Kolumne

Ein Gespenst geht um in Göttingen
von am 30. Januar 2011 veröffentlicht in Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft, featured

Tunis. Kairo. Göttingen. Die Revolution im Trikont greift über auf die Metropolen der kapitalistischen Zentren des Westens: Es gibt wieder einen linken Asta in Göttingen. Der vergangene Freitag war etwas Besonderes. Und doch habe ich leichte Erinnerungslücken. Aber ich möchte versuchen die Ereignisse zu rekonstruieren.

Gedächtnisprotokoll:
Über ein Jahrzehnt haben es Linke an der Uni Göttingen versucht die Machtverhältnisse im Studierendenparlament zu ihren Gunsten zu kippen. Und was mussten sie nicht alles erdulden: Skatturniere, Elendsverwaltung der Einnahmen aus Studiengebühren, nicht abtreten wollende Machteliten, Brandanschläge, Public Viewings, unpolitischer Gesinnungsterror und andere Unzumutbarkeiten. Trotzdem: Der Widerstand blieb vergeblich … bis zum heutigen Tage, dem 28. Januar 2011. Nun stellt sich heraus, dass der Druck der Straße auf die Mächtigen zu groß ist. Das Schlottern ihrer Knie ist noch in Moskau zu vernehmen und sie müssen die Segel streichen.

Genosse Mitbewohner und ich, die wir jahrelang am kräftezehrenden Kampf gegen die reaktionäre Regierung beteiligt waren, wohnen dem historischen Moment der Wahlergebnissverkündigung bei. Mit leuchtenden Augen stehen wir vor der Leinwand und können gar nicht glauben, was wir dort sehen. Immer wieder rechnen wir alles noch mal durch, setzen noch mal alles ins Verhältnis. Die Antwort, so unglaublich wie wahr: „Ja! Es reicht aus für eine linke Mehrheit!“ Dass wir das noch erleben dürfen!

„Genosse Mitbewohner!“
„Jawohl Genosse Feindbild?“
„Dies ist ein historischer Moment. Die Revolution ist hier. Wir müssen nun handeln, die Gunst der Stunde nutzen und den geschwächten Eliten der Bourgeoisie endgültig den Garaus machen.“
„Jawohl Genosse Feindbild. Der Kampf gegen die Reaktion ist ein Kampf für Frieden und Gerechtigkeit.“

Gesagt getan. Die Volksmassen versammeln sich bereits in der Innenstadt. Die zornige Meute ist gekommen um Solidarität mit einem Genossen zu üben, dem durch die skrupellose Leibgarde der Bourgeoise an diesem Tag eine Probe seiner DNA entnommen wurde. Genosse Mitbewohner und ich wissen es schon länger: Die Herrschenden erzittern vor der Kraft der unzufriedenen Massen. Um sich ihrer Haut zu erwehren greifen sie zu faschistischen Methoden und entblößen damit ihr wahres Antlitz. Als wir ankommen schallt es uns schon entgegen: „One solution – revolution!“ Das Volk will zum Kommunismus! Ein Genosse verkündet der Polizei, dass Angriffe nicht mehr geduldet werden und der wütende Mob setzt sich in Bewegung. Von irgendwoher höre ich Bläser und Trommeln. Stimmen dringen mir ins Ohr: „Vorwärts und nicht vergessen – die Solidarität!“ Gemeinsam marschieren wir mir den Speerspitzen der Revolution durch die Straßen Göttingens und verkünden dem Volke die frohe Botschaft der anbrechenden Morgenröte. Die Schlägertrupps der Kapitalisten können unserem entschlossenen Kampfeswillen an diesem Abend nichts entgegensetzen und so jagen wir sie aus der Stadt.

Anschließend wird das Regierungsgebäude symbolisch besetzt und trägt seitdem wieder den Namen der Genossin Rosa Luxemburg. Der Asta: vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Schmettern des gallischen Hahnes jagt die Eule der Minerva zum Teufel. Ausgelassene Feierei im Haus: strahlende Gesichter, tanzende und singende Menschen. Und um Punkt 12 natürlich: Die Internationale.

