Migrationsgeschichte

„Erinnerungspolitische Antwort“
von am 20. März 2013 veröffentlicht in Hintergrund, Migration

Ausstellungscontainer vor dem Göttinger Bahnhof. Foto: C. Piltz.

Die Ausstellung „Movements of Migration“ zieht sich vom Bahnhof mehrere Straßen bis an das andere Ende der Innenstadt – unauffällig aber anklagend erzählt sie die Göttinger Geschichte der Migration. Noch bis zum 30. März offenbart sie Einblicke in eine Welt, die zu viele bisher übersehen haben.

Jahrzehnte sind mittlerweile vergangen, aber das Unbehagen bleibt. Im schummrig-dunklen Inneren eines Containers, mitten auf dem Göttinger Bahnhofsplatz zwischen den Reisenden mit ihren Trolleys und Taschen, versetzen schlichte Comicbilder den Betrachter zurück in den November 1963. In eine Zeit, in der griechische Gastarbeiter zu viert in kleinen, spärlich eingerichteten Zimmern lebten. In der sie zu miserablen Arbeitsbedingungen bei einer Göttinger Holzfirma arbeiteten und Rassismus und Ausgrenzung zum Alltag gehörten.

Doch das alles sollte ein Ende haben. Zuerst streikten sie, einige Tage später verließen die Arbeiter Göttingen. Übergroße Schwarz-Weiß-Fotografien am Container zeugen vom „Protestmarsch nach Griechenland“: Menschenmassen bepackt mit Koffern und Taschen sind zu sehen. Die Bilder und Zeichnungen sind Mahnmale gegen menschenunwürdige Verhältnisse.

Unbeachteter Container

Hier, am Bahnhof, dem gemauerten Symbol für Mobilität, Reisen und Hektik, beginnt einigermaßen unauffällig die Göttinger Ausstellung „Movements of Migration“. Etlichen Passanten strömen an diesem Tag in Richtung Innenstadt an dem Stahlkubus vorbei. Kaum einer hält inne, bleibt stehen, schenkt dem Container einen Blick.

Monatelang haben Studenten der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie in Archiven geforscht, Zeitzeugen interviewt und mit Mitarbeitern von Behörden und Firmen geredet. Am Ende entstand eine umfangreiche Ausstellung über Migration in Göttingen. Es ist die erste ihrer Art. Und: Sie zieht sich vom Bahnhof mehrere Straßen bis an das andere Ende der Innenstadt.

Für Sabine Hess entstand mit dieser Sammlung migrantischer Erfahrungen eine „erinnerungspolitische Antwort“. Die Professorin der Kulturanthropologie leitete in den vergangenen Semestern das Projekt. „Die Aufarbeitung der neueren Migration ist seit 1945 kaum vorhanden“, bemängelt sie. „Die Geschichte der Migration darzustellen, ist eine radikale Herausforderung, die ein Neudenken erfordert“, sagt Hess. Und Voraussetzung, um am Ende ihr Ziel umsetzen zu können: die Geschichte einer Stadt anhand der Migration zu erzählen.

Fast jeder fünfte Göttinger hat einen Migrationshintergrund, sie kommen aus 172 Nationen. Und doch seien ihre Erlebnisse und Erfahrungen, Probleme und Hoffnungen zu wenig präsent. Hess und ihr Team aus Forschern und Künstlern wollen nicht nur eine Seite der Medaille zeigen – bei ihnen hat die Medaille unendlich viele Seiten.

Eine Installation an einer großen Pappwand zum Beispiel zeigt die mühsame Flucht eines Syrers aus seiner Heimat. Umwege und Hindernisse prägten seine Reise über Istanbul, Athen und Basel bis nach Göttingen zu seinen Verwandten. Bei dieser Betrachtung ist Göttingen Bestandteil eines komplexen Geflechts von sozialen Netzwerken und geltendem EU-Recht. Auf der Rückseite der Wand spielen die Künstler wiederum mit dem Kontrast und zeigen eine Collage von touristischen Werbeplakaten aus Reisebüros, mit dabei: die Türkei und Syrien.

