Offen agierende Neonazi-Szene

Northeimer Zustände
von am 4. Juni 2015 veröffentlicht in Neonazis, Titelstory

In Bad Nenndorf marschiert 2014 beim von Neonazis organisierten "Trauermarsch" das Umfeld der AG Rhumetal hinter einem "Kameradschaft Northeim"-Transparent. (Bild: Felix M. Steiner)

Seit Jahrzehnten ist die Stadt Northeim bekannt für ihr Naziproblem. Auch wenn sie nicht mehr wie noch Ende der Neunziger Jahre die bundesweit größte neonazistische Kameradschaft beherbergt, ist sie weiterhin der Wohnort für einige der bekanntesten Neonazis in Südniedersachsen. Die Aktivitäten von Roland R. und Ruben I. sollen beispielhaft zeigen, dass eine Bereitschaft zur Bekämpfung extrem rechter Strukturen und ihrer Aktivitäten in Northeim nur spärlich vorhanden ist.

Das derzeit aktivste neonazistische Netzwerk der Region ist die sogenannte „AG Rhumetal“. Sie ist ein politischer Zusammenschluss jüngerer Neonazis, welche bereits zuvor unter den Labels „Anti-Antifa Northeim“ und „Nationale Sozialisten Northeim“ aktiv waren. Die vorherigen Namensgebungen zeigen, wo der organisatorische Schwerpunkt der „AG Rhumetal“ zu finden ist: Die knapp 30.000 EinwohnerInnen zählende Stadt, 20 Kilometer nördlich von Göttingen gelegen, ist das Zentrum des Netzwerkes. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die politisch Aktivsten aus dem Umfeld der „AG Rhumetal“ in Northeim leben. Erwähnung müssen hierbei vor allem Fabian Z., Pascal Z. und Roland R. finden.

Ein Neonazi als Chef

Der 29-jährige Roland R. ist nicht nur regelmäßiger Teilnehmer von Naziaufmärschen, auf NPD-Kundgebungen anzutreffen oder Gast auf dem jährlichen „Eichsfeldtag“, sondern hat sich auch einen Namen als Anmelder einer neonazistischen Demonstration in Bad Nenndorf gemacht. Hier trat er auch als Redner auf.

Roland R. als Teil der neonazistischen Szene Südniedersachsens ist allerdings keine sonderlich neue Information. Bereits 2012 wurde auf dem Internetportal Indymedia sein Name veröffentlicht. Er ist dort immer noch in einer Zusammenstellung neonazistischer Akteure in Northeim und Umgebung aufgelistet.

Es ist also nicht sonderlich schwierig, Roland R. politische Tätigkeiten herauszufinden. Dennoch hat es R. in Northeim geschafft, Filialleiter eines örtlichen REWE-Supermarktes zu werden. Die Verantwortlichen im Konzern REWE Group, welchem die Filiale direkt unterstellt ist, scheinen mit seinem offenen Auftreten als Neonazi kein Problem zu haben.

R., der in seiner Jugend noch alternativ auftrat und daher Probleme mit der Northeimer Naziszene gehabt hatte, begann in der Northeimer Filiale in der Einbecker Landstraße bereits seine Ausbildung. Nach Informationen der für den Einzelhandel zuständigen Gewerkschaft ver.di stieg er nach dem Abschluss seiner Ausbildung innerhalb weniger Jahre zum Filialleiter auf. In diesem Zeitraum vollzog sich parallel seine Entwicklung zum neonazistischen Aktivisten.

Dass R. den Karriereschritt zum Filialleiter schaffte, trifft bei ver.di nicht auf Verwunderung. Wie in anderen Betrieben gelte auch im Einzelhandel die Devise: „Nach unten treten, nach oben buckeln“. Wer Karriere machen wolle, müsse sich so unkollegial wie möglich verhalten und in betrieblichen Fragen bereit sein, für die KollegInnen nachteilige Entscheidungen zu treffen. In der Gewerkschaft wisse man, dass sich derartige Verhaltensweisen bestimmten autoritären Denkformen wie der faschistischen Ideologie nicht unbedingt widersprechen.

