttingen in einer bemerkenswerten Abstinenz. Zugespitzt kommt dies bei den Gruppen im „Krisenbündnis Göttingen“ zum Ausdruck, die sogar eine Kampagne starten, um 100% gegen den Kapitalismus zu sein, mit der sie sich aber zu 0% in die lokalen Auseinandersetzungen einmischen. (Um die Absurdität auf die Spitze zu treiben, beziehen sie sich in ihrer Mobilisierung auf die Kämpfe gegen die Wasserprivatisierung – man höre und staune – in Thesaloniki (Interview M31-Times, S. 2). Sind die Kämpfe nur weit genug weg, dürfen sie also auch wieder konkret werden. Es ist zu hoffen, dass dieser Blick auf die soziale Praxis im Ausland auch den Blick schärft für die Bedeutung der lokalen Fronten, in die es sich lokal einzumischen gilt). Statt sich also vor Ort gegen das Abwracken der eigenen Lebenswelt zu wehren, wird zu einer Demonstration nach Frankfurt am Main mobilisiert, auf der „dem System“ ganz unversöhnlich gezeigt wird, dass man es nicht mag. Die ganze Mobilisierung zielt nicht auf Interessen (worin besteht die je eigene Betroffenheit?) sondern auf Identität (wenn Kapitalismuskritik, dann 100%). Gesellschaftliche Veränderung muss jedoch an den konkreten Interessen und Bedürfnissen ansetzen, die der Kapitalismus tagtäglich mit Füßen tritt. Nur im Kampf um diese Interessen und Bedürfnisse entwickeln sich neue Perspektiven. Nur hier kann in der gemeinsamen Auseinandersetzung die Phantasie für eine andere Gesellschaft entwickelt werden. Diese Perspektiven jenseits des staatsfixierten Reformismus zu entwickeln ist die orginäre Aufgabe einer außerparlamentarischen Linken. Den linken Gruppen scheinen jedoch selbst die Phantasie und die Praxiskonzepte zu fehlen, um an konkrete Entwicklungen anzuknüpfen und an Hand konkreter Bedürfnisse den Konflikt mit den kapitalistischen FunktionsträgerInnen zu organisieren.

Dabei hat die Stadt in dem Versuch, überall nur ein bisschen zu kürzen, tatsächlich ideale Voraussetzungen für einen solidarischen Widerstand in Göttingen geschaffen. Denn betroffen sind nahezu alle: die FreibadnutzerInnen in Weende ebenso wie die Ehrenamtlichen des Stadtradios, frauenpolitisch Engagierte und Betroffene von sexualisierter Gewalt, TheaterbesucherInnen, Eltern und SchülerInnen, Kulturschaffende wie Kulturnutzende. Gegen diesen breiten Angriff eine solidarische Bewegung zu organisieren; die verschiedenen AkteurInnen an einen Tisch zu bringen; ein gemeinsames Konzept zu entwickeln, wie diese Auseinandersetzung solidarisch geführt werden kann, statt auf sich gestellt zu versuchen, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen– das wäre die Aufgabe der organisierten antikapitalistischen Linken. Wenn, ja wenn sie tatsächlich an einer Veränderung gesellschaftlicher (Kräfte-)Verhältnisse interessiert wäre.

Text: buenaventura

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13 Kommentare auf "It’s not enough to be leftwing"

  1. H. P. Baxxter sagt:

    Am besten gefällt mir die Tatsache, dass „die radikale Göttinger Linke“ mit dem „Antikapitalistischen Krisenbündnis“ gleichgesetzt wird. Sind die anderen Gruppen den tatsächlich schon so in der Bedeutungslosigkeit verschwunden?

  2. Kokain sagt:

    Im Kontext zu den Protesten gegen die Schließung des Freibad in Weende bzw eines Artikels darüber wurden einige bezeichnende Kommentare auf der Monsters gepostet von wahrscheinlich links denkenden Menschen gepostet. Nein Internetkommentare sind kein empirischer Gradmesser für irgendwas aber sie stehen hier ganz gut exemplarisch für bestimmte Haltungen…
    „besser es wird beim weender freibad gespart, als bei anderen dingen, wie zum beispiel dem juzi.“
    „großartig, dass sich in gö 2k menschen mobilisieren lassen für ein verkacktes scheiß abgefucktes freibad. ALTER!!!!!!!!!!!!!!! und wenns in northeim gegen nazis geht, kommen grad ma so 300 zusamm,…“
    „Ach übrigens mein Freibad um die Ecke schliesst nicht.. puh Glück gehabt. Fehlt nur noch das gute Wetter , ein Alster und die Welt ist in Ordnung , arme Weender, ich bin so betroffen“

  3. retmarut sagt:

    Ein sehr gelungener Gastbeitrag von buenaventura!
    Die Kernprobleme werden gut auf den Punkt gebracht.

  4. Die Mitte erobern! sagt:

    wie wärs mit einer groß angekündigten demo gegen die kürzungen in gö? – bis zur endgültigen entscheidung ists noch n bisschen hin (mai?) und ne demo in 2 wochen, für die gute und breite vernetzungsarbeit gemacht wurde, könnte ein zündender funke werden…
    vielleicht am 30., so als auftakt für march31? oder später?

