Jacqueline van Maarsen

Ein Buch für Anne Frank
von am 10. Juni 2013 veröffentlicht in Kultur, Tagessatz, Titelstory

Anne Franks Freundin Jacqueline van Maarsen und ihr Ehemann im Literarischen Zentrum. Bild: Ute Kahle.

Den Namen Anne Frank kennen viele, aber Jacqueline van Maarsen kannte das jüdische Mädchen persönlich: „Erzählen werde ich Ihnen von meiner Freundschaft mit Anne, die später Anne Frank werden sollte.“ Bescheiden und beeindruckend begann Jacqueline van Maarsen im literarischen Zentrum in Göttingen ihre Lesung aus ihrem Buch „Deine beste Freundin Anne Frank“. Nach der Lesung nahmen sich die Zeitzeugin und ihr Mann Ruud Sanders Zeit für einen Kaffeeklatsch mit unserem Medienpartner Tagessatz.

Jacqueline van Maarsen: Ach wie schön ich kann niederländisch reden, ich bin heute schon recht müde, es strengt doch sehr an das Reisen und die bekannte fremde Sprache.

Tagessatz: Darf ich ihnen die aktuelle Ausgabe des TagesSatzes überreichen? Da ist ihre Lesung heute die Empfehlung des Monats.

Wie schön und schau mal Ruud, sogar mit Bild. Darf ich die mitnehmen?

Selbstverständlich, es ist uns eine Ehre.

Ruud steck sie bitte in die Tasche. Er ist ja meine große Stütze, ohne ihn ginge das alles mit dem Reisen nicht mehr. Innerhalb von Amsterdam geht es noch, da fahr ich dann schnell mit der Tram und wenn es mit dem Auto zu erreichen ist, fährt er mich. Aber weiter weg ist es doch sehr beschwerlich. Wir sind ein tolles Team. (In diesem Moment macht Ruud Sanders schnell ein paar Fotos fürs Familienalbum).

Hatte das Datum der Veröffentlichung ihrer Geschichte einen Zusammenhang mit dem Besuch Richard Weizsäckers?

Das war ein Zufall, denn ich hatte nun langsam begriffen. Es ist Zeit zu Berichten. Um eine Waffe zu haben gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung. Nicht nur in Deutschland rühren sich die Neo-Nazis.

Es hatte aber auch damit zu tun das einige Missstände gab, mit denen ich nicht einverstanden war. Anne Frank fand als Person zu wenig Beachtung. Menschen missbrauchten ihren Namen, sie wurde regelrecht kommerziell ausgebeutet, selbst in der Anne Frank Stiftung. Heute gibt es dort eine eigene Anne-Frank–Abteilung, früher ging es nur allgemein um Rassismus und Antisemitismus, das gefiel mir überhaupt nicht.

War ihnen bekannt, dass es in verschiedenen Ländern gekürzte Versionen des Tagebuches der Anne Frank gab?

Das habe ich erst später erfahren. Es wurde ja auch eine neue Ausgabe veröffentlicht. Da stand nun auch manch ungeschminkte Wahrheit gedruckt. Anne war auch sehr besitzergreifend, sozusagen die andere Seite von Anne. Eine Seite, die Menschen nicht kannten, über die auch nicht viel erzählt worden war. Nun hatte ich darüber in meinem Buch erzählt. Es war nicht alles nur schön was ich mit Anne erlebt hatte. Aber alles war sehr intensiv.

Das Göttinger Straßenmagazin TagesSatz will soziale Missstände aufzeigen und als Sprachrohr für alle sozial Benachteiligten und Ausgegrenzten dienen. Er will dazu beitragen, Armut und Ausgrenzung sichtbar zu machen. Sein Ziel ist es, Menschen in besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und sie bei der Überwindung ihrer Schwierigkeiten zu unterstützen. Ihr könnt diese Menschen dabei unterstützen, in dem ihr bei den StraßenverkäuferInnen ein Exemplar des monatlich erscheinenden Magazins erwerbt. Im Rahmen unserer Medienpartnerschaft mit dem TagesSatz veröffentlichen wir aus jedem Heft einen Artikel bei uns.
www.tagessatz.de

Wie schwierig war die Freundschaft mit Anne durch ihre Besitzansprüche?

Sehr schwierig, ich sollte ja mit niemand anderem spielen oder Zeit verbringen. Anne war sehr besitzergreifend und heute, rückwirkend betrachtet, ist diese Zeit natürlich sehr kostbar. Mir war in Erinnerung geblieben, dass sie aus Neugier meine Brüste anfassen wollte. Das war mir unangenehm und ich habe ihr da auch die Grenzen unserer Freundschaft gezeigt. Da war sie mir erst böse, aber wir haben uns auch schnell wieder vertragen und die letzten Wochen war unsere Freundschaft wieder sehr eng.

Eine heutige Freundin von mir ist auch so ein Mensch, sie ruft manchmal einfach an und möchte meine Stimme hören. Das war mir erst etwas fremd, wir könnten doch genauso gut auch mailen. Aber es ist für sie etwas anderes und das habe ich gelernt zu respektieren.