„Genosse Mitbewohner!“
„Jawohl Genosse Feindbild?“
„Dies ist ein historischer Moment. Die Revolution ist hier. Sei dir der Bedeutung des Augenblickes bewusst.“
„Die Genossen verkünden, sie hätten die Weinkeller der alten Regierung geplündert. Das Volk verköstigt sich am wohltuenden Gesöff.“
„Genosse Mitbewohner!“
„Jawohl Genosse Feindbild?“
„Trinken wir den Wein der Bourgeoisie!“
„Jawohl Genosse Feindbild. Plündern und brandschatzen wir alle Vorräte!“

Und so sitzen wir auf den Bürostühlen der Asta-Schergen die uns über ein Jahrzehnt geknechtet und geschunden haben. Eine Genugtuung für wahrlich! Der Genuss des Weines ist mehr als nur symbolischer Natur. Noch in der Nacht schmieden wir Pläne wie jetzt zu handeln sei. Alle Fraktionen des politischen Spektrums sind zusammen gekommen und beraten sich: Sozialisten, Trotzkisten, Maoisten, Leninisten, Titoisten, Syndikalisten und weitere Gruppen. Welch farbenfroher Blumenstrauß mit allen Schattierungen von Rot, die man sich nur denken kann. Sogar ein paar Sozialkompromisslern gewähren wir wohlwollend Einblick in unsere Vorhaben. Eine neue Einigkeit herrscht nun unter den revolutionären Kräften. Das Programm:

1. Eigentum wird abgeschafft!
2. Arbeiter- und Bauernräte werden gegründet!
3. Das Vertigo wird das neue Cafe’ Kollabs!
4. Die Guillotine muss gewetzt werden. Sie sehnt sich nach Hälsen…
5. …

Und ab hier schwindet meine Erinnerung gänzlich.

Als ich am nächsten Morgen durch die Innenstadt laufe, ist alles so als sei nichts passiert. Die Armen betteln immer noch um Geld, die Bauarbeiter schuften sich immer noch den Rücken kaputt und die neueste Schweinerei des Göttinger Kapitalismus zerrt an meinen Nerven: O2 besetzt den öffentlichen akustischen Raum. Ein Bespaßer will mir via Lautsprechanlage weiß machen, dass der neue Handyvertrag ein absolutes Muss für mich ist. Im Hintergrund dudelt ätzender Kirmestechno. Kein Mensch um ihn herum weit und breit. Auch ich lasse mich nicht in sein Knusperhäuschen locken. Die nächste Revolution kommt bestimmt und dann reden wir noch mal über solche Belästigungen …

Ich danke Genosse Ex-Arbeitskollege für den Exkurs zum Jargon der Revolution und wie immer Genosse Lektor fürs Lektorieren. Solidarität ist eine Waffe.

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15 Kommentare auf "Ein Gespenst geht um in Göttingen"

  1. dave sagt:

    Eine herrliche Persiflage. Mit Persil und Pepsi gegen das Kapital!
    Auf das der Asta ab jetzt nicht mehr so links paktiert wie bislang. Jetzt stehen 10 Jahre mit den rechten Kommilitonen ins haus.
    Freie Fahrt für Nazikommunisten!
    Alles wird anders – heißen wir es, mit mit Stein und Feuer willkommen.
    Endlich, lang ersehnter Frühling. Mit dem blauen Band wird der Gegner umschlungen.
    Lassen wir ihnen nicht die Prosa, Gesang und auch die Rosa nicht.
    Bald wird sie zum neuen Wohnprojekt.

    Welch ein Unsinn meine Zeilen.
    Kommen alle Schlüsselworte vor?

    Der König*in ist gestürzt, aber ADF und RCDS nicht bezwungen!
    Keine Studiengebühren mehr +
    Ein Veggietag mehr +
    Keine Verschwendung mehr +

    Wer keine Visionen hat … der Rest ist Schmidt.

  2. retmarut sagt:

    Feindbild schrieb:
    „Anschließend wird das Regierungsgebäude symbolisch besetzt und trägt seitdem wieder den Namen der Genossin Rosa Luxemburg. “

    Das Gebäude hiess doch nie anders: Rosa-Luxemburg-Haus.
    Umbenannt werden muss da also gar nichts.

  3. genosse sagt:

    прекрасно!