  5. A.M.P. sagt:

    Der Artikel spricht einige richtige und wichtige Punkte an. Aber regionales Engagement gegen die Mobilisierung zum internationalen Aktionstag in Frankfurt a.M. auszuspielen, ist ein wenig zu einfach. Ich hoffe es gibt eine Antwort des antikapitalistischen Krisenbündnisses oder von Gruppen, die dort mitwirken oder sonstigen Gruppen und Einzelpersonen.
    Anhand der Kommentare bei Monsters usw. abzuleiten, wie die Proteste z.B. gegen die Schließung des Weender Freibads von Linken wahrgenommen werden, ist ein weinig verquer. Manchmal benötigen Diskussionen in Gruppen eine gewisse Zeit, um Situationen adäquat einschätzen zu können, Strategien zu entwickeln und aktiv werden zu können. Auch das Thema Kommunalfinanzen muss sich, wie jedes andere Thema mit dem sich ernsthaft beschäftigt werden soll, mühsam erarbeitet werden. Ob Analogien zu Staatsschulden und Kommunalverwaltung herstellbar sind, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht hundertprozentig beurteilen, aber die Zurichtungsmechanismen durch gesetzlich fixierte Schuldgrenzen der Länder und Kommunen, teile ich mit der/dem Autor_In des Artikels. Aber es macht einen qualitativen Unterschied, ob deutsch-europäische Politik die griechische Gesellschaft in ihrem Sinne zurechtstutzt und damit Verarmungsprozesse auslöst oder ob in Weende ein Freibad geschlossen werden soll. Was beiden Prozessen gemein ist, ist die politische Ansage gefälligst den Gürtel im Namen des Standorts enger zu schnallen. Während Griechenland jedoch keine Wahl hat an welchen Stellen gestrichen wird, wird den BürgerInnen in Göttingen sogar noch die Wahl gelassen an welchem Strick sie finanziell baumeln wollen. Die Demokratisierung von Sparmaßnahmen ist der Erfahrung der politischen Herrschaft geschuldet, die aus Prozessen wie z.B. Stuttgart 21 gelernt wurden. Partizipation und vermeintliche Transparenz gegenüber den BürgerInnen verschafft Legitimation in einem Verfahren, das als vermeintlich alternativlos und Sachzwang unumgehbar scheint. Das perfide dabei ist jedoch, dass sich die Konkurrenz unter den „Streichkandidaten“ verschärft, anstatt sich zu organisieren und miteinander zu solidarisieren. Ist jedoch die Interessensvertretung der betroffenen Institutionen Aufgabe einer radikalen antikapitalistischen Linken oder muss dieses Moment nicht durch die Kämpfenden selbst hergestellt werden und auf Wunsch durch radikale Linke unterstützt werden? Dies dürfte wohl auch der Grund sein, warum einige Linke das Juzi eher schützen würden, als das Weender Freibad. Es entspricht aber auch der gleichen Losung des damaligen Unistreiks, bei der die Parole aufkam die Uni Vechta, solle zu Gunsten der Göttinger Uni dicht gemacht werden. Der Demorave am Freitag bietet daher auch die Möglichkeit gegen die regionalen Verhältnisse auf die Strasse zu gehen, die aber in keiner Weise von den allgemeinen Krisenprozessen zu trennen ist. Diese gedachte Trennung entspricht dann wohl eher einer Zwei-Welten- Lehre oder?

  6. doppelell sagt:

    Ich teile die Kritik an der Planlosigkeit und dem identitären Gehabe, die in der radikalen Linken regelmäßig anzutreffen sind und würde sogar von einem proportionalen Zusammenhang ausgehen. Nichtsdestotrotz erachte ich eine eigenständige Mobilisierung zum 31. März (neben den breiteren Aktionen vom 17. – 19. Mai) taktisch für sinnvoll.

    Der erste Grund liegt in der Verwirrung über die Ursachen der Krise und der Intention hinter den Versuchen, sie zu bewältigen. Eine Verwirrung, die sich an dem oben angeführten Zitat verdeutlichen lässt. Dort stecken nämlich zwei unterschiedliche Ansätze drin: Sitzt dort jemand an einem Hebel, der Böses will („um…zu“; Politiker oder Banker (letzteres unterstelle ich dem Autor ausdrücklich nicht)), oder haben wir es mit innerhalb der gesellschaftlichen Formen notwendigen, damit aber unfreien Entscheidungen zu tun? Die Antwort darauf diktiert die Handlungsoptionen. Im ersten Fall hätten wir es mit ein paar Politikern zu tun, die sich verscheuchen ließen. Im zweiten Fall aber mit einem globalen System, durch das sich die Menschen selber zwingen, ihren Standort in der Weltkonkurrenz „bei Strafe des Untergangs“ profitabel zu halten. Im ersten Fall bleibt der Staat Anrufungs- und letzte Instanz. Im Zweiten kann er als notwendige Form gar nicht anders handeln, ohne aufzuhören, Staat zu sein. Entsprechend nützt es nichts, zu appellieren. Dass der zweite Fall eine sehr viel größere Herausforderung an Kritik und Praxis stellt, ändert dabei gar nichts an der Tatsache, dass keine funktionierende Strategie ohne Kenntnis der Verhältnisse zu haben ist.

    Zweitens ist es also zu begrüßen, dass eine einhundertprozentige Kapitalismuskritik in der aktuellen Situation, am Ort der falschen – und damit den eigenen Interessen schadenden – Kritik, nämlich in der Bankenstadt Frankfurt, in gemeinsam mit den radikalen Teilen der europäischen Linken vorgetragen wird. Einerseits als Experiment: Um zu schauen, wie die Reaktionen ausfallen – ein gutes Interview in der Tagesschau wäre nicht schlecht, lässt sich aber natürlich nicht erzwingen; um so wichtiger eine prägnante Parole. Andererseits ist jede Demonstration immer auch eine Demonstration nach innen, schafft Motivation, weiter zu machen.

