Mittelalter-Casting in Heiligenstadt
Zwischen Dudelsack und Beinprothese
von Fernseherin am 22. April 2012 veröffentlicht in Kultur, SonstigesHeiligenstadt im Eichsfeld, der Himmel ist heiter bis wolkig. Auf dem Weg hinauf zum Best Western Hotel bläst der kühle Wind uns Dudelsackklänge entgegen. Die quakigen Instrumente künden von der Veranstaltung, der wir im folgenden beiwohnen werden, wie die Trompeten vom Jüngsten Gericht. Doch mein Begleiter und ich lassen uns von diesen finsteren Assoziationen nicht abschrecken – wir folgen dem Aufruf aus den regionalen Printmedien und nehmen an einem Casting teil. Gesucht werden Kompars_innen für die im Juni anstehende Verfilmung des Mittelalter-Romans „Der Medicus“. Der fast exakt im Stil einer SaniFair-Toilettenanlage gestaltete Eingangsbereich des Wellness-Hotels ist Schauplatz eines Massenauflaufs.* Es winken schließlich miserabel bezahlte 10,5 Stunden-Drehtage in einem aufsehenerregenden Kostümschinken, die eigene Visage im Hintergrund eines Blockbusters.
Zeigt her eure Visagen
Die Suchkriterien der mit dem Casting beauftragten Agentur „Filmgesichter“ waren kurios, und wurden von mehreren Zeitungen, so auch vom GT, vollkommen zurecht als „unfreiwillig komisch“ bezeichnet. Gesucht würden „durchschnittlich aussehende Menschen ebenso wie markante und einprägsame Gesichter mit großen Nasen, großen Ohren, abstehenden Ohren, Männer mit langen Haaren oder Bärten, speziellen Gesichtern, länglichen Gesichtern, spitzen Gesichtern, Kleinwüchsige, Riesen, Einäugige, Menschen mit Amputationen, Menschen mit Zahnlücken, Dürre ebenso wie Rubensdamen, „bäuerlich“ aussehende Menschen ebenso wie „adlig“ aussehende Männer und Frauen“. Von derart charmanten Beschreibungen fühlten wir uns als kleinwüchsige, spitzgesichtige Riesen natürlich spontan angesprochen. Dass wir an diesem Samstagnachmittag nichts besseres zu tun haben, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.
Wer ein Event dieser Art mitmacht benötigt aber nicht nur ein spezielles Gesicht, sondern auch einiges an Fitness. Zwei Stunden Schlange stehen sind bei einem Massencasting für hunderte Kompars_innen sicherlich nicht die Ausnahme. Eine Anakonda aus ca. 500 rothaarigen Kleinfamilien, Mittelalterfreaks, interessierten Eichsfeldbwohner_innen und Leuten, die „entdeckt werden“ möchten, schlängelt sich im Schneckentempo vom Eingang durch die Lobby in den ersten Stock. Stehvermögen ist hier gefragt, und um den einen oder anderen geistigen Klimmzug kommt man bei der Beobachtung der mittelalterlich gekleideten Helden und Musikanten auch nicht herum. Sie sind zwar nicht besonders zahlreich, aber fühlen sich durch den Anlass offensichtlich in besonderem Maße dazu berufen, schon vor dem Hotel ihr lustig Gaukelspiel abzuziehen. „Das im hard knock life nichts zählende Individuum will unbedingt was gelten und sucht sich dafür in der Freizeit seine Bühne“, denke ich so bei mir, und habe wahrscheinlich recht.
Schlange stehen bis der Medicus kommt
Erste halbe Stunde: Eingangsbereich. Die Dudelsackspieler vor der Tür nerven. Ich verlasse die Schlange um ein WC aufzusuchen, verlaufe mich dabei fast im ersten Stock. Ich vergleiche die Wegweiser nach meiner Wiederkehr mit dem, so hörte ich, absichtlich verwirrend angelegten System im CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia. Zweite halbe Stunde: Treppenaufgang. Ich frage mich, ob es in der unter uns gelegenen Hotelbar Pommes gibt und wie sympathisch der biertrinkende Mann mit der Kutte vom MC Stahlpakt wohl genau ist, der weiter vorn in der Schlange steht. Dritte halbe Stunde: Empore. Wir füllen unsere Aufnahmebögen aus und ich weiß meine Kragenweite nicht. Mehrfach höre und sehe ich eine Mutter ihren freidrehenden Sohn schimpfen: „Lester!“. Ein ungeduldiger, verwirrter Heiligenstädter fragt mich nach der Postleitzahl von Heiligenstadt. Vierte halbe Stunde: Der Casting-Raum. Die Stimmung steigt, sehr freundliches und professionelles Personal mit der typischen „irgendwas-mit-Medien“-Aura nummeriert den Anmeldebogen. Es werden im Akkord Fotos geschossen, ein Mann vor uns zeigt dazu seine Beinprothese. Wir sind dran und werden geknipst. Mit und ohne Anmeldebogennummer, mit und ohne Mittelalter-Umhang. Ein Hauch von ED-Behandlung, mit der Schlange als Publikum. Ich halte den Laden auf, weil das Kostüm an meinem spitzen Gesicht hängen bleibt. Lester krakeelt herum und rennt im Kreis um die Agenturmitarbeiter. Wir sind fertig und gehen zurück in die Lobby, wo unser seelischer Beistand tapfer ausgeharrt hat.
Nach so einem Casting ist man ziemlich gerädert. Wir verschnaufen kurz und holen uns eine Schale Pommes, die wir sogleich verspeisen, während wir das Ende der Schlange begutachten. „Die Gegenwart hat schon einiges für sich.“, sagt mein Begleiter und dippt den Kartoffelstab in die Mayo. Das Leben im Mittelalter muss noch ungleich härter gewesen sein als all das hier. Wir unterhalten uns auf der Rückfahrt über das Durchlebte und sind uns sicher, eine Rolle zu bekommen. Wir sind nach diesem Ausflug einfach reif für den Medicus.
*Ich möchte diese Aussage als Kompliment für SaniFair-Toiletten verstanden wissen, und nicht als Beleidigung des Hotels.