Protokoll einer Ermittlung

Die Akte „Rote Straße“
von am 10. August 2010 veröffentlicht in Antirassistische Politik & Verfolgung, Politik, Polizei & Justiz

Die polizeilichen Ermittlungen im Zuge des Feuers in der Ausländerbehörde des Landkreises waren stets von öffentlicher Kritik begleitet. Aber erst jetzt wird das ganze Ausmaß ersichtlich: Haben die Spürhunde tatsächlich in die Rote Straße geführt? Darf die Polizei nach Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant suchen? Reicht ein „dunkler Teint“ zur zwangsweisen DNA-Entnahme? Eignen sich Fahrradkontrollen zur Tätersuche? Wir dokumentieren an dieser Stelle Auszüge aus den polizeilichen Ermittlungsakten. Alle Maßnahmen führten am Ende ins Leere: Das Verfahren wurde mittlerweile eingestellt.

Am 22. Januar kommt es in der Teeküche der Ausländerbehörde im Göttinger Kreishaus zu einer Explosion. Laut Pressemitteilungen wurde bei der Detonation ein Mitarbeiter der Verwaltung verletzt, er sei mit dem Verdacht auf ein Knalltrauma in ein Krankenhaus gekommen. In der Zeugenaussage des 25-jährigen ist nachzulesen, dass er zwar ins Uniklinikum gefahren wurde. Bei der Untersuchung wurde jedoch festgestellt, dass er keine Schäden davon getragen hat.

Schnell spricht die Polizei von einem Brandanschlag mit einer „szenetypischen Sprengvorrichtung“, der Verfassungsschutz bemüht sogar das Gespenst des „Terrorismus“, das vor der Tür stehe. Ein Gutachten des Landeskriminalamts sollte später feststellen, dass die Explosion mittels handelsüblichem Klebstoff, zum Beispiel ‚Uhu extra‘, herbeigeführt wurde. Die Explosion lasse sich durch das Lösungsmittel im Klebstoff erklären.

In der Nähe des Brandortes findet ein Mitarbeiter der Kreisverwaltung ein Stück Pappe, das von der Polizei als Indiz für einen politischen Hintergrund des Feuers gewertet wird. Lange Zeit ist nicht klar, worum es sich dabei genau handelt. Die Ermittlungsakte verrät es nun: ein ausgerissenes Pappstück, auf dem mit Kugelschreiber ein Abschiebestopp gefordert wird. Unterzeichnet ist das Pamphlet von der „antirassistischen offensive Frühling“.

Die Sache mit den Hunden

Am 27. Januar zieht die Polizei zwei so genannte „Man Trailer“ Hunde von einer privaten Hundetrainerin aus Nordrhein-Westfalen zu den Ermittlungen hinzu. Sie sollen Tatverdächtige finden.

Zu diesem Zweck wird den Hunden das Pappschild als Spurenträger unter die Nase gehalten. Das Landeskriminalamt wird später feststellen, dass die DNA von mindestens sieben Personen auf dem Schild zu finden war. Mehrere Personen hatten das Schild zwischenzeitlich in der Hand.

Die Hunde beginnen ihre Suche fünf Tage nach dem Feuer im zweiten Stock des Kreishauses. Eine Videoaufnahme der Suche des Hundes „Quincy“ zeigt, dass er mehr oder weniger im Zickzackkurs in Richtung Innenstadt läuft. Er wirkt aufgeregt und verspielt, uriniert an zahlreiche Ecken. An der Ecke Jüdenstraße / Rote Straße geht der Hund zunächst in Richtung Gänseliesel, dreht dann aber wieder um und legt sich mit einem Artgenossen an. Erst daraufhin gehen der Hund und die zwei ihn begleitenden Menschen die Rote Straße hinauf.

Vor dem später durchsuchten Haus in der Roten Straße verrichtet der Hund sein Geschäft an einem Baum auf dem Bürgersteig. Der Hund nähert sich nicht der Eingangstür, wo die Spur angeblich hinein führen soll. Erst in der Burgstraße springt das Tier seine Hundeführerin an und wird belohnt.