    Allerdings sollte man Demonstrationen nicht überbewerten. Nur in ganz wenigen Fällen stellen sie überhaupt eine Praxis dar. Was ihnen – hierzulande, heute – in erster Linie fehlt, ist Kontinuität. Anhand Demonstration lässt sich bestenfalls etwas aussagen, ein Anstoß geben. Um einer Kritik Kontinuität zu geben, muss sie sich in Praxis übersetzen – und zwar dort, wo wir leben. Da bin ich ganz bei Dir, lieber Buenaventura. Nur bricht Dein Manuskript leider an dieser Stelle ab, was Deine ganze Argumentation so nebulös verbleiben lässt, wie Du es Anderen zu Recht vorwirfst. Was kann man den tun, wenn man sich am Ende einer Kette von Entscheidungen wiederfindet, deren Ursprung ebenso unnahbar wie deren Ergebnis unausweichlich ist? Zunächst einmal: Erklären, wie es dazu gekommen ist. Und dann? Darauf hoffen, dass irgenwer am runden Tisch eine bessere Idee hat, als Leute, die sich seit Jahren den Kopf zerbrechen? Fakt ist: Niemand auf der Linken hat irgendein emanzipatorisches Konzept in der Schublade, mit dessen Umsetzung man heute beginnen könnte. Ich sehe nur Eskapismus, Militanz für eine Sache, die keiner will, und ebenso unvermeidliches wie frustrierendes Abarbeiten an den übelsten Symptomen. Ohne ein Ziel, das hinreichend konkret ist, sodaß ich sagen kann, „das ist der nächste Schritt“, gibt es eben auch keine Strategie, denn eine Strategie ist die Vermittlung zwischen einer Situation, die ich begriffen habe und einer Situation, die ich anstrebe. Also los: Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer!

  7. retmarut sagt:

    1. Am wichtigsten ist weiterhin, eine gemeinsame Praxis der verschiedenen Initaitiven/Gruppen/Strukturen zu entwicklen und auf dieser Grundlage Abwehrbündnisse aufzubauen. Nur so wird es überhaupt möglich sein, auf absehbare Zeit wieder in die Offensive zu kommen.

    2. zu den theoretischen Überlegen und damit @ doppelell:
    „Dort stecken nämlich zwei unterschiedliche Ansätze drin: Sitzt dort jemand an einem Hebel, der Böses will („um…zu“; Politiker oder Banker (letzteres unterstelle ich dem Autor ausdrücklich nicht)), oder haben wir es mit innerhalb der gesellschaftlichen Formen notwendigen, damit aber unfreien Entscheidungen zu tun?“

    Diese „theoretische“ Aufspaltung ist ja schon höchst eigenwillig und willkürlich, da sie die bestehende Klassenherrschaft der Bourgeoisie völlig nebulös ausklammert. Wenn wir ausklammerten, dass wir hier in einer bestimmten Klassengesellschaft leben, kommen wir auch zu entsprechenden Fehlannahmen bzgl. der Fragestellungen und der Lösungsoptionen.

    Der Kapitalismus konstituiert sich aus dem (über die Ware vermittelten) Verhältnis zwischen den beiden Hauptklassen, sprich dem Proletariat als kollektivem Eigentümer der Ware Arbeitskraft und der Bourgeoisie als kollektivem Eigentümer der privaten Produktionsmittel. Die einen müssen ihre Arbeitskraft zu Markte tragen; die anderen sind gezwungen, ihr Kapital stetig in Bewegung und durch erneute Ausbeutung menschlicher Arbeit in Wert zu setzen. – Das ist das ökonomische Verhältnis als Basis, auf dem dann der ganze weitere politische/kulturelle Überbau steht.

    Die Politiker, Mangager etc. sind in der Tat keine „bösen, giergetriebenen Schurken“, sondern lediglich funktionelles, ausführendes Organ der bürgerlichen Kapitalfraktionen. (Deswegen tut es der Bourgeoisie auch nicht sonderlich weh, wenn in den Medien jetzt zornige „Politikerschelte“ oder populistische Forderungen nach „Managerkontrolle“ aufkommen. Alles wunderbare Blitzableiter, die von den zugrundeliegenden Klassenstrukturen ablenken und die Protestbewegung auf Irrwege führen sollen.)

    Gerade die strukturelle Schwächung der Staatshaushalte (u.a. der Kommunalfinanzen) seit den 1990ern beruht doch darauf, dass die Steuerabgaben der bürgerlichen Klasse massiv zurückgefahren wurde. Erinnert sei nur an den Spitzensteuersatz, der unter Kohl noch bei 53% lag, heute (nach den Schröderschen Reformen) bei lausigen 42%, Tendenz sinkend. Auch bei den Sozialabgaben (z.B. Einfrieren der AG-Anteile bei der gesetzlichen Krankenversicherung) ist klar, wie hier die bürgerliche Klasse die historisch günstige Gelegenheit genutzt hat, sich aus diesen Kosten herauszuziehen. (Die Parität in der Finanzierung der Krankenversicherung war ihr stets ein Dorn im Auge, aber musste aufgrund der früheren Kräfteverhältnisse geschluckt werden.)

