Tocotronic’s Kapitulation hoch Zwei!
von am 5. August 2007 veröffentlicht in Platten, Tipp!

Immer mal was neues. Auch mal bei MOG! Gleich zwei Autoren fühlten sich berufen, der neuen Scheibe von Tocotronic ein paar Zeilen zu widmen. Der erste Text kommt jetzt gleich, den zweiten haben wir weiter unten versteckt. Aber – lest selbst….

John K. Doe und Tocotronic:

Kapitualtion nach der Vernunft?

Fans sind Last und Segen. Meistens haben sie ein großes Maul, zu jeder Platte einen Kommentar und eigentlich überhaupt keine Ahnung. Fans sind Selbstläufer. Turbonegro-Fans ziehen sich Turbojugend-Jacken an, sie trinken gerne und feiern, und verzeihen der Band auch die gröbsten Fehler. Mal ehrlich, Turbonegro hätten nach Apocalypse Dudes einfach in Lokalpolitik, Walfangmuseen und Irrenhäusern bleiben sollen, als uns mit zwei (jetzt drei) unnötigen Platten die ohnehin knappe Zeit zu stehlen. Turbonegro dürfen aber eben alles. Tocotronic-Fans sind da anders. Sie sehen anders aus, ihre Turbojugend-Jacke tragen sie in Form einer gescheitelten Frisur auf dem Kopf, ihrer Band verzeihen sie keinen Fehler. Erbost japsen sie nach Luft, so die Hamburger anders ticken, als der vom Fan gerade empfundene Zeitgeist (eine Art musikalischer Kleingeist), der immer nur die Referenz Richtung irgendeiner alten Platte erkennen vermag.

Tocotronic liefen jahrelang an mir vorbei. Früher waren sie tatsächlich bei uns die Band von Gymnasiasten, die dürr mit Mittelscheitel und einem Rilkeband über den Wall schlenderten. So legten wir uns das jedenfalls zu recht. Das waren keine Punks, dass waren freundliche Lackaffen, mit denen man gut zusammensitzen konnte, solange es nicht um Tocotronic oder gar Hamburger Schule gehen musste. Dass ich selber mal eine Schultüte bekommen würde, konnte ich ja früher noch nicht ahnen. Tocotronic waren einfach immer okay, und ich sah zumindest äußerlich wie einer von denen aus. Das war eine Schnittmenge. Tatsächlich wurde mir das auch das ein ums andere mal angedichtet. Das war okay, aber – das kam dann alles viel später. Die Band wurde für mich interessant, als die Videos plötzlich in die Rotation von MTV und VIVA kamen und die ersten Fans beleidigt nach Luft japsten und gingen um sich fortan in der Vergangenheit zu suhlen. Aus irgendeinem Grund habe ich mir die Band dann „schöngehört“, und, wie oft bei Bands bei denen ich mir unsicher bin, schnappte ich mir erstmal eine Remix-Platte. Das war „K.O.O.K. Variationen„, die mir so gut gefiel, dass ich mich an das Original traute – bloß gut! Danach legten Tocotronic mit ihrem eigenen weißen Album (wie auch anders) die Messlatte verdammt hoch. Plötzlich war ich nicht nur Tocotronic Fan, im Fahrwasser folgten zu meinem eigenen Entsetzen auch noch Blumfeld.

Dann „Pure Vernunft darf niemals siegen“ – war ich dafür über meine eigenen Vorurteile und damit auch über meinen ureigenen Schatten gesprungen? Welch eine Enttäuschung! Ausnahmweise war ich mir mit vielen Fans mal einig. Was für eine beschissene Platte! Schlecht, unnötig – mit guter Single zwar, aber eine Platte, die nicht nur bei Licht betrachtet einfach niemand brauchte. Hatte man vor sich selbst kapituliert? Oder hatte man zu früh in den Äther geschossen? „Kapitulation“ heißt Tocotronic 2007. Das klingt nicht nach einer selbstreferenziellen Ansprache, sondern auch nach Protest – ohne Protest. Die Band selber bezeichnete das kommende Werk als Manifest. Kapitulation? Und dann Manifest? Irgendwie eine sympathisch anmutende Übertreibung. Ein Kunstgriff dessen sich verschiedenste Künstler bedienten. Hieß es Manifest, dann roch es nach Ideologie, und lieferte fünf Zeilen mehr fürs Feuilleton. Und so schnell findet man dann Politik in Poesie. Bloß gut, das das Ganze in der Realität anders aussieht. Freiheit von ersterem steht vielen Dingen besser als man denkt! Eigentlich verbietet sich der Vergleich mit dem früheren Werk – aber eine Referenz wie das weiße Album verlangt danach. Und tatsächlich sind Tocotronic wieder dort angekommen. Nein nichts neues, aber bekanntes fantastisch neu aufgelegt. Und man will dem Text tatsächlich wieder folgen, auch wenn ich die vormalige Kritik an selbigen, die sich „Pure Vernunft…“ immer wieder hat gefallen lassen müssen immer noch nicht so ganz nachvollziehen kann. Tiefgründigkeit muss nicht immer nachvollziehbar sein, der diesbezügliche Nimbus, der der Band wie eine Klette anhängt, ist Makulatur. Bei Bands wie Tocotronic oder Blumfeld war der Text so nah an Poesie, wie bei kaum einer anderen Band. Und was zur Hölle ist schon Poesie? Tiefgründigkeit? Poesie ist, wenn alle bedeutungsvoll gucken und sich niemand traut zu fragen, was das ganze eigentlich soll. Die schönste Poesie liegt in der Tragik. Und schöner könnten das Tocotronic hier nicht vorlegen. Die Kapitulation der Band kommt ohne den Hauch des Protestes aus, dass ist fantastisch. „Mein Ruin“ und „Kapitulation“ (klingt verdächtig nach einer Schnittmenge von Wood & Water von The Promise Ring – das ist gut!) könnten dieses Programm nicht schöner unterschreiben. Dabei erinnert vor allem „Mein Ruin“ an Morrisseys „Alma Matters“ in seiner ultimativen Verteidigung des Scheiterns. Und wenn Blumfeld manchmal etwas pathetisch, bisweilen peinlich werden, kann man Tocotronic folgen ohne rot zu werden. Nur gut, dass Tocotronic in der Kultivierung des Scheiterns nicht in Elegie verfallen: Kapitulation verhallt nicht, immer wieder hört man Facetten der Band heraus, die offensichtlich an die Anfänge erinnern. Klingt versöhnlich! Klingt verdammt gut.