Die letzten Worte der Hundeführerin, die auf der Aufnahme zu hören sind, fallen wenige Sekunden später als Antwort auf eine unverständliche Frage. „Das kann man so genau nicht sagen“, sagt sie. Dann endet das Videoband.

Die Polizei interpretiert das Verhalten der Hunde als Erfolg. Es sei deutlichst signalisiert worden, dass die Spur in das Haus führe.

Die Fährtensuche ist damit allerdings noch nicht abgeschlossen. Wie eine GPS-Karte zeigt, führte einer der Hunde von der Roten Straße weiter über den Theaterplatz, den Nikolausberger Weg, den Kreuzbergring, den Düstere Eichen Weg bis in die Herzberger Landstraße.

Einer der beiden Hunde treibt sich neben der Innenstadt auch im Westen der Stadt herum, wie die GPS-Karte zeigt. Die Hündin geht demnach in die Groner Landstraße, die Jehringstraße, die Königsallee und die Godehardstraße. Hier sucht das Tier offensichtlich auch den Lehrer*innenparkplatz der Berufsbildenden Schulen 2 auf.

Die Hausdurchsuchung

Mit dem Ergebnis der Spurensuche ersucht die Polizei bei der Göttinger Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss. Die Rote Straße 1, ein von Linken bewohntes Haus, soll durchsucht werden, um die angebliche Spur weiter zu verfolgen. Um 14:30 ruft Oberstaatsanwalt Hans-Hugo Heimgärtner das Amtsgericht an und beantragt, eine Durchsuchung vornehmen zu dürfen. Das Amtsgericht kommt diesem Wunsch nach und schickt um 16:23 ein Fax an die Polizei, in der die Durchsuchung und die Beschlagnahmung von etwaigen Beweisstücken wie dunkler Jacken, Pappen und Kunststoffverpackungen angeordnet wird. Das Gericht begründet seine Entscheidung mit dem Ergebnis des Hundeeinsatzes.

Noch am selben Abend sperrte die Polizei die Rote Straße für Passant*innen und zunächst auch Journalist*innen weiträumig ab, aus Angst, es könnte eine Telefonkette ausgelöst und zu Protesten mobilisiert werden. Das passiert auch binnen kürzester Zeit.

Während der Durchsuchung schlugen die beiden Hunde in den Zimmern von drei Bewohner*innen sowie in einem Gemeinschaftsraum an – nicht bei den konkreten, dort lebenden Menschen. Die Polizei beschlagnahmte verschiedene Gegenstände, darunter diverse Silvesterknaller, Datenträger und Laptops. Gegen drei der Bewohner*innen werden Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Suche nach vertraulicher Korrespondenz

Die bei der Durchsuchung beschlagnahmten Datenträger einschließlich darauf gespeicherter E-Mails werden von der Polizei nach Schlagwörtern durchsucht. Dabei wird erfolglos versucht, verschlüsselte E-Mails zu entschlüsseln. Unter den gesuchten Schlagwörtern sind auch die Namen von zwei Göttinger Anwälten, Sven Adam und Johannes Hentschel sowie das Schlagwort „Rechtsanwalt“. Offensichtlich hat die Polizei also im Rahmen der Ermittlungen nach vertraulicher Korrespondenz zwischen Mandant und Anwalt gesucht. Andere Suchbegriffe waren AK Asyl, Ordnungsamt, Bonzen, radikaler Feminismus oder auch Zucker.

Indymedia einfrieren

Weil in den Kommentaren zu einem Indymedia-Artikel jemand behauptet, er wisse über die genaue Beschaffenheit des im Kreishaus detonierten Brandsatzes bescheid, versucht die „EG Teeküche“ am 15. Februar, den Indymedia-Server zunächst einfrieren und dann beschlagnahmen zu lassen. Dies gestaltet sich schwierig, da der Computer in den USA steht. Die Staatsanwaltschaft hält das Ansinnen einer Serverbeschlagnahme für nicht Erfolg versprechend. Daraufhin wird diese Spur nicht weiter verfolgt.

