Anschläge in Göttingen geplant?

Neonazis vor unserer Haustür
von am 16. April 2013 veröffentlicht in Hintergrund, Neonazis, Titelstory

Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt: Waren die Nazis auch in Göttingen unterwegs? Foto: quapan (CC BY 2.0).

Die Nazi-Terroristin Beate Zschäpe steht bald in München vor Gericht, angeklagt unter anderem wegen Mordes. Im April 2006 haben sie oder ihre Kumpanen wahrscheinlich Anschlagsziele in Göttingen ausgekundschaftet – kurz bevor in Kassel das NSU-Opfer Halit Yozgat starb. Neonazis sind uns näher, als uns lieb sein kann. Wir haben dokumentiert, wo sie in der Region in den vergangenen Jahren aufgetreten sind.

Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt spazieren durch Göttingen und überlegen, wo sie zuschlagen könnten. Eine gruselige Vorstellung, die sich 2006 aber tatsächlich so zugetragen haben könnte. Das Stadtradio deckte im vergangenen Dezember auf, dass Ermittler*innen einen Göttinger Stadtplan und eine Liste mit hiesigen Adressen in einem von den Nazi-Terroristen genutzten Haus gefunden haben (siehe Kasten). Die Liste ist auf den 3. April 2006 datiert. Drei Tage später wurde der Internetcafébetreiber Halit Yozgat in Kassel vom NSU ermordet. Auf der Liste waren unter anderem die Büros von Göttinger CDU-Abgeordneten, der DKP, die Beratungsstelle für Flüchtlinge des Landkreises und der Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur verzeichnet. Die Türkisch Islamische Gemeinde zu Göttingen e.V., 2006 noch als Türkisch Islamischer Kulturverein Diyanet im Maschmühlenweg ansässig, stand auch im Visier des NSU.

Stadtpläne und Adresslisten

Als das Terrortrio des NSU am 4. November 2011 aufflog, wurden kurz darauf in dem gemeinsamen Haus des NSU in Zwickau Adresslisten und Stadtpläne sichergestellt, mit Zielen aus dem gesamten Bundesgebiet. Aus diesen Beständen übermittelte das Bundeskriminalamt noch im selben Monat 584 Datensätze, mit allen NSU-Adresslisten, die Niedersachsen betreffen, zur Überprüfung an das niedersächsische Landeskriminalamt. Das LKA hat daraufhin die örtlichen Polizeidirektionen damit beauftragt, die betroffenen Personen und Institutionen zu informieren und zu dem Zwickauer Terrortrio zu befragen. Die Ermittlungsergebnisse wurden dann wiederum an das LKA zurück gereicht. Die Schlussfolgerung des Landeskriminalamts: „Sachdienliche Ermittlungshinweise auf konkrete begangene oder geplante Straftaten des NSU haben sich dabei nicht ergeben“, wie es in einer Pressemitteilung heißt.

In insgesamt 19 Fällen wurden betroffene Personen und Institutionen von der Polizeidirektion Göttingen befragt und informiert. Dabei ging es vor allem auch um Ermittlungshinweise, wie einem Schreiben des Landeskriminalamts an die niedersächsischen Polizeidirektionen zu entnehmen ist: „Wir bitten Sie, Ihre dort aufgeführten Institutionen entsprechend zu sensibilisieren und ggfs. bekannt gewordene auffällige Sachverhalte, die in dieser Angelegenheit von Bedeutung sein könnten, an das Landeskriminalamt Niedersachsen mitzuteilen.“ Aus dem Behördendeutsch übersetzt heißt das: Die Betroffenen wurden befragt, ob ihnen irgendetwas aufgefallen sei. Und sie wurden über ihr Auftauchen auf der Adressliste informiert – persönlich oder über ihre Verbände.

Wenn sich Namen und Adressen ändern…

Es gibt allerdings zwei Ausnahmen: Ausgerechnet bei den beiden Vereinen, die immer wieder einer Bedrohung von rechts ausgesetzt sind, nämlich der Türkisch Islamische Kulturverein Diyanet und der Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur, konnte die Göttinger Polizei die Vorstände nicht auf Anhieb persönlich erreichen.

Die Erklärung erscheint relativ simpel: Der Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur als auch der Türkisch-Islamische Kulturverein Diyanet waren in der Zwischenzeit umgezogen. Die vom LKA übermittelten Datensätze enthielten Telefonnummern und Adressen der Betroffenen aus dem Jahr 2006. „Den Verein Diyanet konnten wir unter diesem Namen und der alten Adresse nicht mehr erreichen, er existierte nicht mehr,“ erklärt Hilke Vollmer, Pressesprecherin der Polizeidirektion Göttingen. Der Türkisch-Islamische Kulturverein Diyanet war im November 2011 längst im Verein DITIB Türkisch-Islamische Gemeinde zu Göttingen e.V. aufgegangen, seit 2007 Trägerverein der Moschee im Königsstieg. Nach ein paar Wochen ist der Polizei dieser Zusammenhang dann doch noch aufgefallen und der Vorstand des Vereins wurde telefonisch informiert, dass er persönlich als auch seine Gemeinde auf einer Liste des Zwickauer Terrortrios stehen würden.