    Nach dem Untergang des Realsozialismus (und der damit einhergehenden Schwächung sämtlicher Teile der organisierten Arbeiterbewegung) 1989/90 hat es die deutsche Bourgeoisie zügig genutzt, die Hebel zu ihren Gunsten umzulegen und die Umverteilung von unten nach oben zu beschleunigen. Mit dem daraus erzielten Kapitalüberschuss konnte die deutsche Bourgeosie, hier v.a. die Monopolbourgeoisie, ihren Waren- und Kapitalexport enorm steigern. Das alles hat natürlich auch begünstigt, dass der 1990 wieder von der Leine gelassene deutsche Imperialismus sich systematisch große Teile Europas (insb. Mittel-Ost-Europa und den Balkan) ökonomisch einverleiben und via EU zum eigenen Hinterhof umgestalten konnte. Die derzeitige Griechenland-Krise ist ja nur ein Beiprodukt dieser Strategie des Ausweidens. Hinzu kommt, dass Deutschland mittlerweile wieder eine hegemoniale Stellung in Europa hat , wobei es seinen ehemals gleichberechtigten Partner Frankreich in der EU zum Juniorpartner degradieren konnte.

    „Was kann man den(n) tun, wenn man sich am Ende einer Kette von Entscheidungen wiederfindet, deren Ursprung ebenso unnahbar wie deren Ergebnis unausweichlich ist?“
    Die Sache ist eben nicht „unausweichlich“ oder schicksalshaft, kein reiner Automatismus und auch keine „unsichtbare Hand“, sondern (wie oben dargelegt) interessengeleitet von der herrschenden Klasse. Grundsätzlich muss es also darum gehen, dass der Anteil, den sich die Bourgeoisie am gesellschaftlichen Mehrwert aneignen kann, schrittweise verkleinert wird. Das gelingt nur durch gemeinsam erkämpfte Reallohnsteigerungen einer streikfähigen und -bereiten Gewerkschaftsbewegung.
    Zum anderen muss es darum gehen, dass a) Kultur, Bildung, Gesundheit etc. (als Teil der „notwendigen Lebensmittel“ im Marxschen Sinne) weiterhin staatlicherseits gewährleistet bleiben und b) die bürgerliche Klasse wieder stärker an den Kosten dafür beteiligt wird, also insb. Erhöhung des Spitzensteuersatzes sowie Vermögensabgaben.

    Alles nicht einfach, gewiss. Aber daran führt letztlich kein Weg vorbei, wenn mensch wieder aus der strukturellen Defensive gelangen will.

  8. retmarut sagt:

    Hier noch als inhaltliche Ergänzung zur Diskussion um die Kommunalfinanzen und den Zukunftsvertrag eine sehr lesenswerte Ausarbeitung von Jörg Miehe, die das Bündnis Lebenswertes Göttingen 2011 als Broschüre herausgebracht hat. Zu finden auf der Seite von Schöner Leben: http://www.schoener-leben-goettingen.de/Materialien/Publikationen/PDF/zurLageKommunalFinanzen_2-8-11.pdf

  9. doppelell sagt:

    @ retmarut: Vielen Dank für Deinen ausführlichen Beitrag. Voran schicken möchte ich eine formelle Solidaritätsbekundung. Es brächte tatsächlich mehr, wenn alle dem Fortschritt Verpflichteten mehr gegenseitiges Erkenntnisinteresse aufbringen würden. Ich denke daher, es würde keinen Sinn machen, wenn ich jetzt an einzelnen Aussagen rummäkelte. Der Kern unseres kleinen Disputs lässt sich in zwei Fragen zusammenfassen: Wird die Gesellschaft von Kapitalisten beherrscht? Und: Was ist die Rolle des Staates in der Weltmarktkonkurrenz?

    1.) Dass der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist, stelle ich nicht in Frage. Ich bezweifle allerdings, dass er sich damit hinreichend beschreiben lässt. Wie Du ja selber sagst ist die Bourgeoisie „gezwungen, ihr Kapital stetig in Bewegung und durch erneute Ausbeutung menschlicher Arbeit in Wert zu setzen“. Das bedeutet, sie ist unfrei. Gleichzeitig liest sich Deine Analyse streckenweise wie eine Manipulationstheorie, wenn beispielsweise jemand von etwas „ablenken“ will, um auf „Irrwege“ zu führen. Das impliziert einen freien Willen. Unbenommen, dass wenn bestimmte gesellschaftliche Funktionen gewisse Aufgaben umfassen, die alles andere als vom allgemein menschlichen Standpunkt aus gut zu heißen sind, dass dann Arschlöcher die erste Wahl für den Posten sind. Aber das betrifft die Oberfläche: Die Funktion sucht sich ihre Funktionäre. Das Wesen des Kapitalismus ist eins der allseitigen Unfreiheit.
    Dies mag in der liberalen Phase des Kapitalismus im 19. Jahrhundert anders gewesen sein, hatte sich aber schon mit dem Fordismus, dem Verschmelzen von Staat und Kapital und der Massengesellschaft erledigt. Heute sind die kapitalistischen Formen so verinnerlicht und mit allem verschmolzen, dass es im Grunde einzelner Kapitalisten gar nicht mehr bedarf. Was Wunder also, dass sich die Schweizer in einem Volksentscheid gegen die Verlängerung des eigenen Urlaubs aussprechen. Was spielen da Bill Gates‘ 60 Mrd. $ Vermögen (einmalig) angesichts der 14.000 Mrd. $ BIP der USA (jährlich) noch für eine alles entscheidende, das System erklärbar machende Rolle?

    2.) Es ist spät und ich hab gerade keinen Bock mehr. Vielleicht können wir später darauf kommen.

