Überleben auf Festivals

Lesestoff für die Festivalsaison
von am 13. Mai 2012 veröffentlicht in gelesen, Titelstory

Wer schon auf mehr als zwei Rock-Festivals wie dem berühmten Rock am Ring oder dem Hurricane Festival war, kennt bestimmt folgendes Phänomen: Bei aller Buntheit und dem vorprogrammierten Chaos zum Trotz gibt es stets eine immer gleiche Reihe von Sozialcharakteren zu entdecken, die einfach überall anzutreffen sind. Von den üblichen Bräuchen wie dem allseits unbeliebten Helga-Gerufe mal ganz abgesehen.

Das ist auch Oliver Uschmann aufgefallen, der mit dem vorliegenden Buch eine Art Wegweiser durch das dreitägige soziokulturelle Experiment Rockfestival abgeliefert hat. In fünf Großabschnitten behandelt er alle wesentlichen Punkte, über die man als Newbie informiert sein sollte: Gäste, Musiker_innen, Bräuche, Ernährung, Wohnformen und Sicherheitspersonal. Dabei entwickelt er wo notwendig eine eigene Nomenklatur, um der schieren Menge an Exemplaren unterschiedlicher Festivalgänger_innen Herr zu werden, und schreckt auch vor der umwertenden Neubennennung hinlänglich bekannter Aktivitäten nicht zurück. Stichwort: „One Night Stand mit dem eigenen Partner“.

Nachdem die Bevölkerung des Geländes schon im ersten Abschnitt erschöpfend dargestellt ist, hat man, auch ohne je selbst mit ihr hinter dem Zaun gewesen zu sein, einen brauchbaren Eindruck davon, was so eine Großveranstaltung alles an Erlebnissen bereit hält. Und worum es hinter der Fassade geht: Selbstdarstellung und Selbstfindung, die Dialektik von Exzess und Erholung, und natürlich um tollen Sex, den man dort gern hätte. In dieser Nahbetrachtung spiegelt sich dann wunderbar das große Ganze, das Rockfestival als gigantischer Idiotenmagnet, dessen Reiz eben nur zur Hälfte mit Musik zu tun hat.

Dabei legt Uschmann, seineszeichens Musikjournalist, bei seiner „Expedition ins Rockreich“ eine Expertise an den Tag, die über das übliche Maß hinausgeht. So weiß er nicht nur über sein eigenes Metier bestens bescheid („Würde man das Verhältnis der Geschlechter dort auf die gesamte Gesellschaft übertragen, wäre das Land eine einzige Wüste, in der behaarte Kameraden in Jeeps mit aufgeschraubten Maschinengewehren herumfahren.“), sondern auch über medizinische Fachthemen wie die „antifaschistische Proteinumwandlungsschwäche“, die in Göttingen und Giessen besonders verbreitet sein soll. Mit satirischem, quasi-ethnografischem Blick nimmt er den Zeltplatz, die Crowd und ihre Gewohnheiten auseinander, ohne je die entscheidenden Querverweise zu vergessen. Damit auch klar wird, was passiert, wenn der Choleriker die Fertignudeln anrichtet, oder der Flirter den Weg der Lese-Lara kreuzt.

Oliver Uschmann legt mit „Überleben auf Festivals“ ein komisches Buch über den paradigmatischen Ort des (berufs-)jugendlichen Musikerlebens vor, das allen Interessierten, böse und augenzwinkernd zugleich, umfangreiches Survivalwissen vermittelt. Das Buch eignet sich von seiner Struktur her als kurzweiliges Nachschlagewerk, streckenweise verläuft sich die schonungslose Abbildung des Ausnahmesoziotops aber auf den verworrenen Wegen, auf denen die bildreich beschriebenen Karikaturen wandeln, und die Selbstreferenzialität der Kurzdarstellungen gerät beim kreuz und quer-Lesen zum Hindernis.

Oliver Uschmann
Überleben auf Festivals. Expeditionen ins Rockreich
Wilhelm Heyne Verlag München
ca. 350 Seiten
13,00 €

Am 15.5. liest Uschmann aus seinem Buch im Apex. Beginn der Veranstaltung ist um 20:15 Uhr.

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