Es war auch eine sehr intensive Freundschaft mit Anne, ich war das genaue Gegenteil von ihr. Sie war extrovertiert und wollte berühmt werden, ich war introvertiert und schüchtern. Und auch durch den Kontakt mit ihrem Vater Otto Frank bin ich doch ein paar Mal über meinen Schatten gesprungen und es hat mich auch verändert, das beschreibe ich sehr detailliert in meinem zweiten Buch.

Hat denn Annes Vater auch manchmal Zweifel gehabt und sich an der Vermarktung gestört? Gerade in Bezug auf die Ausstellung in Amsterdam?

Er wäre nun zufrieden, denke ich. Er war ja lange Zeit unzufrieden mit der Art und Weise der Darstellung seiner Tochter. Denn er fand genau wie ich, es ging in die falsche Richtung. Es hätte ein Hauptaugenmerk sein sollen, dass sie Juden waren. Bei Kriegsende war ich mit 16 Jahren ja noch recht jung, aber später habe ich das besser verstanden. Auch im ersten Film über Anne ist das Jüdischsein ja beinahe versteckt worden. Da ging es nur darum, dass ein Mädchen mit seiner Familie untergetaucht ist. Man hat dann zwar noch ein jüdisches Fest angedeutet, aber das war dann auch der ganze Bezug zur Religion.

Kann man denn heute guten Gewissens in den Niederlanden oder in Deutschland zu seinem Nachbarn sagen, „Ja, ich bin Jude“ oder ist es leider wieder ein stigmatisierendes Outing?

Das ist schwierig, damals waren wir ja Mädchen, Kinder. Wir waren alle gleich, selbst ich, die ja einen jüdischen und einen katholischen Familienhintergrund hat. In den Niederlanden gibt es heutzutage leider eine große Gruppe junger Antisemiten. Das macht mir Sorgen. Da frage ich mich, ob man aus der Vergangenheit nichts gelernt hat. Wir müssen wachsam bleiben.

Was glauben sie würde Anne heute über ihre Bücher sagen, wenn sie sie lesen könnte?

Anne wäre mit Sicherheit auch über genau die Dinge böse gewesen, die mich erzürnt haben. Schließlich habe ich das Buch für sie, sozusagen an ihrer Stelle, geschrieben. Ich bin ja nicht allein. Es gibt ja auch noch eine Kindergarten-Freundin von Anne, die das Konzentrationslager überlebt hat. Sie erzählt auch darüber, sehr gut sogar, aber ihr fehlt leider die Geduld zum Schreiben. Ich hatte sie gebeten, mir beim ersten Buch zu Helfen. Aber es war nicht ihr Weg und das muss ich respektieren.

Ist die Zeit ein Faktor, der gegen sie arbeitet?

Leider ja, aber was mir auffällt ist, das in Deutschland noch am meisten dafür getan wird, sich an die Zeit und ihre Folgen zu erinnern. In anderen Ländern ist das Interesse doch sehr unterschiedlich. Wir waren ja, wie sie auch, in Paris an der Wand der Namen und in der Shoah Gedenkstädte. Das ist eine ganz andere Art des Umganges und auch des Gedenkens.

Jacqueline van Maarsen zeigt mir und Ruud Sanders ein gemeinsames Foto mit Otto Frank: Schau mal, da erkennt man das Wesen von Otto und mir. Er ganz offensiv und ich schüchtern und verlegen.

Da kommt mir Herr Frank aber auch so sehr warmherzig, so gefühlvoll vor. War er als Mensch auch so? Wir reduzieren ihn in Gedanken ja leider immer auf den Begriff: Vater von Anne Frank.

Ja das war er. Ein fröhlicher und gut gelaunter Mann und wenn es nicht die Kriegszeiten gewesen wären… aber er war sehr stolz auf seine Töchter und froh der Welt von Anne erzählen zu können.

Fühlen sie sich denn heute mehr als Jüdin als damals, oder ist es ein ganz anderer Bezug?

Das werde ich sehr oft gefragt. Nach dem Krieg habe ich es niemanden erzählt, es ergab sich einfach so und wir hatten auch ganz andere Sorgen. Nachdem ich Ruud geheiratet habe, war ich der Meinung, mich mehr um meine Identität kümmern zu müssen und pflegte den Umgang mit der jüdischen Gemeinde. Mein Mann war ja als „Neffe“ untergetaucht in einer christlichen Familie, das hat ihn auch geprägt. Heute sagen viele, ich bin jüdischer als er.

Eigentlich bin ich eine einfache Buchbinderin, das ist ein so wunderschöner Beruf und ich habe immer gedacht ich würde das bis ans Ende meines Lebens machen Zu Hause liegen immer noch drei Bücher, die ich unbedingt fertig machen möchte.

„Deine beste Freundin Anne Frank“, „Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank“ und „Die Erbschaft“ erschienen im S.Fischer Verlag

Interview geführt und übersetzt von Ute Kahle

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