    Ausdrücklich zustimmen möchte ich Dir bei allem, was den deutschen Imperialismus nach 1989 betrifft und auch von dieser Stelle noch einmal alle mindestens zum Streik aufrufen. Adressat eines radikalen Beitrags kann allerdings weder der Nationalstaat sein, noch reicht es von diesem Standpunkt gesehen aus, bloß das wieder zu bekommen, was man in der letzten Runde verloren hat – wie ein Spielsüchtiger. Adressat einer kämpferischen – meinetwegen – Arbeiter- oder – mal sehen – neuen Form der Bewegung können nur andere Kämpfende sein. Ich warte immer noch auf ein Konzept, was wir dann machen.

  10. Jo sagt:

    @ retmarut

    Deine Argumentation finde ich unpassend, um doppelell zu kritisieren. Vielmehr enthält seine Argumentation bereits einige Kritik an deinem Beitrag.
    Deiner Meinung nach sind Politiker und Manager „in der Tat keine „bösen, giergetriebenen Schurken“, sondern lediglich funktionelles, ausführendes Organ der bürgerlichen Kapitalfraktionen.“
    Sie sind dir zufolge nicht etwa funktionelles, ausführendes Organ innerhalb einer Systemlogik, sondern der „bürgerlichen Kapitalfraktion“. Das könnte nun noch als systemisch abstrakt verstanden werden, wenn es dir nicht darum ginge, die Klassengegensätze zu konkretisieren. Deiner Argumentation nach lenkt die „Politiker[- und Manager]schelte“ aber von den Klassengegensätzen ab. Es scheint dir also darum zu gehen, zu zeigen, dass es noch andere Leute gibt, die im Hintergrund die Hebel bedienen und gegen die sich die „Protestbewegung“ richten soll. Damit befindest du dich aber genau an dem Punkt der von doppelell zurecht kritisiert wird.
    Zwar versuchen die Angehörigen der Bourgeoisie ihre Interessen durchzusetzen, nur sind diese Interessen eben notwendigerweise durch die Logik des kapitalistischen Systems beeinflusst und richten sich nicht selten gegen andere Angehörige ihrer ‘eigenen Klasse‘. Die Angehörigen der Bourgeoisie agieren eben nicht notwendigerweise als „Kollektiv“, sondern befinden sich genauso, wie alle Angehörigen der Arbeiterklasse, als auch Nationen, in einem objektivem Konkurrenzverhältnis zueinander. Darin zeigt sich zugleich die Problematik der Rede von Basis und Überbau. Die Notwendigkeit der dialektischen Vermittlung beider Kategorien schließt nämlich die hierarchische Abfolge bereits aus, welche von den Worten jedoch suggeriert wird.
    Die auf dem Verwertungszwang dieses Systems basierenden Konkurrenz ist auch im Bezug auf die Senkung der Spitzensteuersätze zu beachten. Auch hierbei gibt es eine Steuerkonkurrenz zwischen Nationen. Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes versuchen Nationen das Abwandern der mobilen Angehörigen der Bourgeoisie zu Ungunsten der eigenen Wirtschaftsleistung zu verhindern.
    Durch diese Verstrickungen (welche hier natürlich nur in wenigen Beispielen dargestellt werden können) folgt wiederum, dass der Spielraum für reformistische Ansätze verschwindend gering ist. Ebermann hat das gestern in der Veranstaltung finde ich sehr gut dargestellt: Die Problematik besteht eben darin, dass die von u.A. dir geforderten Maßnahmen des Staates (Kultur, Gesundheit etc.) mit hoher Wahrscheinlichkeit eine verschlechterte Lage in der Weltmarktkonkurrenz zur Folge hätten und dementsprechend nicht umgesetzt werden können. Eine Verschlechterte Lage in der Weltmarktkonkurrenz bedeutet weitere Kürzungen.
    Auf diese, innerhalb der Systemlogik, ausweglose Situation wollte doppelell hinweisen. Natürlich bedeutet das nicht, dass das Ende der Geschichte gekommen ist und es keine Möglichkeiten für eine veränderte Gesellschaft mehr gibt. Nur muss eben festgestellt werden, dass die meißten reformistischen Vorstellungen und die Anrufung des Staates sehr oft ins Leere laufen. Das ist auch der Grund dafür, warum 100%ige Kapitalismuskritik geleistet werden muss. Das wiederum hat erst einmal nichts mit Identität und Oberlehrerhaftigkeit zu tun (auch wenn nicht behaupten würde, so etwas gäbe es in der Linken nicht – im Gegenteil), sondern ist die notwendige Konsequenz aus der Analyse.

  11. retmarut sagt:

    @ Jo und doppelell:
    Es wäre sicher sinnvoller, wenn solche Debatten nicht allein im Internet, sondern v.a. im realen Leben, also auf Diskussionsveranstaltungen, Jour Fix, gemeinsamen Seminaren der organisierten Göttinger Linken gemeinsam (!) geführt werden. Ich bezweifle zudem, dass eine wirklich tiefergehende Diskussion (und angesichts des geäußerten Klassennihilismus müsste diese notgedrungen etwas tiefer ansetzen) sich in Kommentarspalten nicht sinnvoll führen lässt.

    Offenbar haben wir drei aber den Konsens, dass
    a) die Bourgeoisie die Lage nicht progressiv ändern kann, da sie in der Kapitallogik und der damit zusammenhängenden Konkurrenz auf Gedeih und Verderb gefangen ist,
    b) sich nach 1989 die Lage im imperialistischen Deutschland massiv zugunsten der herrschenden Klasse und gegen die subalternen Klassen und Schichten verschoben hat und damit erst die neuerliche aggressive Expansion des deutschen Imperialismus möglich wurde,
    c) dass Kapitalismus eben nichts mit Moral oder gutem Willen zu tun hat, sondern mit Interessen.

