Kolumne

Geh doch rüber!
von am 18. Februar 2011 veröffentlicht in Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft, featured

Göttingen, ich wünschte ich könnte sagen wir hätten uns auseinander gelebt. Irgendwas muss man ja sagen, wenn man Schluss macht. Darüber nachgedacht habe ich seit dem letzten Jahr im Frühling. So konnte das mit uns beiden nicht weitergehen. Du lebst so in den Tag hinein und ich sollte Karriere machen oder wie auch immer die Zeit nach dem Studium genannt wird.

Dabei finde ich in den Tag hinein leben gar nicht so schlecht, also warum mich jetzt von dir trennen? Eigentlich waren wir ja immer ein solides Paar. Aber schaue ich zurück, sehe ich nicht nur eitel Sonnenschein. So richtig, richtig dicke waren wir dann doch nicht immer miteinander. Dafür treibst du dich manchmal einfach mit zu komischen Leuten rum. Immerhin warst du eine Nazihochburg – und zwar schon vor `33, lässt dich ständig mit Burschenschaftlern ein und triffst dich neuerdings auch noch mit diesen komischen Typen von der BFE. Und manchmal kommen hier Leute vorbei – da kann man sich echt an den Kopf fassen.

Erst neulich war so ein Typ vom SPIEGEL da. Der hat vielleicht komische Sachen erzählt. Irgendwie so: In jungen Jahren hatte er Probleme mit seiner Mutter, deshalb mag er keine Linken. Außerdem wären Linke ungeduldig und würden sich für Frauen mit großen Brüsten engagieren. Kein Spaß, das hat der gesagt! Er würde das absurd finden. Ich fand seine Geschichten absurd. Viele andere Leute waren meiner Meinung. Dann wurde viel rumgeschrieen. Erst ein paar Leute gegen den SPIEGEL-Autor. Aber die meisten Leute im Saal waren auf seiner Seite und schrieen zurück. Und dann gings hin und her. Irgendwer hat den SPIEGEL-Autor sogar als „Führer“ bezeichnet. Eigentlich wollte er ja aus seinem Buch vorlesen. Und wohl deshalb wurde es ihm auch zu bunt. Er hat den Anwesenden einfach gesagt, dass wer die Veranstaltung sehen möchte, sich doch mal melden könne. Das sollte wohl ein Zeichen setzen. Genosse Mitbewohner neben mir hatte die traurige Ironie erkannt: Nur wenige Momente nachdem der SPIEGEL-Autor als „Führer“ bezeichnet wurde, hoben alle den rechten Arm.

Zeitungen hast du ja auch, Göttingen. Und seit ich wieder in Ostdeutschland (das was du in den 70ern mit „rüber“ im Satz „Geh doch rüber!“ gemeint hast) wohne, bin ich ja einiges gewohnt, was die Medienlandschaft betrifft. Hier gibt es zum Beispiel den MDR und die MZ. Das steht für „Mitteldeutscher Rundfunk“ bzw. „Mitteldeutsche Zeitung“ – wohlgemerkt ist der Einzugsbereich dieser Medien Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Irritation hier: Wo liegt dann Ostdeutschland? Soviel zu meiner dicken Haut, aber deine Zeitungslandschaft – Göttingen – ist mal echt rechts. Erst letztens gab es da diesen Artikel in der HNA. Nein nicht DIESEN, sondern den anderen mit der Überschrift „Linksextreme Gewalt in Göttingen: Blinde Wut gegen Rechts“, welcher der Burschenschaft Hannovera ernsthaft ein Forum bot. Dieselbe Hannovera, die sich auch gerne mal Schlägernazis auf ihr Grundstück einlädt.

Den guten alten Mao hätte die Stimmung gegen links natürlich gefreut. „Wenn der Feind uns bekämpft ist das gut und nicht schlecht“ lautet der Spruch, den seit Eichingers Film auch deutsche Spießbürger zitieren können. Soll heißen: Wir können die Relevanz der linken Szene Göttingens jeden Morgen anhand der Presse indizieren. Wenn Burschis sich beschweren, dass Göttingen ein gefährliches Pflaster für sie sei, dann ist das gut und nicht schlecht.

Und da sind wir auch schon bei den positiven Entwicklungen, du alte Schlawinerin. Kaum will ich dir den Rücken kehren, lockst du mich mit einem linken Asta, wie die Schlange mit dem Apfel. „Komm schon Genosse Feindbild“, sagst du dann, „alle sind dabei: Genosse Lektor, Genosse Ex-Arbeitskollege, Genossin Frollein und Genosse Mitbewohner. Nur du fehlst.“ Sogar die Bullen hast du aus der Stadt jagen lassen. Also warum jetzt die Trennung? Das ist eine gute Frage. Besonders dann, wenn sich das eigene Leben plötzlich in der ehemaligen DDR abspielt und man jeden Morgen auf Weg dem zwischen Wohnung und Büro das Gefühl hat, eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit zu unternehmen. Ach Göttingen, ich weiß doch auch nicht, aber das muss jetzt sein. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.

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