275 Jahre Universität Göttingen
Jubiläum mit Demo und Schnittchen
von Harvey am 30. Mai 2012 veröffentlicht in UnipolitikDie Universität Göttingen feiert ihr 275jähriges Bestehen. Dazu schmückt sie sich mit einem Strauß von Veranstaltungen – den Auftakt machte am Dienstag nach Pfingsten der „Festakt“ mit anschließendem „Festempfang“. Dazu hatte sie sich eine illustre Gästeschar geladen. Aber auch Überraschungen und Ärger ins Haus geholt: Mehrere hundert Studierende protestierten gegen elitäres Gehabe und Studiengebühren, der Festakt wurde von einem Polizeiaufgebot penibel abgeschirmt. Und eine weitere Demo beschäftigte sich davor mit ganz bestimmten Gästen.
Schon am Mittag startete am Arbeitsamt die Demonstration „Gegen die Ingenieure des deutschen Vormachtstrebens“, zu der die Anarchosyndikalistische Jugend Göttingen aufgerufen hatte. Gut 40 Menschen folgtem dem Aufruf, der sich gesellschaftlichen Themen wie den Hartz-IV-Gesetzen, Arbeitszwang und neoliberale Wirtschaft richtete (siehe Aufruf). Konkret war sie an den niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister und Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder addressiert, die die Uni zum „Festakt“ am Nachmittag eingeladen hatte. An mehreren Stationen wie dem Cinemaxx, dem privat bewirtschafteten Parkhaus am Bahnhof, der kik-Filiale oder vertretend für den Arbeitgeberverband im Einzelhandel auch der REWE-Filiale wurde auf unsoziale Arbeitsbedingungen hingewiesen. Der Demonstrationszug, der schließlich durch die Innenstadt und dann zum Wilhelmsplatz zog, wurde dabei von einem unverhältnismäßig großem Polizeiaufgebot begleitet.
Mit einem „Lauti“ zogen gut 40 Demonstrant_innen und eine halbe Polizei-Hundertschaft los.
Das Cinemaxx hatte gerade noch kritische Töne zum Umgang mit seinen Beschäftigten zu hören bekommen
Die Demo zog dann in die Innenstadt, dann noch einmal zum Rathaus und schließlich zum Wilhelmsplatz
Dort war schon seit dem Mittag alles abgesperrt
und Bereitschaftspolizei aus Braunschweig, Hannover und Göttingen in Reserve in der Seitenstraße
…während der Uniklinikums-Sicherheitsdienst die Tür des Unipräsidiums bewachte.
Am Wilhelmsplatz wurden ab dem frühen Nachmittag Absperrungen errichtet. Zum Präsidium wurden an den Polizeiposten nur eingeladene Gäste vorgelassen. Während sich hinter der Absperrung draußen Studierende versammelten, die dem Aufruf „Für eine (Kosten)FREIE UNI!“ des Politkollektivs (auf Facebook) gefolgt waren. Zu den bereits gut dreihundert Anwesenden gesellte sich dann auch der mittlerweile selbst noch gewachsene Demonstrationszug.
Ab 16 Uhr füllten sich in der Aula im Präsidiumsgebäude die Sitzplätze. Neben Lokal-, Landes- und Bundespolitik waren auch viele Gäste geladen, die mehr (wie Ex-Ministerin Rita Süssmuth) oder weniger (wie Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder) mit Göttingen und der Universität zu tun hatten. Zusammen mit den Rektor_innen anderer europäischer Universitäten, die in ihren seltsam anmutenden „Amtstrachten“ erschienen, hatten die „Spitzengäste“ Platzkarten für die Aula selbst. Auf der Galerie und im Vorraum der Aula durften dann studentische Senatoren, Professor_innen und andere Gäste selbst einen Sitzplatz aussuchen. Begleitet vom Universitätsorchester gab es dann eine Kaskade von je gut zehnminütigen Reden. Die widmeten sich den in Göttingen immer wieder zitierten Universitäts-Gründungsgeschichte, anderen historischen Highlights und den vielen Nobelpreisträgern*. Die Gäste müssen derweil leiden: Da von der Kundgebung draußen ein stetiger Hintergrundlärm zu hören war, wurden alle Fenster geschlossen gehalten. Es wurde entsprechend stickig.
Kritischere Töne schlägt noch einmal der AStA an, für den der Vorsitzende Tobias Fritzsche und die Finanzreferentin Maj-Britt Sundqvist hinter das Pult traten. So gebe es viele Gründe, eher nicht in Feierlaune zu sein: neben den Studiengebühren wurde auch Elitenförderung, insbesondere die Exzellenzinitiative aufgezählt.
Für größere Überraschung sorgt dann aber der feierliche Festvortrag. Prof. Hans-Ulrich Wehler, ein Historiker und „Experte für deutsche Sozialgeschichte“ wurde im Programm mit dem Vortrag „Aufklärung in Göttingen – im 18. Jahrhundert und heute“ angekündigt. Wohl gegen die Erwartung vieler lag dann aber der Schwerpunkt deutlich auf dem „heute“ – und die Aufklärung wurde ganz praktisch in die eigenen Hände genommen. Vom Rednerpult rechnete Wehler ab: Mit Geschlechterungleichheit, insbesondere Lohnungleichheit und Zugangsmöglichkeiten. Mit dem „Turbokapitalismus“ und neoliberaler Wirtschaftslehre. Und mit hohen Manager-Boni, die mit einem kurzen Blick in die jüngere Geschichte auch mit ganz konkreten Zahlen benannt wurden. Dann knöpfte er sich die Vermögensverteilung vor und warnte: Hier sei gerade ein Teil der Gesellschaft, der Billionen an Kapital auf sich vereint, dabei, dieses an die nächste Generation zu übergeben. Er plädierte für eine weit höhere Erbschaftssteuer, die von den „zwei Billionen Euro“ eine Billion abführt, womit dann wiederum in Bildung und Kultur investiert werden könne.