Es hält sich derweil das hartnäckige Gerücht, dass sich R. zumindest ausgesuchten Mitmenschen gegenüber kulant zeigen würde. Er soll angeblich seine Stellung in der Filiale dazu nutzen, Jugendlichen aus der Naziszene Minijobs zu geben. Eine bessere (Fest-)Anstellung sei zwar nicht möglich, da dies den Vorgaben der Vorgesetzten widersprechen würde. Aber dennoch würde R. damit als Filialleiter Seilschaften aufbauen und neonazistische Mitstreiter finanziell protegieren. Auch seine Stellung in der regionalen Naziszene würde verdeutlicht: Nicht nur in der politischen Arbeit, sondern auch im betrieblichen Alltag wäre er eine Führungsperson.

So skandalös R.s kaum kommentiertes Wirken in Northeim ist, so stellt sich gleichsam in der Betrachtung seiner Biographie eine wichtige Frage: Was sind die Gründe dafür, dass sich ein alternativ geprägter Jugendlicher beim Heranwachsen zum politisch organisierten Neonazikader entwickelt?

Ein stadtbekannter Neonazi in der städtisch geförderten Jugendkneipe

Kneipe "Turm 2.0", in der sich nun häufiger Neonazi-Cliquen treffen

Kneipe „Turm 2.0“, in der sich nun häufiger Neonazi-Cliquen treffen

Für Christopher Krauß, Bildungsreferent der „Sozialistischen Jugend – die Falken“ im Bezirk Braunschweig und damit auch für Northeim zuständig, gibt es mehrere mögliche Gründe für solch eine Entwicklung. In Northeim spiele mit hoher Wahrscheinlichkeit die subkulturelle Hegemonie von Neonazis unter Jugendlichen eine große Rolle: „Generell kommt es in Kleinstädten oft vor, dass die örtliche Neonaziszene nicht als politisches Problem, sondern als normale Jugendkultur verstanden wird. Wer bei denen dabei ist, gilt eben oft als die normalen Jungs und Mädels von nebenan. In Northeim sind wir darüber hinaus mit einer langen Tradition organisierter Nazistrukturen konfrontiert, die für die Einbindung junger Menschen sorgt.“

Auch mit dieser Unterstützung schaffe es schließlich die Neonaziszene, eine gewisse Dominanz an wichtigen Orten für Jugendliche zu entwickeln. „Unter diesen Voraussetzungen fällt es anderen Jugendlichen nicht unbedingt leicht, eine Jugendkultur zu schaffen, die sich als demokratisch und antifaschistisch versteht.“ Wenn dazu auch noch physische Gewalt ausgeübt werde, würde Jugendlichen, welche in ihrer politischen Identität noch nicht gefestigt sind, sehr schnell gezeigt, auf wessen Seite man lieber nicht offen stehe.

Auch in der Gegenwart ist dieses Problem fassbar. In Northeim wird derzeit versucht, einen alternativen Jugendtreff zu etablieren, der sich explizit als antifaschistisch versteht. Auch Christopher Krauß ist einer der UnterstützerInnen des Projektes, welches einen Platz im Jugendzentrum „Alte Brauerei“ gefunden hat. Das Problem dabei: Direkt nebenan ist vor kurzem eine von der Stadt geförderte und von jungen Menschen selbstverwaltete Jugendkneipe eröffnet worden – der „Turm 2.0“. Die Einrichtung eines solchen Ortes sei laut Krauß grundsätzlich „sinnvoll und begrüßenswert“. Allerdings ist es nicht nur für ihn ein großes Problem, dass sich mit Ruben I. ein stadtbekannter Neonazi in der Kneipe engagiert. Es sei „grob fahrlässig“, wie die Stadt mit dieser Problematik umgehe. „Neonazis nutzen die Kneipe für ihre Zwecke. Quasi jeden Freitag Abend findet ein, polemisch ausgedrückt, inoffizieller Kameradschaftsabend im ‚Turm 2.0‘ statt, wenn sich Ruben I. mit seinen Freunden trifft. Die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung müssten doch wissen, dass Northeim eine Hochburg für Neonazis ist. Daher ist es eigentlich unumgänglich, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass extreme Rechte nicht Einfluss auf solche Projekte wie den ‚Turm 2.0‘ haben können.“ Dafür sei es jetzt leider zu spät. Jugendliche, die nichts mit Nazis zu tun haben wollen oder sich gar von ihnen bedroht fühlen, würden die Jugendkneipe nun meiden.