Der dunkle Teint

Auf den Bändern der Überwachungskameras des Kreishauses macht die Polizei einen Tatverdächtigen aus. Eine unbekannte vermummte Person betritt für 90 Sekunden das Kreishaus und verschwindet danach wieder. Die Ermittler*innen beobachten eine markante Art des Fahrradbesteigens und vermutet, der Mann könne Linkshänder sein.

Vom Fachkommissariat 4 – dem Staatsschutz – erhält die Ermittlungsgruppe „Teeküche“ am 5. Februar einen Namen zu dem Verdächtigen serviert – aufgrund der äußerst wagen Beschreibung einer Kreisverwaltungsmitarbeiterin, die der vermummten Person begegnet war. Nur die Augenpartie hat sie gesehen und gibt an, der Verdächtige habe einen dunklen Teint und dunkle Augen.

Das Fachkommissariat kennt einen jungen Göttinger mit dunklem Teint und dunklen Augen. Der Kreisverwaltungsmitarbeiterin werden daraufhin 12 Fotos von Augenpartien vorgelegt, einige hellhäutig, einige mit „dunklem Teint“. Unter den Fotos sind auch welche von den zu diesem Zeitpunkt Tatverdächtigen aus der Roten Straße 1. Die Zeugin kann niemanden darauf eindeutig identifizieren, mehrere Augenpartien könnten ihr zu Folge möglicher Weise die des vermummten Mannes sein. Insgesamt fünf von zwölf Fotos kann sie nicht ausschließen.

Entsprechend ist auch der Einsatz eines eigens aus Hannover beigeordneten Polizeizeichners erfolglos, die Beschreibungen der Zeugin reichen nicht einmal für die Anfertigung eines Phantombildes. Für die Polizei sind diese Aussagen allerdings konkret genug: auch der vom Staatsschutz vorgeschlagene Göttinger ist unter den fünf „identifizierten“.

Daraufhin bittet die Polizei die Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf Anordnung einer längerfristigen Observation beim Amtsgericht zu stellen. Der junge Mann mit dem dunklen Teint soll ausgeforscht werden. Es soll herausgefunden werden, ob der Beschuldigte Kontakt zu Bewohnern der Rote Straße 1 hat und ob er möglicher Weise auch mit markantem Schwung auf sein Fahrrad aufsteigt. Die Staatsanwaltschaft lehnt die Bitte ab, weil kein Anfangsverdacht besteht.

Weiterhin versuchte die Polizei aufgrund der hier dargestellten Indizien, eine DNA-Entnahme zu erzwingen. Einen entsprechenden Antrag weist das Amtsgericht am 15. Juni zurück. Ebenfalls verlangt die Polizei eine erkennungsdienstliche Behandlung des Dunkelhäutigen. Ein Widerspruchsverfahren dagegen ist noch beim Verwaltungsgericht anhängig.

„eine sehr markante Art des Fahrradbesteigens“

Die Videoaufnahme der Kreishaus-Kamera verleitete die Polizei noch zu einer weiteren Ermittlungsmaßnahme. Wie bereits erwähnt, beobachtete sie bei dem Tatverdächtigen eine markante Art des Fahrradbesteigens. Zudem gelingt es einem Sachbearbeiter, aus dem schlechten Videomaterial einige Charakteristika des Rades zu benennen. Die Polizei sucht das Rad daraufhin u.a. vor dem Bahnhof und auf dem Wagenplatz – erfolglos.

Im März veranstaltet die Polizei dann insgesamt sechs groß angelegte Fahrradkontrollen im Stadtgebiet, die jeweils acht Stunden dauern. Das Ziel von wahrscheinlich weit in die Tausende gehenden Kontrollen: das Auffinden des Fahrrades bzw. des Mannes mit der „sehr markanten Art des Fahrradbesteigens“. Beteiligt sind je 15 Beamt*innen, zwei davon jeweils von der EG Teeküche. Auch diese Maßnahme bleibt ohne Erfolg.

Abschließend zieht die Polizei in Erwägung, das Rad und seinen Fahrer öffentlich zur Fahndung auszuschreiben. Um keine falschen Signale an die linke Szene zu senden, sieht sie davon allerdings ab. Man will keine Beweismittel preisgeben und den mutmaßlichen Täter auch nicht wissen lassen, dass er lieber ein anderes Rad benutzen sollte.