Nachdem sich die Überraschung im Publikum ein wenig legte, gab es hier und dort Zwischenapplaus. Wehler schloß seine Rede mit der Aufforderung, das alles zu den kommenden Wahlen im nächsten Jahr nicht zu vergessen und statt „Kleinigkeiten“ wie dem Betreuungsgeld über die viel ernsthafteren Fragen zu diskutieren. Den Applaus zum Schluss bekam Wehler nicht aus der Mitte mit den Platzkarten-Besitzer_innen. Die Göttinger CDU’ler Noack und Güntzler saßen versteinert da. Zwischen ihnen saß dabei Gabriele Andretta (SPD), die begeistert klatscht. Und die meisten Ovationen kamen dann eher von den „billigen Plätzen“ ringsum.
Durstig zogen die Gäste vom Präsidiumsgebäude hinüber in die Wilhelmsmensa. Wohl noch mit Wehlers Worten im Kopf wurden sie gleich hinter der großen Präsidiumstür von mehreren hundert Studierenden empfangen, die ihnen lauten Protest entgegen schrieen. Eine Polizeikette und Absperrgitter hielten die Demonstrant_innen auf Distanz. Die Polizei filmte die Kundgebung ab – darauf angesprochen wurde erklärt, es habe Würfe von Gegenständen gegeben. Vielleicht hatte der Papierflieger damit zu tun, der in der Nähe im „Sicherheitskorridor“ lag. In der ehemaligen Mensa gab es dann für die geladenen Gäste Sekt, Wein und Häppchen – und keine Festtagsreden mehr. Das Buffet eröffneten die Gäste kurzerhand selbst und verabschiedeten sich nach und nach.
Traditionelle Rektoren-Gewänder, nicht etwa Bademäntel und Handtuchhauben
Ministerpräsident McAllister spricht endlich am richtigen Ort über seine „britischen Wurzeln“: Die Uni hat auch welche
Nach dem Ende des Festakts geht es nach draußen. Da wartet schon die lautstarke Kundgebung.
Transparente, Parolen und Wut auf Eliten empfangen – nun ja, die selbsterklärten Eliten.
Die Polizei trennt so zum Beispiel Oberbürgermeister Meyer (links mit Kette) und Studierende (rechts, hinter Kette)
Nach der Aufregung gibt es dann für die Gäste erstmal Stärkung – dazu wird Sekt, Wein, Saft und Wasser gereicht
* Die einzige Nobelpreisträgerin in diesem Zusammenhang könnte vielleicht noch Maria Göppert-Mayer sein, die immerhin einen „halben“ Nobelpreis bekam – allerdings hatte sie bereits 30 Jahre zuvor Göttingen verlassen und war in die USA ausgewandert.
Die Vorträge beim Festakt, auch den von Prof. Wehler, der wohl der einzig wirklich gehaltvolle ist, gibt es übrigens hier bereits online: http://www.uni-goettingen.de/de/361300.html Zu den aktuell politisch brisanteren Themen kommt Wehler so etwa bei 8’00“.
@ Harvey: Da hat Wehler einigen aber ein schockgefrorenes Lächeln aufs Antlitz gezaubert, u.a. der Mc Allister war nicht so recht amused. 🙂
Dabei muss noch mal betont werden, dass Wehler noch nicht einmal etwas Radikales von sich gegeben hat, sondern das war klassische sozialdemokratische Umverteilungspolitik, Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und eine Prise Keynesianismus. Mittlerweile sind wir offenbar schon so weit nach rechts gerückt, dass mensch schon froh sein kann, wenn jemand im öffentlichen Rahmen überhaupt noch solche Dinge anspricht.
Interessant waren seine (bzw. die des Statistischen Bundesamtes) Angaben zu den Beträgen, die da innerhalb weniger Jahre privat an Erben gewandert sind. Da wird noch einmal die Dimension klar, um die es bei den angehäuften Kapitalmengen geht, die da in den Händen einiger weniger Bourgeoises liegen (und vor dem eigenen Ableben noch schnell der eigenen Brut vermacht werden). Gleichzeitig werden der Arbeiterklasse (und Teilen der Zwischenschichten) Reallohnverluste eingeschenkt und der Sozialstaat abgewrackt.
Ja, das Antlitz der Gäste war es definitiv wert. Da habe ich mich auch über’s Geländer gebeugt um zu sehen, wie die „Logenplätze“ (die diesmal eher das „Parkett“ waren) so reagieren. Da war insgesamt eher Verwirrung oder eisiges Schweigen angesagt. Das GT hat dem ja tatsächlich auch noch die Ilse-Stein-Wochenend-Kolumne gewidment (und es ist sogar etwas „klammheimliche Freude“ darin spürbar gewesen).
Ansonsten war es die zu erwartende Langeweile. Ich gebe aber völlig recht: Radikal waren die Thesen nicht. Mir ist eher „pastoral“ als „sozialdemokratisch“ eingefallen, aber wer weiß, vielleicht ist das ja nicht weit auseinander 😛