Kommentar

Rechtsfreie Räume
von am 7. Juli 2011 veröffentlicht in Polizei & Justiz

Polizeipräsident Robert Kruse kann es nicht lassen: bereits zum zweiten Mal geißelt er die polizeikritische Berichterstattung des Göttinger Tageblatts via Pressemitteilung. Den Bezug zur Realität scheint er völlig verloren zu haben.

Nach dem Freispruch von Martin R., dem Polizei und Staatsanwaltschaft „schwere Körperverletzung“ wegen eines angeblichen Böllerwurfs nachweisen wollten, wurde im Gerichtssaal applaudiert und gejubelt. FreundInnen fallen dem Freigesprochenen um den Hals, die Erleichterung steht allen ins Gesicht geschrieben. Vor der Tür dann zünden einige SympathisantInnen kleinere Feuerwerkskörper, eine Freudenkundgabe mit eindeutigem Bezug zum gerade verhandelten Vorwurf. Es sind handelsübliche Feuerwerke, mit denen sonst Kinder spielen, vermutlich das ganze Jahr über frei verkäuflich. Eine Polizistin beobachtet das Geschehen und macht sich Notizen. „Da wird schon die nächste Anzeige vorbereitet“, scherzt GT-Redakteur Matthias Heinzel im Weggehen.

Später liest er in der Pressemitteilung der Polizei, dass sie tatsächlich ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz eingeleitet hat. Die Polizei würde „jeden Kleinkram gnadenlos“ verfolgen, schreibt Heinzel angesichts der puren Idiotie des polizeilichen Vorgehens am Tag darauf in einem Kommentar im Göttinger Tageblatt.

Als Polizeipräsident Kruse das liest, platzt ihm offenbar die Hutschnur. Die Antwort kommt prompt, per Pressemitteilung an unzählige PressevertreterInnen. Die Polizei könne bei der „Begehung von Straftaten“ nicht wegsehen oder „rechtsfreie Räume“ zulassen. „So etwas kann und wird es nicht geben, auch nicht in Göttingen“, schimpft Kruse.

Ein solcher „rechtsfreier Raum“ ist einer, in dem jedeR tun und lassen kann, was er oder sie möchte, weil dort keine Gesetze gelten oder diese nicht durchgesetzt werden. Rechtsfrei ist ein Raum aber auch dann, wenn Einzelne einer schikanösen Verfolgung durch die Ermittlungsbehörden ausgesetzt sind und rechtsstaatliche Vorbehalte von letzteren bewusst umgangen werden, um repressive Maßnahmen durchzusetzen.

Im Fall Martin R. ist genau das passiert. Nur wegen seiner Hautfarbe geriet er in das Visier der ErmittlerInnen, die den Brandanschlags auf die Ausländerbehörde aufklären wollten. Der Staatsanwaltschaft war das damals allerdings noch zu dünn, um eine Vollobservation gegen den Antifa-Aktivisten zu bewilligen. Weil sie an seine DNA gelangen wollte, hängte sie ihm ein Verfahren wegen versuchter schwerer Körperverletzung aufgrund eines angeblichen Böllerwurfs auf einer Demonstration an. Schon dieser Vorwurf einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“, der die Voraussetzung für die DNA-Entnahme im Januar war, war absurd und wurde in der Verhandlung von der Staatsanwaltschaft auch wieder zurück genommen.

Denn die hatte, was sie wollte: den genetischen Fingerabdruck von Martin R.. Aus den Ermittlungsakten im Fall des Brandanschlags ist ersichtlich, dass über ein anderes Verfahren an die DNA gelangt werden sollte, weil die Beweislage im eigentlichen Verfahren nicht dafür ausreichte. Dieses Vorgehen hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun und schaffte für eine gewisse Zeit genau das: einen rechtsfreien Raum.

Martin R. zog die Konsequenz und tauchte unter, wandte sich sogar an das Bundesverfassungsgericht. Doch es half nichts, seine DNA musste er abgeben. Ein halbes Jahr später ist nun klar, dass die erzwungene DNA-Entnahme jeder Grundlage entbehrte. Als nächstes muss der Aktivist die Löschung seiner Daten bei der Staatsanwaltschaft beantragen. Vom Tag seiner Festnahme auf einer Demonstration im Januar 2010, auf der ihm ein Böllerwurf angelastet wurde, bis zum Ende dieses Repressionsmarathons werden am Ende fast zwei Jahre vergangen sein. Keine Kleinigkeit für einen jungen Auszubildenden, der nebenbei sein Leben auf die Reihe kriegen muss.

Rechtsfreie Räume schafft die Polizei also selbst, und zwar regelmäßig. Vor diesem Hintergrund ist diese polizeipräsidiale Pressemitteilung nicht nur angesichts der Geschehnisse wahnsinnig unsensibel, sondern zeugt von einer unglaublichen Arroganz der Strafverfolgungsbehörde. Ein Zeugnis des blanken Realitätsverlusts oder aber der Realitätsverleugnung.

Es ist unter JuristInnen ohnehin umstritten, ob die Polizei (und auch die Staatsanwaltschaft) aktive Pressearbeit machen darf. Viel dreht sich die Diskussion um das Thema Vorverurteilung, denn die Polizei schreibt immer gerne Pressemitteilungen, wenn sie Ermittlungsverfahren einleitet, aber eigentlich nie, wenn sie welche einstellt. Unzählige Fälle zum Beispiel angeblich linker Straftaten landen so in der Presse, auch wenn sich die Vorwürfe vor Gericht nicht halten lassen. Ein objektives Bild zur Arbeit der Polizei entsteht so jedenfalls nicht.

Was die Polizei hier gemacht hat, ist aber noch etwas anderes. Nämlich Politik. Und das ist schlichtweg nicht die Aufgabe der Polizei. Genausowenig wie es die Aufgabe der Polizei ist, eine kritische Presse anzugehen. Bereits zum zweiten Mal rügt Kruse die polizeikritische Berichterstattung im GT. Im vergangenen Jahr war es Polizeireporter Jürgen Gückel, dem Kruse anlässlich dessen kritischer Berichterstattung über die Ermittlungsmethoden der Polizei „tiefe Wissenslücken“ attestierte. Kritik verkraftet der Polizeipräsident, der vom niedersächsischen Verfassungsschutz nach Göttingen gewechselt ist, offenbar schlecht. Das Polizeifest 2010 eröffnete er kurz darauf mit dem schönen und bezeichnenden Satz: „Vertrauen sie nicht immer nur den Mediendarstellungen.“

Das gilt jedenfalls dann, wenn die Medien wieder mal Polizeipressemeldungen unkritisch übernehmen.

Artikel teilen


Themen

, , , ,

2 Kommentare auf "Rechtsfreie Räume"

  1. retmarut sagt:

    Lesenswerter Beitrag.

    Die bestehenden Widersprüche zwischen GT und Polizei sind zu begrüßen. Diese werden vermutlich mittelfristig wieder eingeebnet, aber solange sie wirken, kann das für linke Bewegungen in Göttingen nur von Vorteil sein.

  2. Fleischlego sagt:

    Die PM der Polizei scheint ordentlich eingeschlagen zu sein.
    Vielleicht gibt es in der näheren Zukunft kritischere Artikel vom GT.
    http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/Uebersicht/Pressearbeit-und-Presseschelte

Schreibe einen Kommentar

Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar zu schreiben. Anmelden | Registrieren

Bitte lese dazu unsere Regeln und Hinweise zum Kommentieren.