Zahlen sinken, aber alles wird schlimmer

Verfassungsschutzbericht 2010
von am 12. April 2011 veröffentlicht in featured, Hintergrund, Polizei & Justiz

Jedes Frühjahr legt der niedersächsische Verfassungsschutz – schon weil er gesetzlich dazu verpflichtet ist – seinen Verfassungsschutzbericht für das Vorjahr vor. Natürlich wird darin regelmäßig die eigene erfolgreiche Arbeit vorgestellt und andererseits versucht, so gut es geht ein Bedrohungspotential darzustellen, das dem Geheimdienst seine Berechtigung geben soll.

Der Verfassungsschutz verwendet den zu Recht kritisierten Begriff des „Extremismus“. In diesem Artikel zum Bericht wird dieser Begriff in zitierender Weise verwendet – auf die Probleme, die er aufwirft, soll aber hingewiesen werden.

Jetzt hat Innenminister Schünemann den Bericht für das Jahr 2010 vorgestellt. Der Bericht beginnt regelmäßig mit einigen Anmerkungen zu Neuigkeiten aus dem Verfassungsschutz selbst. Fans dieser Publikation werden erfreut zur Kenntnis nehmen, dass die „Andi-Comics“ – „an die niedersächsischen Verhältnisse angepasst“ – nun auch beim niedersächsischen Verfassungsschutz bezogen werden kann. Neugierig macht auch ein neues „Planspiel Demokratie und Extremismus“, das für Schüler ab der 10. Klasse, bisher in Tostedt und Hameln, veranstaltet wird. Neu eingerichtet ist eine Projektgruppe „Antiradikalisierung“: Sie richtet sich gegen den „homegrown terrorism“, worunter der Verfassungsschutz die „Radikalisierung junger Muslime“ versteht.

Hatte der Bericht früher noch kategorisch festgestellt, alle aufgeführten Initiativen und Personen seien extremistisch, so ist es jetzt schwammiger geworden: Erfasst seien diejenigen, „bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte eine Bewertung als extremistisch rechtfertigen“.

Das Kapitel „Ausländerextremismus“ heißt jetzt „Ausländerextremismus und -terrorismus“. Der Name ist wie immer irreführend, gleich im folgenden Text wird klargestellt, dass damit lediglich ein Bezug der erfassten „Bestrebungen“ zum Ausland gemeint ist, nicht der ausländerrechtliche Status von betroffenen Personen. Tamilische Bewegungen außen vor widmet sich das Kapitel aber eigentlich nur dem Islamismus. Hier bekam der Salafismus, der vorher seinen Platz im Fließtext hatte, ein eigenes Unterkapitel und wurde mit Informationen ausgebaut.

Die Bedrohung, so der Verfassungsschutz, gehe wesentlich von „selbstradikalisierten Einzeltätern“ aus. In diesem Zusammenhang wird auf den Anschlag auf US-Streitkräfte in Frankfurt/Main Anfang März 2011 verwiesen. Dort hätten „im Internet-Netzwerk Facebook“ zum „Freundeskreis“ des Täters auch Akteure aus der deutschen salafistischen Extremistenszene gezählt. Der Verfassungsschutz verweist auf Hinweise ausländischer Behörden zu Anschlagsvorbereitungen, die zu erheblichen Maßnahmen des Verfassungsschutzes geführt hätten.

Im Kapitel über den Rechtsextremismus wird vom weiteren personeller Niedergang von NPD- und JN-Strukturen und einem Rückgang von klassischer Organisationsstrukturen wie Kameradschaften gesprochen. Stattdessen gebe es mehr informelle Vernetzung. „Chat-Rooms und Foren im Internet“ seien dabei neues Aktionsfeld – obwohl auch schon im Vorjahr genannt. Sorgen macht dabei dem Verfassungsschutz, dass der Betrieb zumeist aus dem Ausland erfolge.

Hervorgehoben werden Demonstrationen in Hildesheim und Bad Nenndorf, die einen „hohem Stellenwert in der Szene“ hätten. Nach Prognose des Verfassungsschutzes wird das Aufgehen der DVU in der NPD keine wirklichen Konsequenzen haben. Neu ist ein Gedankenspiel: Einer möglichen neuen Partei mit islamfeindlichen Programm wird dabei europäisches Vernetzungspotential attestiert, das die NPD nicht habe.

