Vor 20 Jahren
Nazi-Mord an Alexander Selchow
von Kai Budler am 31. Dezember 2010 veröffentlicht in Hintergrund, NeonazisIn der Silvesternacht 1990 wird in Rosdorf bei Göttingen der 21-jährige Bundeswehrsoldat Alexander Selchow von zwei Nazi-Skinheads ermordet. Es ist der tragische Höhepunkt einer langen Reihe rechter Gewalt in Göttingen. Auch die Polizei kann die Nazi-Übergriffe jetzt nicht mehr unter angeblich normaler Jugendgewalt abbuchen. Die Täter werden bestraft – zu mild, finden Kritiker.
Das Ende der 1980er Jahre war in Göttingen von einem brutalen Straßenterror von Neonazis und Skinheads geprägt. Übergriffe auf vermeintlich Andersdenkende, bewaffnete Wehrsportgruppen, paramilitärische Übungen und Brandanschläge waren an der Tagesordnung. Zum Jahreswechsel 1990/91 erlebte die Bilanz der extrem rechten Gewalttaten im Landkreis Göttingen einen tragischen Höhepunkt. In der Göttinger Innenstadt werden zwei Personen von sechs Neonazis brutal zusammen geschlagen, in Adelebsen endet ein Überfall von fünf Neonazis für ihre zwei Opfer mit einer Schädelfraktur und einem Kieferbruch und in Weende stechen Neonazis einem Passanten mehrfach mit einem Messer in den Bauch.
In Rosdorf stechen und treten zwei Nazi-Skinheads auf den 21-jährigen Bundeswehrsoldaten Alexander Selchow ein: nach einer Notoperation stirbt er an inneren Verletzungen. Selchow war einer der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Insgesamt sind seitdem mindestens 138 Menschen an den Folgen rechter Gewalt gestorben. Das sind etwa dreimal so viele wie staatliche Stellen ausweisen. In einer ersten Reaktion nahmen am Neujahrstag 1991 rund 200 Personen an einer Spontandemonstration in Rosdorf teil, am darauf folgenden Samstag demonstrieren etwa 5.000 Personen in der Göttinger Innenstadt hinter dem Kopftransparent „Wut und Trauer über den Mord an Alex“. Zeitgleich wird auf dem Rosdorfer Friedhof Selchows Leichnam unter großer Anteilnahme der örtlichen Bevölkerung beigesetzt.
„Wir gehen jetzt Linke aufmischen“
Der 21-jährige hatte in einem Haus in der Rosdorfer Bahnhofstraße mit Freunden Silvester gefeiert, bevor er sich kurz nach Mitternacht auf den Weg zu seiner Familie machte. In der Friedensstraße trafen Selchow und ein Freund auf die beiden 17-jährigen Nazi-Skinheads Oliver Simon und Sven Scharf, die ebenfalls in Rosdorf gefeiert hatten. Ihr Vorsatz für das neue Jahr: „Wir gehen jetzt Linke aufmischen“. Ihren vermeintlichen Feind finden sie in dem Bundeswehrsoldaten, den sie mit mehreren Messerstichen und Stiefeltritten gegen den Kopf töten. Anschließend kehren sie zur Feier zurück, berichten „wir haben einen erwischt“ und gehen schlafen.
Graffiti am Haus Nikolaistraße 1
Selchows Begleiter klingelt an einem Nachbarhaus, in dem eine Krankenschwester lebt, die erste Hilfe leistet, bis der Notarzt eintrifft. Schon kurz darauf kommt es zu Attacken der Neonazis auf die Partygäste in der Bahnhofstraße. Augenzeugen berichten: „Plötzlich stehen um 1.20 Uhr zwanzig Faschisten vor der Haustür. Sie wollen das Gebäude stürmen, werden jedoch von Polizeibeamten verscheucht. Statt nun die Faschisten zu verfolgen, um zumindest ihre Personalien festzustellen, beginnen die Beamten, die Anwesenden zu durchsuchen. Durch dieses Polizeiverhalten ermutigt, versuchen die Nazis noch weitere vier Male, die Menschen in der Bahnhofstraße anzugreifen“. Zu diesem Zeitpunkt ist Alexander Selchow bereits tot, seine Mutter erfährt davon erst, als sie selbst am nächsten Morgen nach ihrem Sohn sucht.
„Behauptungen der Autonomen“
In der Folgezeit steht die Polizei massiv in der Kritik: sie sehe nur genau hin, wenn sie es mit der linken Szene zu tun habe und spiele die brutalen Übergriffe der Neonazis als „Konflikte rivalisierender Jugendbanden“ herunter. Eine Kostprobe davon gibt der Chef der Göttinger Schutzpolizei, Lothar Will, eine Woche nach dem Tod von Cornelia Wessman: von Journalisten auf extrem rechte Übergriffe in den vergangenen Jahren angesprochen, antwortet er: „Solche Verhältnisse sind der Polizei nicht bekannt. Vielmehr sind dies Behauptungen der Autonomen gewesen, die sich hier betroffen fühlen und angegriffen fühlen. Es hat solche enormen Belästigungen in Göttingen nicht gegeben, das darf ich ausdrücklich feststellen“. Auch der Verfassungsschutz kommt in seinem Bericht für das Jahr 1989 zu dem Schluss, bei Nazi-Skinheads könne „eine eigentliche Steuerung durch Rechtsextremisten nicht oder nur im Ansatz beobachtet werden“.