    Unser Dissens hingegen besteht darin, dass ich den Kapitalismus als Klassengesellschaft und somit als konkretes Verhältnis zwischen den beiden Hauptklassen sehe, wo ein tagtäglicher Klassenkampf stattfindet. Das ist ergo ein dialektischer Prozess, wo mal die eine, mal die andere Klasse (derzeit eben die Bourgeoisie) die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung vorgibt. Entsprechend gestaltet sich die gesellschaftliche Realität (mensch könnte auch sagen: die soziale Lage). Dreh- und Angelpunkt der kapitalistischen Klassengesellschaft ist eben der antagonistische Widerspruch, welche Klasse über den erarbeiteten Mehrwert verfügen kann. – Konsequenz daraus: Je größer der Anteil des Proletariats am Mehrheit, desto geringer der der Bourgeoisie (und vice versa). Eine Aufhebung dieses Verhältnisses kann nur durch einen qualitativen Sprung erfolgen, indem die Arbeiterklasse (und die ihr zustrebenden Teile der Zwischenschichten) ihr gemeinsames Interesse erkennt, die Macht erobert und das bourgeoise Privateigentum an Produktionsmitteln vergesellschaftet. (Good old Marx)

    Ihr hingegen vertretet die Tendenz, dass diese Klassengegensätze nicht (mehr) relevant seien, der Kapitalismus lediglich ein metaphysischer Automatismus sei, in dem alle Teilnehmer letztlich „unfrei“ über ihr Handeln seien. Die zwangsläufig defätistische Konsequenz daraus lautet: Das System ist im Grunde statisch und kann aus der eigenen Systemlogik heraus auch nicht kippen. Es müsste von außen (was auch immer das sein mag) von jemandem (wer auch immer das sein mag) zerschlagen werden. Der „politische“ Handlungsansatz ist damit ziemlich minimiert und reduziert sich v.a. darin, eine abstrakte Kapitalismus- resp. Staatskritik abzuliefern, die keinerlei Einfluss auf die wirklichen Auseinandersetzungen mehr hat.


    Mal weg von diesem Ausflug in eher abstrakte Gefilde, hin zum konkreten Anliegen, nämlich dem Kampf für eine lebenswerte Stadt (mit öffentlichen bzw. öffentlich geförderten Kultur-, Jugend-, Sozial-, Sporteinrichtungen) und gegen den Zukunftsvertrag:
    Für die politische Praxis, und um die geht es ja hierbei , ist es erst einmal völlig nebensächlich, ob und was für eine Kapitalismusanalyse mensch mitbringt. Vordringliches Ziel muss es doch sein, die verschiedenen Akteure, die von den Kürzungen direkt (als Einrichtungen) und indirekt (als Nutzer) betroffen sind, zusammenzuführen und die teils divergierenden Interessen („Mir geht’s nur ums JuZI, was kümmert mich das Weender Freibad?!“) auf eine gemeinsame Position/Stoßrichtung zu fokussieren: Die interne Konkurrenz ausschalten und gemeinsam für eine bessere finanzielle Ausstattung eintreten.
    Die Auseinandersetzung um die vermeintlich bessere Kapitalismuskritik kann mensch sich natürlich in irgendwelchen Debatten liefern. Entscheidender als solch eine abstrakte Debatte wird für das Massenbewusstsein jedoch sein, welche Bewusstwerdungsprozesse im konkreten Kampf erzielt wurden und welche Theorie die effektivere Handlungsanleitung für die Umsetzung der gemeinsamen Ziele bietet.

    „[…] allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem [am Menschen] demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, 1844).

  12. doppelell sagt:

    @ Jo: Genau!
    @ retmarut:
    1.) Das Internet ist real. Willkommen im 21. Jahrhundert. Sicherlich aber wäre eine Ausweitung sinnvoll.

    2.)
    zu a) Ich denke schon, dass der Kapitalismus enorme Fortschritte erreicht und noch viel größere möglich gemacht hat. Es ist ein bißchen wie bei : Was haben uns die Römer je gutes getan? Selbstverständlich haben die Reichen nach allen heutigen Maßstäben ein schönes Leben. Die meisten werden freiwillig weder ihre Macht abgeben, noch ihre Villen teilen wollen.

    zu b) Ich würde eher von einer Beschleunigung der Kapitalakkumulation sprechen, die durch eine feindliche Übernahme des DDR-Kapitals und eine unter der SPD-Regierung durchgesetzte Steigerung der Mehrwertrate im Interesse des Standorts zurückzuführen ist.

    zu c) „dass der Kapitalismus eben nichts mit Moral oder gutem Willen zu tun hat“, weil er gar keinen menschlichen Zwecken dient.

