Streit um Polizeieinsatz im neuen Weg

Vollzugshilfe oder Gewaltexzess?
von am 18. April 2014 veröffentlicht in Migration, Polizei & Justiz, Soziale Bewegungen, Titelstory
Die Haustür aus der Perspektive der AktivistInnen. Links die Treppe zum Sous-Terrain. Foto: M. Schlorke
Die Haustür aus der Perspektive der AktivistInnen. Links die Treppe zum Sous-Terrain. Foto: M. Schlorke

Nach der versuchten Abschiebung eines 29-Jährigen nach Italien steht die Polizei in der Kritik. Neben Rücktrittsforderungen an den Göttinger Polizeipräsidenten zeichnet sich jedoch auch Klärungsbedarf ab: Im Landtag soll ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden – doch was sind die Streitfragen? Der Versuch einer Rekonstruktion.

Bei der versuchten Abschiebung am letzten Donnerstag wurden mehrere AktivistInnen und PolizistInnen verletzt. Die Polizei hatte bei der Abschiebung eines 29-Jährigen Somaliers nach Italien Vollzugshilfe geleistet. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen AktivistInnen und Polizeikräften, die Aktion wurde letzendlich abgebrochen. Jetzt kommt Kritik am Einsatz der Polizei auf: Das Bündnis „Extrem Daneben“ spricht von einem „Gewaltexzess“ der Polizei. Auch der Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl der Grünen, Siegfried Lieske, sieht das Verhalten der Polizei kritisch: „Besonnenheit sieht anders aus“, meint dabei jedoch auch die AktivistInnen.

Klar ist hingegen, dass der Einsatz ein Nachspiel haben wird. Dem Göttinger Tageblatt zufolge plädieren sowohl die niedersächsische CDU als auch die Grünen für die Einrichtung eines Untersuchungsausschuss. Dieser soll den Grünen zufolge „umfassend und minutiös“ klären, was sich bei der Abschiebung abgespielt hat. Dass es tatsächlich Widersprüche zwischen der Darstellung der Polizei, anwesenden ZeugInnen und der städtischen Ausländerbehörde gibt, ist jedoch offensichtlich.

Brutalität abseits der Kameras

Bereits am Donnerstag zeichnete sich eine unterschiedliche Darstellung des Einsatzes ab: Die Göttinger Polizei spricht davon, dass die GegnerInnen der Abschiebung einer polizeilichen Verfügung nicht Folge geleistet hätten. Der Polizei zufolge haben die AktivistInnen daraufhin mehrere Beamte nach Betreten des Gebäudes unmittelbar attackiert. Diese Darstellung deckt sich nicht mit der Wahrnehmung des anwesenden Monsters-Reporters.

Tatsächlich betraten die Beamten der BFE das Gebäude durch ein Kinderzimmer im Sous-Terrain. Zu dem Zeitpunkt waren die AktivistInnen damit beschäftigt, die Haustür zu blockieren, gegen die mehrere Beamte der BFE drückten. Von der Kellertreppe kommend tauchte der Trupp der Polizei dementsprechend im Rücken der AktivistInnen auf. Dabei wurde er von zwei Personen entdeckt. Jedoch kam es zu keinem unmittelbaren Angriff der AktivistInnen – viel mehr sprangen diese zurück in die Gruppe. Stattdessen rückten die Beamten sofort von hinten an die untergehakten AktivistInnen heran und versuchten, die diese aus der Gruppe zu lösen. Dabei wurde diesen keine Reaktionszeit gegeben, auch eine weitere Warnung unterblieb.

Bei dem anschließenden Tumult wurden mehrere Menschen durch Faustschläge, Pfeffersprayeinsatz und andere Zwangsmaßnahmen verletzt, dass Bündnis „Extrem Daneben“ spricht von gezielten Faustschlägen und Tritten in den Unterleib. Betroffene berichteten, sie seien im Flur des Kellers nochmal „extra bearbeitet“ worden. Die Polizei spricht hingegen von „Widerstandshandlungen“, die die körperliche Gewalt der Polizeikräfte zur Folge gehabt haben. Video oder Fotoaufnahmen des Einsatzes im Treppenhaus existieren nicht. Eine Anfrage zum detaillierten Hergang der Geschehnisse im Treppenhaus will die Polizei mit Verweis auf „eingeleitete Strafverfahren“ nicht beantworten.

Umstrittener Hundeeinsatz

Auch ein anderer Aspekt des Einsatzes ist umstritten. Die aus der Blockade gelösten AktivistInnen wurden durch das im Sous-Terrain gelegene Kinderzimmer in den Hinterhof gebracht. Auf Videoaufnahmen sieht man dem Blog „Spannungston“ zufolge, wie sich dort um Verletzte gekümmert wurde. Bis auf einige heftige Beleidigungen sei die Situation dort friedlich gewesen. Erst nachdem ein Aktivist von einem der anwesenden Polizeihunde gebissen wurde, hätten Aktivisten Polizeikräfte bedroht und angegangen. Die Polizei spricht hingegen davon, dass etwa 25 Personen die Hundeführer bedrängt hätten, im Rahmen der Abwehr sei es dann zu zwei Hundebissen gekommen.