Am 18. Juni verkündet die Polizei via Pressemitteilung, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. „Nach den vorliegenden Erkenntnissen bestehen weiterhin Anhaltspunkte für den Verdacht, dass der Brandanschlag einem linksmotivierten Täter zuzurechnen ist“, schreibt die Behörde. Auf Kritik an den Ermittlungen von GT-Polizeireporter Jürgen Gückel reagiert Polizeipräsident Robert Kruse mit Polemik und Diffamierung.

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12 Kommentare auf "Die Akte „Rote Straße“"

  1. nasus anonymous sagt:

    unterhaltsam

  2. Kokain sagt:

    Im Vergleich zur HNA scheint es im GT langsam zu dämmern, dass mensch als kritikloses Sprachrohr der örtlichen Polizeistelle genutzt wurde…

  3. Rakete sagt:

    Ich fand wie an anderer Stelle bereits erwähnt die GT-Berichterstattung in diesem Fall oft auch gar nicht so schlimm. Die HNA hat sich viel mehr Mühe im Hetzen gegeben.

  4. Rakete sagt:

    Wie geil ist eigentlich die HNA? Immer ganz vorne mit dabei gewesen in Sachen Vorverurteilung und Hetze, aber kein Wort zu der ganzen Kritik, die jetzt kommt. Das ist mal echt guter Journalismus!

  5. Der Irrsinn geht weiter sagt:

    Erneuter Skandal durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte

    Am 16.12.2010 soll ein junger Mann aus Göttingen zur Abgabe einer
    DNA-Probe gezwungen werden. Aufgrund eines angeblichen Böllerwurfs
    innerhalb einer Demonstration seien von ihm „weitere Straftaten von
    erheblicher Bedeutung“ zu erwarten.
    „Weitere Straftaten“? Der Reihe nach:
    Am 27.Januar 2010 durchsuchte die Polizei rechtswidrig ein linkes
    Wohnprojekt in der Roten Straße, nachdem es in einer Teeküche des
    Landkreisamtes zu einer Verpuffung kam. Bei der folgenden
    „Solidaritätsdemonstration gegen staatliche Repression“ am 30. Januar
    wurde ein Jugendlicher wegen des Verdachts, innerhalb der Demonstration
    Böller geworfen zu haben festgenommen. Noch gibt es in diesem Prozess
    kein Urteil, doch die Staatsanwaltschaft ist wie immer schneller – der
    junge Mann soll eine DNA-Probe abgeben. Sollte er zu dem angegebenen
    Termin nicht erscheinen, werden ihm „Zwangsmaßnahmen“ angedroht.
    Doch was hat ein angeblicher Böllerwurf auf einer Demo mit einer
    DNA-Probe zu tun? Der Verdacht liegt nahe, dass das Fachkommissariat 4
    (der Staatsschutz) nach der skandalösen Ermittlungspleite in dem
    angeblichen „Sprengstoffattentat in der Teeküche“ ganz andere Pläne
    verfolgt. Denn: eine Zeugin meint dort einen Mann mit „dunklem Teint“
    gesehen zu haben. Zügig weiß das Fachkommissariat 4, um wen es sich
    handeln könnte und besorgt sich vom Einwohnermeldeamt Bilder für eine
    Lichtbildvorlage. Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme wird noch vom
    Amtsgericht geprüft. Die Zeugin erkennt niemanden sicher, das hindert
    das Fachkommissariat jedoch nicht, einen Antrag auf Observation zu
    stellen – dieser wird abgelehnt, es gäbe keinen „hinreichenden
    Anfangsverdacht“.
    Und ausgerechnet dieser junge Mann „mit dunklem Teint“ hat nun angeblich
    durch das Werfen eines Böllers innerhalb einer Demonstration „schwere
    Körperverletzung“ an einem Polizisten begangen. Zusammen mit einer
    versammlungsrechtlichen Vorstrafe als 15-jähriger und eingestellter
    Verfahren im Zusammenhang mit Demonstrationen wird nun ein besonderes
    „Gefahrenpotential“ konstruiert, welches die DNA-Abnahme rechtfertigen
    soll.
    Also ein weiteres Beispiel dafür, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und
    Gerichte das tun, was ihre Aufgabe ist: engagierte Menschen mit
    Verfahren und Urteilen zu überziehen. Immer zielgerichteter wird dabei
    auch in Göttingen versucht, Jugendliche, die politisches Engagement
    zeigen, einzuschüchtern, sei es durch Besuche bei den Eltern oder in der
    Schule. Ein neuer Skandal ist jetzt mit der geplanten Speicherung eines
    genetischen Fingerabdrucks erreicht. Der Verdacht, geringe Straftaten im
    Rahmen einer Versammlung begangen zu haben soll ausreichen, mit intimen
    Daten in einer bundesweiten zentralen Verbrecherkartei erfasst zu werden.
    Aus diesem Grund rufen wir alle emanzipatorischen und demokratischen
    Kräfte der Stadt Göttingen auf, sich mit dem 20-jährigen zu
    solidarisieren. Wir werden der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den
    Gerichten deutlich machen, dass ihre Kriminalisierungsversuche nicht
    unbeantwortet bleiben.