„Insbesondere Städte haben schon immer eine wechselvolle Geschichte, die mit der Migration verbunden ist“, sagt Hess. Die Wissenschaftlerin ist eine Frau der klaren Worte. Manchmal wird sie so deutlich, dass sie später bittet, die letzten Sätze zu streichen. „Ich finde es unerträglich, wie bislang in der Wissenschaft und Öffentlichkeit über Migration geredet wird“, sagt Hess. Migration werde oft als Problem behandelt. Oder aus dem Blickwinkel des kulturell Besonderen betrachtet. „Sie wird aber selten als eine schon immer gesellschaftsprägende und gestaltende Kraft gesehen.“

So verzichtet „Movements of Migration“ auf folkloristische Ausbrüche und hangelt sich von Biografie zu Biografie, um am Ende das Bild der Gesellschaft puzzleartig zu vergrößern. Als Mittel dienen Installationen im Göttinger Künstlerhaus, das Zentrum der Ausstellung ist, aber grundsätzlich eher eine Station von vielen auf dem stadtweiten Parcours sein will.

Verhaltener Einschnitt

„Wir wollen nicht nur in Kunsträumen sein, sondern zeigen, wie Geschichte und Stimmen in den Stadtraum zurückgebracht werden“, sagt Hess. Dorthin, wo ihrer Ansicht nach Migration hingehört.

„Movements of Migration“ soll eine Intervention in den öffentlichen Raum sein. Streift man nun durch die Göttinger Innenstadt auf den Spuren des Parcours, fällt dieser Einschnitt verhalten aus. Kleine Geschäfte sind Stationen, auch die Studienzentrale der Uni. Der Gang in geschlossene Räume wirkt zuerst wie ein Rückzug.

Doch ist dies auch Teil des Konzeptes: Denn dort, beim Coiffeur Maquillage oder beim Imbiss Europic, verschwimmt die geschichtliche Aufarbeitung der Migrationserfahrungen mit dem Leben im Hier und Jetzt. Der Betrachter betritt privaten Raum und kommt damit mit anderen in Kontakt.

Zum Beispiel mit Kerime Karagöz. Sie stammt aus der Türkei, betreibt seit 25 Jahren den Friseursalon auf der Goetheallee. Das regelmäßige Schlappen ihrer Flip-Flops tönt durch den Raum, als Karagöz Haarbüschel zusammenfegt. „Endlich wird über Migranten gesprochen“, sagt sie. Und fügt vehement hinzu: „Schließlich sind wir hier!“

Sie unterstützt Hess‘ Projekt, hat im Rahmen der Ausstellung ein Buch über ihr Leben geschrieben. Direkt am Eingang ihres Salons, neben den Illustrierten mit der lächelnden Königin Beatrix, steht nun eine grüne Box mit einem Discman. Interviews und Erfahrungsberichte von Migranten sind zu hören. Aus Indonesien, Syrien, Griechenland. Stimmen von Menschen, die vor Jahrzehnten nach Göttingen kamen. Mit Hoffnung auf einen Neuanfang, aus Angst vor politischer Verfolgung in der Heimat. Und deren Leben dann meist anders verlief, als geplant.

„Mit dem Projekt wird Migration lebendig“, sagt Karagöz. „Es zeigt, was sich alles verändert hat. Aber genauso, was noch vor uns liegt. Schließlich wollen wir vollkommen gleichberechtigt behandelt werden, dieselben Chancen haben wie andere.“

Bei „Movements of Migration“ scheint die Auswahl der beteiligten Geschäfte auf den ersten Blick etwas einseitig: Dönerläden und Friseure dienen als Zeichen migrantischer Selbstständigkeit, doch brechen die Veranstalter an der nächsten Ecke damit und der internationale Kampf um akademisches Know-how steht im Fokus. Hier zeigt sich Göttingen als die Stadt, die Wissen schafft. Mit diesem Slogan wirbt die Stadt offiziell für sich und ihre Universität, die weltweit aktiv ist. In der akademischen Welt spricht man dann von Internationalisierung; über unzählige Netzwerke finden Studenten aus China oder Indien nach Göttingen.