Spannungston zufolge lässt sich diese Darstellung nicht halten: Auf Video ist dokumentiert, wie der gebissene Aktivist allein vor einem Fenster stand und in die Wohnung blickte. Dabei beobachtete der er dem Anschein nach den Abtransport weiterer BlockiererInnen. Nach mehrfacher Aufforderung dies zu unterlassen ist dem Blog zufolge der Hundeführer auf den Aktivisten zugegangen, dabei kam es zum ersten Hundebiss. Erst anschließend kam es zum Tumult, bei dem zwei weitere DemonstrantInnen gebissen wurden.

Abbruch der Abschiebung

Bei der Begründung des letztlichen Abbruchs der Rückführung gibt es Widersprüche zwischen der Darstellung der Polizei und der Göttinger Ausländerbehörde. Die Polizei spricht davon, dass „seitens der Mitarbeiter der Stadt Göttingen nicht lokalisiert werden konnte, in welcher Wohneinheit sich die gesuchte Person befand“.

Dem widerspricht Detlef Johannson von der Pressestelle der Stadt Göttingen: „Natürlich kannte die Ausländerbehörde die Wohnung“, viel mehr wurde die Rückführung, wie die Stadt die Aktion nennt, abgebrochen, denn „Eine Räumung auch der Wohnung hätte aus unserer [Anm. der Stadt Göttingen] Sicht eine weitere Eskalation der Situation bedeutet“. Woher die Polizei ihre Begründung nimmt, wollte sie auf Anfrage von Monsters nicht mitteilen.

Zweifelhafte Vollzugshilfe

Auch anderweitig wirft die sogenannte Vollzugshilfe durch die Polizei Fragen auf: Die Beweissicherungs und Festnahme Einheit (BFE) war am Morgen des Geschehens sehr schnell vor Ort. AktivistInnen berichten weitergehend, dass mehrere Streifenwagen und Zivilfahrzeuge die AktivistInnen bereits lange vor Beginn der Abschiebung entdeckt hätten. Ein anwesender Monsters-Reporter kann die Präsenz von mindestens 3 Streifenwagen und einem Zivilfahrzeug bestätigen.

Detlef Johannson äusserte auf Anfrage hingegen, dass die Mitarbeiter der Ausländerbehörde nicht wussten, was sie am Einsatzort erwartet. Erst dort sei „die Situation relativ schnell klar gewesen“. Wann und ob die Polizei die MitarbeiterInnen der Ausländerbehörde vor der Aktion gewarnt habe, wollte die Polizei Göttingen ebenfalls nicht beantworten.

Ob und wie weit der Einsatz der BFE und der Hundestaffel mit der Ausländerbehörde abgesprochen war, ist unklar. Der Stadt zufolge entscheide die Polizei selbst in eigener Zuständigkeit, „Mit welchen und mit wie vielen Mitarbeitern“ sie vor Ort ist. Die Frage, ob der Einsatz der BFE und der Hundestaffel mit den MitarbeiterInnen der Ausländerbehörde abgesprochen war, beantwortete die Polizei nicht. Dabei war es nicht zuletzt der Einsatz der Hundestaffel, der die AnwohnerInnen, die teilweise ebenfalls Flüchtlinge aus Krisengebieten sind, schockiert hat.

Wer trägt die Verantwortung?

Wer den Einsatz und die Gewalt bei der Abschiebung zu verantworten hat, ist dementsprechend strittig. Die Fraktion der Grünen im Stadtrat sieht insbesondere die BFE in der Verantwortung: „Bei Polizeieinsätzen muss die Angemessenheit der Mittel gewahrt und unnötige Gewalt vermieden werden“, die BFE scheine „sich diesem Grundsatz nicht verpflichtet zu fühlen“. Dementsprechend fordern die Grünen die Auflösung der Göttinger BFE.

Das Bündnis „Extrem Daneben“ geht noch weiter: In einer Pressemitteilung heisst es, dass Polizeipräsident Robert Kruse für den Einsatz verantwortlich sei. Mit einem Abbruch des Einsatzes nach Bekanntwerden der Proteste „hätte eine weitere Eskalation verhindert werden
können“. Kruse sei als „harter Hund“ bekannt und hätte seine „Schlägertruppe“ geschickt, um „die Abschiebung durchzuprügeln“. Dem Bündnis gehören die Jusos der Stadt Göttingen, die Grüne Jugend, die Gruppe Subway und der „Verband der Studierenden aus Kurdistan“ an.

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