    Wie Du siehts, ist das mit dem Konsens nicht so einfach. Da ich eben der Aussage, der Kapitalismus sei mit dem Begriff der Klassengesellschaft hinreichend beschrieben, nicht zustimmen kann, gilt eben dasselbe für ein daraus folgendes Interesse gewisser Personenkreise. Noch einmal: Im Kapitalismus fallen die Funktion der gesellschaftlichen Produktion und die Bedürfnisse der Menschen durchaus auseinander. Diejenigen, die produzieren, kontrollieren nicht die Produktion, sondern sind ihr unterworfen. Genau genommen aber wird die Produktion (geschweige denn die Zirkulation) von niemandem Kontrolliert und kann es auch gar nicht werden, weil (I) auf der Ebene, auf der sie sich vollzieht, dem Weltmarkt, gar keine Institutionen existieren, die eine solche Kontrolle ausüben könnten, und weil (II) die Produktion Formen annimmt – Waren-, Wert-, Kapital-, Zinsform -, die den Menschen Verdinglicht gegenüber treten: „[S]achliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ Der berühmte Fetisch. Insofern „verfügen“ die Kapitalisten auch nur insoweit über den Mehrwert, als sie Investitionsentscheidungen zu treffen haben, die sich als günstig oder ungünstig erweisen können. Sie sind eben keine Schatzbildner (da machen ein paar Millionen auf dem Privatkonto keinen gesamtgesellschaftlich analytischen Unterschied). Wenn das aber so ist, dann braucht es, damit sich die Logik G-(W-P-W‘-)G‘ vollziehen kann, die Person des einzelnen Kapitalisten tendenziell gar nicht mehr, zumal Konzentration, Zentralisation und organische Zusammensetzung des Kapitals ein solches Maß erreicht haben, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und operatives Geschäft notwendig auseinander fallen. Entsprechend tritt neben die beiden Hauptklassen der Staat als Standort, der die Verwertung des Werts organisiert und als Kapitaleigner bei großen Aktiengesellschaften auftritt. Entsprechend finden wir auch Aktionärsquoten (Anteil der Aktionäre an der Gesamtbevölkerung) von bis zu 30 – 40% in Industrieländern vor. Und wenn ein Konzern auch zu 100% von der Belegschaft kontrolliert würde, also demokratisch, was ja durchaus möglich wäre, wenn sich die Leute organisierten und das nötige Kapital einsammelten – es würde keinen Unterschied machen können. Es kann keinen Sozialismus in einem Land geben, geschweige denn in einem Unternehmen.

    Auf der anderen Seite ergibt sich die Frage, ob der Kapitalismus überhaupt vom Standpunkt der Arbeit aus fortschrittlich oder auch nur analytisch auf Höhe der Zeit Kritisiert werden kann, oder ob nicht vielmehr eine Kritik der Arbeit selbst geleistet werden muss.

    (I) Es gibt natürlich einen Klassenkampf, der um den Mehrwert geführt wird. Jeder Streik ist Ausdruck davon. Nur wird der Spielraum eben immer geringer, in dem Maße, wie die globale Konkurrenz zunimmt. Nur so ist die Idiotie zu erklären, wie sie aktuell im schweizer Volksentscheid sich ausdrückt („Mehr Ferien = weniger Jobs“, was leider den Tatsachen entspricht). So sieht sich die Arbeiterklasse gezwungen, weitgehende Zugeständnisse im Interesse des Standorts zu machen, damit aber mit ihm zu verschmelzen. Ein Umstand, der sich ebenso in der zurückhaltenden Politik der Gewerkschaften niederschlägt, wie seinen Ausdruck in nationalistischen Tendenzen findet, also im Gegenteil dessen, was eine Verwirklichung der Menschheit und ihrer Bedürfnisse erfordern würde.

    (II) Dazu braucht es eben keine Manipulation von oben, weil die Verhältnisse nicht verschleiert sind, sondern als genau das erscheinen, was sie sind: Als – als quasi-natürlich wahrgenommene – gesellschaftliche Verhältnisse von Sachen unter den Bedingungen einer Konkurrenz aller gegen alle. Zu einer Kritik daran, die als Basis einer emanzipatorischen Veränderung unabdingbar ist, weil ich das Übel erkennen muss, um es abschaffen zu können, kommt man eben nur, wenn man dieses notwendig falsche Bewusstsein überwindet: Ein Bewusstsein, dessen Fehler nicht darin besteht, zu erkennen, dass die Gesellschaft nicht nach menschlichen Bedürfnissen und unter ihrer Kontrolle, sondern Vermittelt über Sachen funktioniert, sondern darin, dass dieser Umstand natürlichen Ursprungs und damit wäre.

    (III) Der Schritt zur Überwindung dieser Ideologie kann durch Analyse und Diskussion erfolgen. Er kann, wie Du richtigerweise anmerkst, durch Praxis erreicht werden, deren notwendige Bedingung ja gerade ist, die Verhältnisse für veränderbar zu halten. Jedenfalls dann, wenn sie radikal ist und damit an die richtigen Grenzen stößt; sich dann fragen muss: „Was ist das für eine Grenze und warum ist sie dort?“; sich daraufhin radikalisieren muss, d.h. zum Kern der Sache vorstößt.

    (IV) Radikal können Kritik und Praxis allerdings nur dann sein, wenn sie die Arbeit überwinden, statt sie als allgemeines gesellschaftliches Prinzip Verwirklichen zu wollen. Erstens haben wir im sogenannten Kommunismus ja erleben dürfen, was letzteres bedeutet, nämlich eine ganz eigentümliche Form der Barbarei. Zweitens ist abseits der schnöden Empirie auch analytisch bei Marx das wesentliche dazu gesagt: Es ist nicht das Kapital, sondern die Arbeit, die den Wert schafft; der Wert ist die kapitalistische Form des Reichtums, dessen Maß die Arbeitszeit ist. Insofern ist die Arbeit bereits allgemeines gesellschaftliches Prinzip, nämlich als Wert. Wenn der Wert die Form des Reichtums, hervorgebracht durch Arbeit ist, dann sind die Industrie und die ganze Einrichtung der gesellschaftlichen Produktion nur auf eines ausgerichtet: Den Wert zu verwerten. Eine Praxis, die die Arbeiterklasse an die Macht bringen will, ohne die Produktionsweise zu transformieren, kann also den Kapitalismus nicht überwinden. Im Gegenteil: Sie gibt seinem innersten Prinzip diktatorische Vollmacht.