Einen Terroranschlag auf die Moschee hat es zum Glück noch nicht gegeben. Aber im Jahr 2012 wurde die türkische Gemeinde gleich mehrfach von rechts bedroht: Ob nun durch eine einfache Hakenkreuz-Schmiererei auf der Eingangstür, einen NPD-Aufkleber oder die Hetzschrift der rassistischen, islam- und judenfeindlichen Verschwörungstheoretiker aus dem „Reichsbürger“-Umfeld, die Mitte 2012 bei Moscheen und Synagogen im gesamten Bundesgebiet ins Haus flatterte.

Kein Anschluss unter dieser Nummer? Antifa-Verein erst Ende 2012 informiert

Als es darum ging, den Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur über die NSU-Liste zu informieren, haperte es bei der Polizei sehr mit der Kommunikation. Frank Federau, Pressesprecher des niedersächsischen Landeskriminalamts, erklärt hierzu: „Der Verein zur Förderung Antifaschistischer Kultur e.V. wurde mehrfach erfolglos aufgesucht. Es wurde keine Person angetroffen. Es wurde jedoch auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, auf welche der Verein jedoch nicht reagierte.“

Erst nachdem das StadtRadio Ende 2012 über die NSU-Liste berichtet hatte – ein Jahr später – wurde der Verein informiert. In einer Mitteilung des Vereinspressesprechers Johannes Roth heißt es: Am 20. Dezember „hat die Polizeiinspektion Göttingen den Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V. durch eine e-Mail an die Adresse des Vereins sowie durch einen persönlichen Besuch zweier Beamter bei der Privatadresse des Vorstandes kontaktiert.“ Das Verhalten der Polizei wird von Roth kritisiert: Der Anrufbeantworter sei im November 2011 zwar nicht angeschlossen, die Bürogemeinschaft des Vereins aber von zwei hauptamtlichen Mitarbeitern tagsüber besetzt gewesen. Eine E-Mail hätten die Beamten schon damals an den Verein schicken können.

Roth kann nicht nachvollziehen, wieso die Göttinger Polizei den Verein nicht schon damals informiert habe: „Die Darstellung der Polizei, sie hätte uns im November 2011 zwecks Information nicht erreichen können, wird hier dadurch konterkariert, dass sie es über verschiedene Kanäle jetzt innerhalb eines Tags nach der Presseberichterstattung geschafft hat, uns zu erreichen“, heißt es in der Pressemitteilung. Der Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur werde immer wieder durch rechte Straftaten bedroht. Daher wären die Verantwortlichen im November 2011 sehr daran interessiert gewesen, über das Auftauchen auf der NSU-Liste informiert zu werden. Es liege in der „Verantwortung der Polizei, Gefährdete von Nazigewalt zu informieren,“ so Roth weiter.

Nazis um die Ecke

In den vergangenen sechs Jahren sind Neonazis dutzendfach in der Stadt Göttingen und der Umgebung aufgetreten. Mit Kundgebungen, Grabschändungen und sogar Übergriffen haben sie ihrer Menschenverachtung Ausdruck verliehen. Wir haben in einer interaktiven Grafik aufgearbeitet, wann sie wo zugeschlagen haben: #nazidoku

Fortsetzung folgt? Mögliche Kontakte des NSU nach Südniedersachsen

Inzwischen ist das Verfahren gegen Beate Zschäpe bei der Staatsanwaltschaft München eröffnet. Die Bundesanwaltschaft gibt keine Auskunft mehr zu Ermittlungsdetails, um das laufende Verfahren nicht zu gefährden. Sobald in der Presseberichterstattung auch nur angedeutet wird, dass es eine Terrorgefahr gegeben haben könnte, wie etwa in einem Artikel der Neuen Presse aus Hannover, weisen die Behörden immer wieder auf das Ermittlungsergebnis von November 2011 hin: Nämlich, dass es für vergangene und zukünftige Straftaten des NSU, außer der bekannten Mordserie, keine Anhaltspunkte gäbe.

Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind tot, Beate Zschäpe steht vor Gericht. Inwiefern die bundesweiten Adresslisten des NSU eine konkrete Anschlagsgefahr bedeuten oder bedeutet haben, muss das Gerichtsverfahren jetzt aufklären. Angesichts der breiten Unterstützer*innen-Szene von rechts für das NSU-Terrortrio scheint inzwischen eher die Formulierung NSU-Terrornetzwerk angebracht. Dazu könnte auch die ehemalige Northeimer Neonazi-Größe Thorsten Heise zählen, der angeblich eine Flucht des NSU-Kerntrios ins Ausland hätte organisieren sollen. Über die „Kameradschaft Dreiländereck“ (Niedersachsen, Hessen und Thüringen) pflegt Heise noch regelmäßige Kontakte nach Northeim und Umgebung, mögliche Verbindungen des NSU nach Südniedersachsen lassen sich daher nicht ausschließen. Genauso wenig wie eine neue Generation von Rechtsterrorist*innen, die in die Fußstapfen des NSU treten könnte.

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