Die Forscher und Künstler zeigen das mit einem schlichten Plakat: Carl Friedrich Gauß in der Gestalt des Uncle Sam mit dem deutlichen Spruch „We want your Brain“, wir wollen dein Gehirn. Die Ausstellung ist mit einer Litfaßsäule im Herzen der Stadt angekommen, auf dem Göttinger Marktplatz. Jahrhunderte alte Fachwerkhäuser prägen dort das Bild der Stadt, an vielen hängen marmorne Platten mit Namen bekannter Persönlichkeiten, die in jenen Häusern gelebt haben.

„Movements of Migration“ will nichts beschönigen, es will auch nichts verstecken. Was es schon will: anklagen. Der ausgestreckte Zeigefinger begleitet auf dem Parcours. Als Warnung und Kritik zugleich. Warnen, um nicht wieder in alte Denkmuster zurückzufallen; kritisieren, um all das zu zeigen, was von Seiten der Politik, Unternehmen oder auch der Universität im Argen lag und liegt.

So sind Hess und die anderen Forscher bei der Stadt während der Recherchen auf Unverständnis gestoßen. „Hätten wir uns auf positive Beispiele beschränkt, wäre bestimmt mehr Geld geflossen“, sagt sie. Sie vermied es dennoch, integrationspolitische Ansätze in das Konzept einzubauen. Die Wissenschaftlerin berichtet von der durchweg zögerlichen Unterstützung der Behörden. „Es gibt hier eine Panik vor kritischen Tönen“, sagt Hess und redet sich wieder in Rage.

Alte Akten, Fotos, Dokumente von Behörden und Firmen seien oft vernichtet worden. Ob es an den Jahrzehnten liegt, die mittlerweile vergangen sind, oder es andere Gründe hat, wissen sie nicht genau. Die Gruppe war deswegen auf private Sammlungen angewiesen. „Viele hätten dabei nicht gedacht, dass ihre Geschichte ausstellungswürdig ist.“

Im Falle des griechischen Arbeiterkampfes in den 1960er-Jahren mussten die Forscher bis nach Athen fliegen, um Informationen zu bekommen. Die Holzfirma will von den Protesten nichts mehr gewusst haben. Und die Akten der Verwaltung waren längst geschreddert. Auch diese Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung sind im Comic am Bahnhof verarbeitet. Und verstärken das Unbehagen.

Christopher Piltz – ursprünglich erschienen in der taz Nord

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Ein Kommentar auf "„Erinnerungspolitische Antwort“"

  1. Genna sagt:

    finde den Ansatz sehr lobenswert! und die Arbeit, die sich die Beteiligten Menschen damit gemacht haben.

    Ich frage mich allerdings, ob der Versuch, Migration zu historisierend darzustellen in einer Stadt erfolgreich sein kann, in der die Integration der Kriegsflüchtlinge nach 1945 (immerhin etwa die Hälfte der Göttinger Bevölkerung) und ihre Folgen für bestimmte Mentalitäten hier und deren Funktionalisierung durch die realen machttragenden Institutionen kein Thema sein d a r f , denn dann käme mehr über den alltäglichen Rassismus als gewohntes und liebgewonnenes Machtinstrument heraus.

    Die Kombination aus wissenschaftlicher Alleinstellung und den dazugehörigen „perfekten“ Organisationsformen mit den Traditionen einer gnadenlosen Autoritätshörigkeit ist für Göttingen sehr bezeichnend und erzeugt viel alltägliches Elend!

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