    (V) Der zentrale Widerspruch des Kapitalismus ist entsprechend nicht derjenige zwischen Kapital und Arbeit, aufzulösen in Richtung der Arbeit, denn beides sind kapitalistische Kategorien. Es ist der Widerspruch zwischen der Wertform des Reichtums und den daraus entstehenden Möglichkeiten. Denn die durch Arbeit konstituierte Wertform ist dem tatsächlichen Reichtum immer weniger adäquat, weil durch den technischen Fortschritt, Rationalisierung und riesige Maschinenparks der Anteil der Arbeit an der Produktion relativ immer weiter zurück geht. Die Forderung „Arbeit für alle“ ist insofern reaktionär.

    (VI) Was bedeutet das für die Praxis? Richtig ist, dass es nur eine Form der Praxis gibt, und das ist die, mit der ich hier und jetzt beginnen kann. Es ist also nicht nur richtig, sondern notwendig, die Verelendung und Verödung unserer „Lebenswelt“ verhindern zu wollen. Gleichzeitig ist auf der Ebene der Kommunen kaum der Angriff abzuwehren, denn die Kommunen haben selbst kaum Handlungsoptionen. Die hängen an den Ländern, die vom Bund abhängen, der von Europa abhängt, die sich alle in Konkurrenz zu anderen Standorten befinden, die gerade alle mehr oder weniger in der Krise stecken… da wird die Theorie schnell konkreter. Das muss man den Menschen erklären, damit sie geeignetere Maßnahmen ergreifen können: Wenn wir die Konkurrenz nicht überwinden, geht es uns allen schlechter. D.h. die Bewegung global ausweiten. Das bedeutet zunächst einmal, sich europaweit zusammenzuraufen, europaweit höhere Löhne zu erkämpfen, sich die Europäische Union demokratisch und mit radikaler Kritik im Hinterkopf anzueignen, für die Vereinigten Staaten von Europa zu kämpfen, damit wir es, wenn nicht mehr, so doch wenigstens mit nur noch einem, gemeinsamen Gegner zu tun haben, als Europäer unter einem Recht (auch Streikrecht, Mindestlohn etc.) leben, dadurch den staat überwinden, mit gutem Beispiel voran gehen, was das friedliche Zusammenleben ehemaliger Erzfeinde betrifft, als Vorlage für eine stärkere internationale Vernetzung, die die Konkurrenz zurückdrängt, hin zum Weltstaat, weg mit dem Weltstaat. Niemand hat gesagt, es würde einfach werden.

  13. buenaventura sagt:

    Ich freue mich über die bislang sehr sachliche Auseinandersetzung. Als eine erste Zwischenbemerkung: Die, so wie sie hier gemacht wird, m.E. falsche Gegenüberstellung von personalisierter Kritik vs. systemischer Kritik am Kapitalismus wurde so schon mal in Göttingen von 180 Grad unter dem Titel „Revolte ohne Wandel“ durchdiskutiert. Deshalb statt einer langen Antwort, hier der Link dazu: http://www.180-grad.net/396
    Hier insbesondere der vierte Abschnitt: „Grenzen der bloßen Kritik des Werts“.
    Was hier von Ebermann zur angeblichen Gefahr der Steuerflucht aus der Veranstaltung paraphrasiert wurde, fällt m.E. genau unter die Kritik aus dem Text „dass solche Argumente jeweils vollständig ohne Empirie auskommen“ (S. 9).
    Der Text insgesamt beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit dem Klassenkampfparadigma, der einige Fragen zu den Ausführungen zu retmarut aufwirft.
    Zu einem Punkt von doppelell wird in dem Text nichts gesagt. Deshlab will ich dazu hier was schreiben: der Kapitlismus ist krisenförmig, weil er ein prozessierender Widerspruch ist. „Bewältigung der Krise“, wie Du schreibst ist Verschiebung der Widersprüche, die dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufbrechen. Seit den 1970er Jahren erleben wir dies in immer kürzeren Zyklen. Wie die Erschütterungen der Krise auf die Gesellschaft treffen und wie – insbesondere auf wessen Kosten – der Krisenaufschub organisiert wird, ist eine Frage der politischen Ökonomie, also der institutionellen Bedinungen unter denen das passiert. Die Aussage des Textes ist, dass wir gerade erleben, wie diese Institutionellen Bedingungen so gestrickt werden, dass Widerstand gegen die Krisenlösung auf Kosten der Bevölkerung erschwert wird. Diesen Prozess zu organisieren ist die Aufgabe von sozialtechnologischen Eliten, samt ihres Wissensapperats, auch bekannt als Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Aus dieser Beschreibung, leitet sich keine „Handlungsoption“ ab wie du unterstellst – erst recht nicht die einfache, wen auch immer zu verscheuchen – , auch keine Staatsorientierung, sondern ein Verständnis über die Politikform und ihre Einbindungs- und Ausschließungsstrategien, mit der wir es zu tun haben. Wenn Du so willst: es hilft uns verstehen, wie die konkrete Wirkung von kapitalisitischen Zwängen organisiert wird. Konkret: die deutsche Ökonomie würde auch ohne Schuldenbremse, die nächsten Jahre weiter funktionieren. Ein solches Instrument zum jetzigen Zeitpunkt einzusetzen erfüllt dagegen die Funktion, die im Text beschrieben wird. Die Strategien zu beschreiben mit denen kapitalistische Herrschaft konkret durch- und umgesetzt wird, hat nichts mit Personalisierung zu tun.

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