    Achtet auf weitere Ankündigungen.
    Es ist noch unklar, ob die Maßnahme wirklich wie angekündigt am
    16.12.2010 durchgeführt wird.
    Falls die Zwangsmaßnahme umgesetzt wird, treffen wir uns am gleichen Tag
    um 18:00 Uhr am Gänseliesel, um unserer Empörung über dieses Vorgehen
    Ausdruck zu verleihen.
    Verfolgt sind einige, gemeint sind wir alle!
    Solidarität ist eine Waffe.

    Antifaschistische Linke International >A.L.I.

  6. antifa sagt:

    DNA-Entnahme von linkem Jugendlichen am 5.1.2011 geplant!

    Offener Brief
    Am 27. Januar 2010 durchsuchte die Polizei rechtswidrig ein linkes Wohnprojekt in der Roten Straße, nachdem es in einer Teeküche des Landkreisamtes zu einer „Verpuffung“ kam. Die Auswahl des Durchsuchungsobjektes folgte politischen Motiven: Polizeihundeführer kritisierten die Göttinger Polizei für ihr vorgehen, auch im Stadtrat wurden die Kriminalisierungsversuche thematisiert (vergleiche auch Göttinger Tageblatt vom 10.08.2010).

    Bei der auf die Durchsuchung folgenden „Solidaritätsdemonstration gegen staatliche Repression“ am 30. Januar 2010 wurde ein Jugendlicher wegen des Verdachts, innerhalb der Demonstration Böller geworfen zu haben, festgenommen. Noch gibt es in diesem Prozess kein Urteil, doch die Staatsanwaltschaft ist wie immer schneller – der junge Mann soll eine DNA-Probe abgeben. Sollte er zu dem angegebenen Termin nicht erscheinen, werden ihm „Zwangsmaßnahmen“ angedroht.

    Es stellt sich die Frage, was ein angeblicher Böllerwurf auf einer Demo mit einer DNA-Entnahme zu tun hat. Der Verdacht liegt nahe, das das Fachkommissariat 4 – zuständig für politisch motivierte Strafttaten – nach der skandalösen Ermittlungspleite in dem angeblichen „Sprengstoffattentat in der Teeküche“ mit der jetzigen DNA-Entnahme ganz andere Pläne verfolgt. Nachdem die Durchsuchung des Wohnprojektes rechtswidrig war und alle Verfahren eingestellt wurden, wird nun versucht, das Gesicht zu wahren, indem flugs ein neuer Linker als Täter auserkoren wird.
    Eine Zeugin soll nämlich im Kreishaus einen Mann mit „dunklem Teint“ gesehen haben. Linke „mit dunklem Teint“ kennt das Fachkommissariat 4 genau. Zügig suchen sich die Beamten also eine Person aus und besorgen sich vom Einwohnermeldeamt Bilder für eine Lichtbildvorlage. Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme wird noch vom Amtsgericht geprüft. Die Zeugin erkennt niemanden sicher, das hindert das Fachkommissariat jedoch nicht, einen Antrag auf Observation zu stellen – dieser wird abgelehnt, es gäbe keinen „hinreichenden Anfangsverdacht“. Den gab es zunächst auch für die DNA-Entnahme nicht, aber die Staatsanwaltschaft klagte weiter, bis sie schließlich vor dem Landgericht Erfolg hatte und die Abnahme genehmigt bekam.