Schmendi und Tocotronic:

Adorno, Marx, Von Lotzow – Zur Antikapitulation von Tocotronic

Als ich zum ersten Mal Tocotronic hörte, damals, in diesem Jugendraum im evangelischen Gemeindezentrum eines südniedersächsischen Kleinstkaffs, war ich mittelmäßig verstört. Ein eingefleischter Surfpunk-Fan hatte die Band als neuen Renner verkaufen wollen, aber die abgehackten, ein wenig dadaistisch anmutenden Textfragmente verwirrten mich eher denn das sie mich hätten begeistern können. Heute mag ich die alten Tocotronic-Sachen, die Texte sind zwar nicht „echt evil“ (was mir damals ziemlich wichtig war), aber immerhin ordentlich abgefahren – worauf mensch sich subkulturell in Göttingen manchmal echt was einbilden kann.

Jetzt gibt es aber nicht nur die alten Sachen von Tocotronic, sondern auch die ganz Neuen. Sogar die ganz, ganz Neuen, etwa auf „Kapitulation“, dem jüngst erschienen Album der Band. Die klingen musikalisch in weiten Teilen mehr nach Tomte denn nach dem alten, vorwärtstreibenden Dagegensein-Rock aus meiner Jugendzentrumszeit. Dagegen ist die Band noch immer, irgendwie dadaistisch ist sie auch. Und da ich mittlerweile auch Tomte schätzen gelernt habe, kann ich mich auf den Weg machen, das Geheimnis dieser Platte zu umkreisen.

Ich weiß nicht ob ich es al Lob nehmen soll, wenn von mir sehr geschätzte Jungjournalistinnen verkünden, es wäre ohnehin egal was ich schriebe – am Ende würde ohnehin wieder ein politisches Statement bei rauskommen. Insofern teile ich an einer für mich nicht unwesentlichen Stelle die Einschätzung meines Co-Rezensenten nicht, wenn er frohlockt: „Die Kapitulation der Band kommt ohne den Hauch des Protestes aus, dass ist fantastisch.“ Denn wenn Tocotronic nicht nur sich selber, sondern – wo sie schon mal dabeisind – auch gleich den Rest der Welt kapitulieren lassen, dann bleibt nicht viel übrig: bei Vögeln, Füchsen und Wölfen angefangen müssen auch die kapitulieren, „die die Liebe finden“, „die disziplinieren“, „die uns kontrollieren“. Und so bleibt am Ende der Ausruf: „Lasst uns an alle appellieren/wir müssen kapitulieren“.

Und da sage nun noch einer, da läge kein Protest drin! Natürlich, in den Kategorien verstaubter Klassenkampf- und Militanzästhetik ist das eher ein harmloses Husten. Aber das ist die Sache von Tocotronic nicht. Sie reflektieren vielmehr – ob nun bewußt oder nicht – wesentliche neue Stränge der kritischen Theoriebildung. Denn Herrschaft, das wissen wir spätestens seit wir Postmoderne haben und jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Old-School-Revoluzzer Marx unter dem Label Wertkritik firmiert, geht nicht einfach von Oben nach Unten. Ganz im Gegenteil gehen die gesellschaftlichen Verhältnisse immer auch durch uns durch. Darum ist die Kapitulation von all denen, die hier dazu aufgefordert werden, letztlich auch die Kapitulation des Systems – was auch immer das System jetzt genau sein soll.