In der Tat sind in der Jugendkneipe regelmäßig führende Kader der „AG Rhumetal“ anzutreffen, darunter Fabian Z. und wiederum Roland R.. Beide gehören zum engen Freundeskreis von Ruben I.. Dieser ist in Northeim kein Unbekannter. Seit einigen Jahren ist er Teil der örtlichen Naziszene. Um ihn herum bildete sich eine Clique, die „Güntgenburg Street Elite“, aus deren Kreis später einige Jungnazis ihren Weg in organisierte Neonazistrukturen wie der AG Rhumetal fanden. Die Angehörigen der „Street Elite“ hatten keine Scheu davor, ihre Weltanschauung offen zu präsentieren, und zeigten einen großen Hang zur Gewalt. Sie suchten regelmäßig die körperliche Auseinandersetzung mit solchen Menschen, die sie als politische Feinde ansahen. So wurde unter anderem 2012 ein alternativer Jugendlicher auf einer Kirmes in Bovenden, einige Kilometer südlich von Northeim, von Teilen der Clique um I. zusammengeschlagen und erlitt schwerste Verletzungen.

Zwar sind die Zeiten in Northeim glücklicherweise vorbei, in denen Ruben I. mit einem Samuraischwert in der Innenstadt patrouillierte und massiv andere Menschen bedrohte. Auch sein Freundeskreis lässt es inzwischen ruhiger angehen. Aber eine Abkehr von ihrer menschenfeindlichen Ideologie hat zumindest bei I. nicht stattgefunden, auch wenn dieser zeitweise versuchte, den Eindruck eines „Aussteigers“ zu erwecken. Spätestens seit seiner Teilnahme an der „HoGeSa“-Demonstration am 15. November letzten Jahres in Hannover ist dies Makulatur. Er war gemeinsam mit bekannten Neonazis wie Fabian Z., Pascal Z. oder Maurice B. angereist und hatte sich sogar als Ordner zur Verfügung gestellt.

Abseits von extrem rechten Großevents und geselligen, städtisch geförderten Kneipenabenden bietet Ruben I. zudem noch auf dem Familien-Wohnsitz seinen FreundInnen und Gleichgesinnten Räumlichkeiten. Hier wird nicht nur getrunken und gefeiert: hier besteht auch die Möglichkeit für regelmäßige Gäste wie Fabian Z. und Roland R., Jugendliche zu fragen, ob sie nicht in den örtlichen Neonazistrukturen aktiv sein wollen.

All diese Informationen sind in Northeim selbst keine Geheimnisse. Viele kennen Roland R. und Ruben I. und auch ihre politischen Aktivitäten. Die städtische Verwaltung zeigt keinen großen Willen oder zumindest keine klare Strategie, die weiterhin vorhandene neonazistische Dominanz unter Jugendlichen zu brechen. Zivilgesellschaftliche Strukturen wiederum, die sich dem Kampf gegen Neonazis verschrieben haben, sind derzeit in Northeim nur spärlich vorhanden. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies bald ändert.

Gastbeitrag: Rune Wiedener

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