Unter dem etwas euphemistischen Titel „Intellektualisierungsbemühungen im Rechtsextremismus“ ist nun auch der Arndt-Verlag mit der Monatszeitung „zuerst!“ genannt.

Das Kapitel zum Linksextremismus ist etwas diffus, was Personenzahlen angeht. Allgemein wird hier lediglich von „Potenzialen“ gesprochen. So heißt es in Fußnote 88: „In die Statistik sind nicht nur tatsächlich als Täter/Tatverdächtige festgestellte Personen einbezogen, sondern auch solche Linksextremisten, bei denen lediglich Anhaltspunkte für Gewaltbereitschaft gegeben sind. Erfasst sind nur Gruppen, die feste Strukturen aufweisen und über einen längeren Zeitraum aktiv waren. Das Mobilisierungspotenzial der ,Szene‘ umfasst zusätzlich mehrere tausend Personen.“ Auf dieser vagen Grundlage spricht der Bericht von einer leichten Zunahme dieser Potenziale.

Was linksextremistisch motivierte Straftaten angeht, so stellen die Schlapphüte eine „Reduzierung bestimmter Aktionsschwerpunkte“ fest, wie Brandanschlägen z.B. der „Militanten Zelle (Gruppe)“ in Göttingen.

Dem Brandanschlag im Ausländeramt am 22. Januar 2010 wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Er stelle „eine neue Qualität linksextremistischer Gewalt“ dar. Der Anschlag findet gleich an mehreren Stellen im Kapitel über den Linksextremismus Erwähnung, auch den anschließenden Protesten ist ein eigener Absatz gewidmet, der – vermutlich reiner Zufall – ebenso wie unser Artikel damals auch eine Parole zitiert. Um die These, dass die „Hemmschwelle innerhalb des linksextremistischen Spektrums gegenüber gewalttätigen Aktionen weiter schwindet“ weiter zu untermauern, werden Brandanschläge auf einen im Bau befindlichen Maststall in Sprötze und der im Rahmen der Proteste zum Sommerbiwak der 1. Panzerdivision in Hannover zerstörte „Rosenpavillon“ aufgezählt.

Nicht zurückhalten kann sich der Verfassungsschutz auch beim Feiern von – nicht niedersächsischen – Erfolgen vor Gericht, was die Beobachtung der LINKEN angeht. Im Überschwang spricht hier der Verfassungsschutz gar von einer Bestätigung der Verfassungsfeindlichkeit der Partei durch das Bundesverwaltungsgericht, wo das Gericht doch lediglich von Anhaltspunkten spricht. Insgesamt besteht der Abschnitt über die LINKE im wesentlichen aus einer Verteidigung der Beobachtung der Partei. Neu ist ein Abschnitt zur Kommunismusdebatte in der LINKEN, der Gesine Lötzsch vorwirft, keine „erkennbare Kritik an den Verbrechen des Kommunismus“ in ihrem Bekenntnis zum Kommunismus als Fernziel zu formulieren. Neu eingefügt ist auch ein Abschnitt, der versucht, anti-parlamentaristische Motive in der Partei zu identifizieren. Patrick Humke (im Bericht noch „Humke-Focks“) darf sich weiterhin als „Bindeglied zwischen seiner Partei und der autonomen Szene in Niedersachsen“ bezeichnen lassen – zum Beleg wird hier die Anmeldung von Demonstrationen aufgeführt, an denen auch Autonome teilnahmen bzw. die dem „autonomen Göttinger Spektrum“ zuzurechnen seien. Der Landtagsabgeordnete Victor Perli ist mittlerweile nicht mehr erwähnt – im Vorjahr war er noch wegen eines Links auf seiner Homepage auf die Seite der „Jugend-Antifa Wolfenbüttel“ erwähnt worden.

An Göttinger Initiativen werden die A.L.I., die Redical [M], die Gruppe Gegenstrom und die Jugendantifa Göttingen in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt und zitiert.