    Ausgerechnet dieser junge Mann „mit dunklem Teint“ hat nun angeblich durch das Werfen eines Böllers innerhalb einer Demonstration „gefährliche Körperverletzung“ an einem Polizisten begangen. Zusammen mit einer versammlungsrechtlichen Vorstrafe als 15-jähriger und eingestellter Verfahren wird nun ein besonderes „Gefahrenpotential“ konstruiert, welches die DNA-Abnahme rechtfertigen soll. Auch in Zukunft seien dem Jugendlichen „weitere Straftaten von erheblicher Bedeutung“ zuzutrauen. Dass hier die Einstellung von Verfahren genutzt wird, um polizeiliche Maßnahmen zu rechtfertigen, zeigt anschaulich, wie politisch motivierte Kriminalisierung von Statten geht: es ist egal, ob jemand unschuldig ist, wenn er schon mal verdächtigt wurde, muss er auch in Zukunft kriminell sein.

    Also ein weiteres Beispiel dafür, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte das tun, was sie anscheinend als ihre Aufgabe sehen: linkes Engagement kriminalisieren. Immer zielgerichteter wird dabei versucht, Jugendliche, die politisches Engagement zeigen, einzuschüchtern, sei es durch Besuche bei den Eltern oder in der Schule. Ein neuer Höhepunkt dieser Kriminalisierungsversuche ist jetzt durch die DNA-Abnahme erreicht.
    Wir fragen die Verantwortlichen bei der Polizei, besonders die Staatsschutzabteilung, was sie mit derartigen Maßnahmen erreichen wollen? Wir vermuten, dass es hierbei weniger um aufzuklärende Straftaten, sondern – zum wiederholten Male – um Repression gegen unliebsame Politikansätze geht. Die Teilnahme an unliebsamen Demonstrationen ist in Göttingen häufig schon ausreichend um ungewollt in einen Konflikt mit Polizei und Staatsanwaltschaft zu geraten.

    Wir fragen die Verantwortlichen bei der Polizei: Welchen sachlichen Zusammenhang gibt es überhaupt zwischen der angenommen Straftat „gefährliche Körperverletzung durch einen Böllerwurf innerhalb einer Demo“ und der zwangsweisen Abnahme von DNA? Wir sehen hier einen erneuten Ausdruck der ausufernden staatlichen Datensammlungswut gegenüber politischer Opposition und mittlerweile allen BürgerInnen.

    Wir erwarten von der Polizei und der Staatsanwaltschaft:
    – Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens und die erklärte Rücknahme der Aufforderung zur Entnahme von DNA gegen den Demonstranten.
    – Ein Ende gängelnder und anti-demokratischer Auflagen bei antifaschistischen Demonstrationen.
    – Ein Ende der immer durchsichtigeren Kriminalisierungsversuche linken Engagements.
    – eine Stellungnahme der Polizei, in der sie den Sachverhalt aus ihrer Sicht schildert und aus der hervorgeht, wie die Polizei beabsichtigt, künftig in vergleichbaren Fällen vorzugehen.

    Polizei, Staatsanwaltschaft und einigen Gerichten sollte auch in Göttingen langsam bewusst werden, dass ihre durchsichtigen Kriminalisierungsversuche in der Öffentlichkeit nicht unbeantwortet bleiben.

    UnterzeichnerInnen (Stand 18. Dezember 2010): Grüne Jugend Göttingen, Grüne Hochschulgruppe Göttingen, ver.di-Jugend Göttingen, Buchladen Rote Straße, Jusos Göttingen, Patrick Humke-Focks (Partei Die Linke, Mitglied des Landtages), Göttinger Linke Ratsfraktion, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Göttingen, AntiAtomPlenum Göttingen, Antifaschistische Linke International (A.L.I.), Jugend Antifa Göttingen (JAG), Bündnis gegen Ämterschikane, Bündnis Montagsdemos.

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