Ich weiß nicht, was Tocotronic mit ihrer Platte wollten. Und es ist vermutlich auch müßig, sich ernsthaft in Hirn und Seele von MusikerInnen hineinzuversetzen. Aber glücklicherweise gibt es ja einen Unterschied zwischen dem, was Absender und Empfänger mit einer Nachricht verbinden. Und so kann ich dann auch gutgelaunt weiterassoziieren: Wenn Dirk von Lowtzow etwa singt „Aus meiner Festung/seh ich nach draussen/wieder daheim doch nicht zu hause“, dann muss ich an Adorno denken. Der wusste auch schon, das der Mensch im Kapitalismus nicht bei sich selber zu Hause ist. Weshalb er auch die spleenige Angewohnheit hatte, das reflexive „sich“ möglichst weit von seinem Zentrum entfernt zu patzieren.

Deutlich wird der politische Impuls des neuen Toco-Albums auch in „Wir sind viele“, was ja zunächst mal nach Masse und Macht klingt. So einfach machen es sich Tocotronic dann aber doch nicht: „Wir sind viele/jeder Einzelne von uns“, singt Dirk von Lowtzow, und trifft auch hier den linken Zeitgeist: dass das Individuum in der Gemeinschaft zum Verschwinden neigt, befreites Miteinander nur dann denkbar ist, wenn die Einzelnen auch immer sie selber bleiben, wird hier reflektiert: Jeder einzelne ist „viele“, ist widersprüchlich in sich selbst, nicht mit sich im reinen – und gerade dadurch steckt in jedem und jeder von uns die Möglichkeit, mehr zu sein als ein unbedeutendes Etwas. Darum kann der Kapitalismus, der ja immerhin eine orthographische Nähe zur Kapitulation hat, noch so sehr auf die Einzelnen einwirken, sie bleiben doch „Unkraut das nicht vergeht“.

Zumindest potentiell. Den derzeitigen Zustand beschreiben Tocotronic mit eher düsteren Worten: „wir sind die Welt die dumpf entsteht/der Wind der sich beständig dreht/das Lied das sich von selber singt/weil wir vergessen dass wir Menschen sind“. Viele Menschen schon haben versucht in einfachen Worten darzulegen, was Marx in seinem ominösen Fetischkapitel geschrieben hat. Tocotronic machen gleich ein Lied daraus: die Menschen machen zwar die Gesellschaft, aber nicht bewußt. „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“ heißt das bei Marx. „Wir sind die Welt die dumpf entsteht“ heißt das bei Tocotronic. „Wir“, weil es die Menschen sind, die das machen. „Dumpf“, weil sie kein Bewußtsein davon haben, was sie tun. Und entsprechend haben sie auch keinen Einfluß darauf und Überblick darüber, was mit dem passiert, was sie da tun. Sie merken dann nur, das sich irgendwas verändert, was sie aber als scheinbares Naturphänomen verklären: „der Wind der sich beständig dreht“. Denn weil die Menschen auf dem Markt die von ihnen geschaffenen Dinge aufeinander beziehen, existiert Gesellschaft – so paradox das sein mag – am Ende nur als „gesellschaftliches Verhältnis von Sachen“ (Marx). Die Menschen müssen sich anpassen an die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die sie doch selber gemacht haben. Kapitalismus wird „das Lied das sich von selber singt“ Und das alles nur, weil die Menschen nicht mehr wahrnehmen, dass alles das von ihnen selbst geschaffen wurde. „Weil wir vergessen dass wir Menschen sind“

Nun würde ich nicht so vermessen sein, die Scheibe auf rein gesellschaftskritische Reflexion einzuengen. Auch wenn „Harmonie ist eine Strategie“ durchauch etwas von Kritik an der einlullenden Wohlfühlscheiße der spätbürgerlichen Kulturindustrie hat, so geht es doch mindestens genauso um individuellen Bewältigungsstrategien innerhalb von Zuständen, die sich individuell gar nicht bewältigen lassen und last but not least auch darum, wie wir uns manchmal fühlen, wenn wir zu viel Tomte-Alben gehört haben.

Und so pendelt das Album angenehm zwischen Herzschmerz und Momenten, in denen die Rezensentin gerne politische Reflexion lesen möchte. Vielleicht sind sie subversiv genug, um aufzufallen. Ich fürchte allerdings nicht. Lohnen tut sich die Scheibe trotzdem. Auch für Leute, die mit Marx und Adorno nichts anfangen können. Oder gerade für die. Was dazu führen könnte, das sich das Album zum Bestseller entwickelt. Jetzt wissen wir wenigstens warum…

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Ein Kommentar auf "Tocotronic’s Kapitulation hoch Zwei!"

  1. fabbal sagt:

    na jetzt leih ich mirs doch mal vom mitbewohner und hör rein…
    ich fürchte es ist immer noch nicht meine musik 😉

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