Antrittsrede der neuen Uni-Präsidentin
Beisiegel lässt aufhorchen
von ottter am 11. Januar 2011 veröffentlicht in Titelstory, UnipolitikMarktwirtschaftslogik, Veröffentlichungsdruck und Schaufenster-Forschung: Ulrike Beisiegel ist mit den herrschenden Zwängen in der Wissenschaft nicht einverstanden. In ihrer Amtszeit als Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen will die Biochemikerin „entschleunigen“ und Platz für kreatives und selbstständiges Denken schaffen.
Seit dem 1. Januar 2011 steht Beisiegel an der Spitze der Uni Göttingen. Sie ist die erste Frau in dieser Position. Die offizielle Amtsübergabe fand am 10. Januar statt, vor 600 geladenen Gästen in der Göttinger Stadthalle. Anwesend waren unter anderem der niedersächsische Ministerpräsident David McAllister und hochrangige VertreterInnen der deutschen Wissenschaft. Vor ihnen sprach Beisiegel einige Missstände im Wissenschaftsbetrieb an. Sie wolle den Leitgedanken der Uni Göttingen ernst nehmen – „Freiraum für Neues Denken“.
Als eine Denkblockade hat Beisiegel die Bologna-Reform mit den Bachelor- und Masterstudiengängen ausgemacht. Man müsse bei den Studierenden das Interesse am selbstständigen Weiterdenken wecken. Auch in der Forschung strebt die 58-Jährige eine „Entschleunigung“ an, um Platz für kreatives Denken zu schaffen und dadurch die Qualität der Wissenschaft deutlich zu steigern. Beisiegel bekannte sich auch zur Volluniversität und unterstrich die Wichtigkeit von Geistes- und Sozialwissenschaften für Universität und Gesellschaft. Eine menschenfreundliche Wissenschaft könne es ohne philosophische und soziologische Kompetenzen nicht geben.
Kommentar
Was Ulrike Beisiegel formuliert, ist keine Revolution. Sonst wäre sie nicht Uni-Präsidentin geworden und würde auch nicht mehrere hochrangige wissenschaftliche Ämter bekleiden. Es ist ein notwendiger Protest gegen die Entwicklungen der vergangenen Jahre, der diejenigen bestärkt, die die Bildungspolitik schon seit Längerem kritisieren. Dass dieser Protest diesmal nicht von unten kommt, sondern von ganz oben, darf Hoffnung machen, dass sich vielleicht ausnahmsweise einmal etwas zum Besseren verändert an der Göttinger Universität. Was von der Antrittsrede auch in Taten umgesetzt werden wird, bleibt natürlich abzuwarten. Daran wird sich Beisiegel messen lassen müssen – die interessierten Studierenden werden das sicherlich tun. Sie können in der neuen Chefin der Georgia Augusta eine Chance auf positive Veränderungen sehen.
Die neue Uni-Präsidentin bemängelte außerdem den „überhöhter Publikationsdruck“ in der Wissenschaft. Vielerorts geschähe nur noch „Schaufenster-Forschung“. Beisiegel wünscht sich stattdessen mehr wissenschaftliche Substanz. Wahrheitssuche und Erkenntnisgewinn müssten die übergeordneten Kriterien der Forschung sein, nicht die Gesetze der Marktwirtschaft. „Von der Unternehmenskultur zurück zu einer akademischen Kultur“, hatte Beisiegel das vor Kurzem in einem beachtenswerten Interview mit dem Hamburger Abendblatt genannt. Selbstverständlich müssten Universitäten dennoch unter Gesichtspunkten wirtschaftlicher Effizienz geführt werden.
Auch im Führungsstil kündigte Beisiegel Veränderungen an. Sie wolle keinen „präsidialen Feudalismus“, sondern einen Austausch auf allen Ebenen, auch mit den Studierenden.
Zur Person
Ulrike Beisiegel, Jahrgang 1952, studierte Humanbiologie in Marburg und wurde 1979 nach einem Promotionsstudium am Fachbereich Medizin in Marburg promoviert. Ein Postdoc-Aufenthalt führte sie an das Department of Molecular Genetics der University of Texas in Dallas (USA), wo sie bei den späteren Nobelpreisträgern Josef L. Goldstein und Michael S. Brown arbeitete. Anschließend kehrte sie nach Marburg zurück, um 1984 an das Universitätsklinikum Hamburg zu wechseln. 1990 habilitierte sie sich an der Universität Hamburg, wo sie 1996 zur C3-Professorin ernannt wurde. Seit 2001 war sie C4-Professorin und Direktorin des Instituts für Biochemie und Molekularbiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. (aus einer Pressemitteilung der Universität)
Prof. Beisiegel war bislang Sprecherin des Ombudsgremiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und Vorsitzende der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates. Darüber hinaus ist sie Senatorin der Leibniz-Gemeinschaft und in weiteren nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gremien tätig. Sie ist außerdem Inhaberin der Ehrendoktorwürde der schwedischen Universität Umeå und zahlreicher weiterer wissenschaftlicher Auszeichnungen.
…wenn jetzt noch die kommenden Uniwahlen zum positiv verlaufen, könnte nach der düsteren Figura-Herrschaft gestaltungstechnisch ja wirklich etwas gehen an der Uni Göttingen…“oben und unten“