Die Kampagne „Castor schottern!“ und die Castor-Proteste insgesamt finden sich auch in einem eigenen Abschnitt wieder. Die in der Berichterstattung manchmal zu findende Wertung, dass hier ein neues Aktionsfeld für den Linksextremismus entstünde, ist aber kaum gerechtfertigt: Auch dieser Abschnitt besteht außer den Informationen rund um „Castor schottern!“ im wesentlichen aus verbatim kopierten Textbausteinen aus dem Vorjahresbericht.

Das JuzI und der Theaterkeller in Göttingen können sich nach wie vor das vom Verfassungsschutz vergebene Etikett „linke Szeneobjekte“ anheften. Die Jubiläumstour von „Slime“ 2010 nimmt der Verfassungsschutz noch einmal zum Anlass, zum Extremismus-Beleg aus dem Titel „Bullenschweine“ zu zitieren. Und „Fire and Flames“ findet als Konzertveranstalter wie im Vorjahr Erwähnung, als Mitveranstalterin ist diesmal die A.L.I. genannt.

Der Bericht will außerdem (wie auch 2009) von einer Gruppe der „Assoziation Marxistischer StudentInnen“ an der Universität Göttingen wissen.

Ein eigenes Kapitel im Bericht hat immer noch Scientology, in dem die Absätze zwischen den Untertiteln ein wenig umverteilt und teilweise gekürzt worden sind. Im unfreiwillig etwas komisch anmutenden Kapitel „Spionageabwehr“ werden nun gleich im zweiten Satz die Verdächtigen beim Namen genannt: Russland und China, aber – neu in den Bericht aufgenommen – auch der Iran seien die „Hauptträger“ von Spionageaktivitäten. Im Kapitel „Geheim- und Wirtschaftsschutz“ hat sich im Vergleich zum Vorjahr kaum etwas getan.

Kommentar

Es ist nie ganz leicht, herauszufinden, was es neues im Verfassungsschutzbericht gibt. Denn ohnehin besteht er zu geschätzt mehr als drei Vierteln aus kopierten Texten des Vorjahresberichts. Um das nicht allzu offensichtlich zu machen, werden auch hier und da ein paar Absätze umsortiert. Dann noch schnell die aktuellen Zahlen aus den Datenbanken eingefügt, eine kurze Aufzählung von Schlagzeilen aus dem Vorjahr, eine kurze Opportunitätsprüfung im Innenministerium und schwupp-di-wupp, der Bericht ist fertig und sieht aus, als hätten die über zweihundert Beamten und mehrere Dutzend Angestellten des Verfassungsschutzes ein Jahr lang eifrig gearbeitet.

Woran sie gearbeitet haben, das wird vor allem aus unscheinbaren Zahlen deutlich, die sich im Bericht finden – und auf „Informationsvermittlung“ gerichtet sind. Klassische Geheimdienstarbeit findet scheinbar kaum mehr statt. Sie führte den Verfassungsschutz auch in ein reichlich komisches Dilemma, wie ein Abschnitt im Bericht zeigt: „Im Ergebnis konnten die Hinweise in der Mehrzahl weder verifiziert noch falsifiziert werden, wobei auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss, dass die behördlichen Maßnahmen Anschläge verhindert haben.“ Die Zeiten der aufsehenerregenden Aktionen sind ohnehin seit dem „Aktion Feuerzauber“ Geschichte.

Stattdessen zieht der Verfassungsschutz es scheinbar vor, ideologisch mitzumischen. So werden zahlreiche vom Verfassungsschutz durchgeführte Veranstaltungen erwähnt. Die Zeit der „richtigen“ geheimdienstlichen Arbeit neigt sich wohl langsam dem Ende zu. Seine neue Rolle scheint der Verfassungsschutz stattdessen nun als propagandistischer Arm der Sicherheitsbehörden zu finden. Und ob seine Arbeit nun Grundlage der Agenda des Innenministers ist oder doch eher umgekehrt, wird immer undeutlicher.

Der Bericht kann in der Presse-Vorabfassung beim Innenministerium heruntergeladen werden.

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