  4. muss ausgefüllt werden sagt:

    хорошая сатира – большое спасибо!

  5. Babsi sagt:

    ja, schöne Persiflage! die ADW hat die Hälfte ihrer Stimmen eingebüsst bei den Wiwis, sind die nun plötzlich alle links? wenn wir ihnen allerdings den emanzipatorischen Wert von Kuschelparties im Vertigo vermitteln können, dann, ja dann … wer
    weiss?

  6. Prolet sagt:

    Guter Text, Genosse! Für noch viele weitere Revolutionen in Gö und anderswo!

  7. mogli sagt:

    Ein großartiger Artikel.
    Mehr davon – eine echte Bereicherung für den Blog

  8. Fury sagt:

    „хорошая сатира – большое спасибо! “

    a skakich eta por tut pa ruskji pishut? 😀

  9. gebirgsjägerwurstschmecktgut sagt:

    Der Genosse Mitbewohner kommt in dem Artikel ein wenig deviant und hörig gegenüber dem Genossen Feindbild daher. Da war wohl der Wunsch Vater der Figurenkonstellation, Genosse Feindbil!

  10. Göttingergebirgswurst sagt:

    Hauptsache is doch, dass der bourgeoise Wein alle ist. Deviant is‘ cool.

  11. Feindbild sagt:

    Genosse Gebirgsjägerwurstschmecktgut,
    sollte ich extra erwähnen, dass jegliche Übereinstimmung mit realen Personen und Ereignissen reiner Zufall ist? Es handelt sich um eine völlig fiktive Geschichte. Die Figurenkonstellation ist so einfach gar nicht. Die kann ich dir gerne mal bei einer Sitzung des ZK erläutern.

    Freundschaft,
    Genosse Feindbild

  12. gebirgsjägerwurstschmecktgut sagt:

    @ Genosse Feindbild

    Nächstes Wochenende werden Sie in Klausur genommen, Genosse Feindbild!

    Freundschaft!

  13. Genosse mit reformorientierten Alüren sagt:

    Ein Artikel, der exakt die Glut des Feuers der Revolution schürt. Doch der Tenor ist gewaltsam. Wichtig ist jetzt Heiterkeit zu bewahren. Ja, Heiterkeit, trotz alledem.

    Lasst uns dafür sorgen, dass aus dieser Gesellschaft ein neuer Mensch/Student entsteht. Der sein Bachelor ins Meer wirft. Der Rosa als neue Farbe der „Reinigungsutensilien im Örtchen“ betrachtet und sich auch in der Öffentlichkeit, stringent daran orientiert. Niemals wieder darf ein Waffelschatten aufziehen. Niemals wieder dürfen billige Kopien Harry (Horge) Potters Gehör finden. Freie Menschen, werden jetzt durch die Alleen ziehen und public viewings mit Pipi Langstrumpf gestalten.

    Und dennoch ist auch diese Regierung ist auch eine Scheißregierung, aber sie ist die erste Regierung des geknechteten Volkes. Menschen werden zu MasterInnen, „Jeannies“ werden die neuen Bezeichnungen der HiWis sein, das Juridicum zur Gedenkstätte des nie wiederkehrenden Terrors von Mitteextremistischer Gewaltherrschaft.
    Nie wieder wird etwas rechter sein, als ein Linksabbiegegebot auf einem Straßenschild.

    Der erste Schritt ist getan, lasst uns behutsam, die zarte Pflanze der Befreiung pflegen uns gedeihen helfen, und darauf achten, dass wir keinen Wurm zertreten, denn wer einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.

    Auf die neue gesunde Gesellschaft, Genossen!

    Hört die Signal und nicht die Sirenen.

    Für Frieden uns Sozialismus: Seid bereit!

  14. ccc sagt:

    Jetzt heißt es: Sich beweisen und es besser machen. Wobei es nicht so schwer fallen dürfte, auf die Koks- und Nutten-Partys zu verzichten – oder doch? 🙂

  15. ccc sagt:

    Nicht mal mehr 1/3…

    Die Wahlbeteiligung lag bei 28,35 Prozent.
    Damit ist sie um fünf Prozent im Vergleich
    zum Vorjahr gesunken (33,35 Prozent).

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