Nach dem Jahreswechsel 1990/91 ändert sich das Verhalten der Göttinger Polizei gegenüber der Öffentlichkeit. Auf die Frage nach Überfällen vor dem tragischen Ereignis erklärt Will: „Das ist richtig, es sind Vorfälle gemeldet worden, die natürlich im Nachhinein sicherlich was die Ermittlungsarbeit angeht, verfolgt worden sind“.
Neonazi Karl Polacek (Mitte) mit befreundeten US-Polizisten (Repro eines Fotos aus der Broschüre „Naziaktivitäten und Polizeiverhalten in Südniedersachsen“, 1990)
Dabei sind bei der Göttinger Staatsanwaltschaft allein im Jahr 1990 105 Ermittlungsverfahren gegen Neonazis anhängig, stets waren Waffen mit im Spiel wie Baseballschläger, Stahlruten und -ketten oder Gaspistolen. Auch Karl Polacek, Funktionär der 1995 verbotenen extrem rechten „Freiheitlichen Arbeiter Partei“ (FAP), muss sich vor Gericht verantworten: er hatte im Juli 1990 eine Frau in Mackenrode mit einer Axt angegriffen.
Mehr als nur zwei Täter
Der 1934 in Wien geborene Polacek galt vielen als „Drahtzieher“ und „Hintermann“ der Tat in Rosdorf. Spätestens seit 1986 war sein zur Festung ausgebautes Schulungszentrum in Mackenrode immer wieder Ausgangspunkt der extrem rechten Gewalt auf den Straßen in und um Göttingen. Die Gewaltphantasien, die er für seine politischen Feinde hegt, gibt Polacek in seinem Schulungszentrum an seine meist jugendlichen Anhänger weiter – unter ihnen ist auch der später als Haupttäter verurteilte Oliver Simon (Bild rechts, Repro eines Fotos aus der Broschüre „Naziaktivitäten und Polizeiverhalten in Südniedersachsen“, 1990).
Er soll als Anführer der Neonazi-Gruppe aufgebaut werden, die lange Zeit von Thorsten Heise gelenkt worden war. Heise tauchte 1990 ab, weil die Staatsanwaltschaft gegen ihn Haftbefehl erließ. In Mackenrode werden Simon und andere Jugendliche als Wachschutz eingesetzt, sie nehmen an Sonnenwendfeiern und Wehrsportübungen mit militärischem Drill teil und werden unter dem Bild von Adolf Hitler ideologisch geschult.
Auf die Frage nach der Möglichkeit weiterer Tote erwidert eine junge FAP-Anhängerin in einem Interview nach dem Mord: „ Also es kann durchaus passieren“. Auf den Druck der Öffentlichkeit wird der inzwischen fünf mal rechtskräftig verurteilte Österreicher Polacek 1992 ausgewiesen. Er setzt in seinem Heimatland seine Schulungsarbeit fort und leugnet in seiner Hetzschrift „Braunauer Ausguck“ den Holocaust in NS-Deutschland. Hatte er dort noch geschrieben „Wir bekennen uns zum politischen Guerillakrieg (…) Wir verzichten auf Parteien und Wahlen und den ganzen Demokrötenmist“, fordert Polacek 2008 „alle jungen Kameradinnen und Kameraden“ auf, in die NPD einzutreten. Er selbst hatte die Partei 1985 verlassen, werde ihr aber auf Heises Anraten wieder beitreten.
„Die Gesellschaft löst sich von der Mitte auf“
Ab August 1991 findet die juristische Aufarbeitung der Tat zum Jahreswechsel statt: im so genannten Silvestermord-Prozess müssen sich Oliver Simon und Sven Scharf vor dem Landgericht Göttingen verantworten. Wegen ihres Alters zum Tatzeitpunkt wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen, die Eltern von Alexander Selchow verfolgen die Verhandlung im Gerichtssaal. Knapp ein Jahr nach der Tat wird Simon als Haupttäter wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge zu einer sechsjährigen Jugendstrafe verurteilt, die Rede ist von „verminderter Schuldfähigkeit“. Sven Scharf erhält „als Denkzettel“ vier Wochen Dauerarrest, den er aufgrund der Untersuchungshaft nicht antreten muss.
Die Spitze der Demonstration am 5. Januar in Göttingen (Repro Zeitungsfoto vom 6.1.1991)
Das Urteil stößt nicht nur bei Selchows Eltern auf Unverständnis. Auf einer Demonstration zum Gedenken an seinen toten Sohn am 1. Januar 1993 übt der Vater harsche Richterschelte: „Wie Sie wissen, ist der Gehilfe des Täters frei und der Täter hat sechs Jahre bekommen. Das bedeutet im Klartext vier Jahre, den ein Drittel wird erlassen. Zwei Jahre sind rum, also noch zwei Jahre, dann ist er frei. So einfach ist es, wenn man Skin ist“. Die BürgerInnen gegen Rechtsextremismus und Gewalt kritisieren auf der selben Demonstration einen „Schaukampf gegen den Rechtsextremeismus“ : „Wenn Politiker (…) nach verschärften Gesetzen und Einschränkung individueller Freiheitsrechte rufen, weil nur so sich der Rechtsextremismus bekämpfen lasse, so meinen sie in Wahrheit die radikaldemokratische und linke Öffentlichkeit, von der sie sich seit jeher stärker bedroht fühlen als der reaktionären Rechten. Nicht von den Rändern her löst sich die Gesellschaft auf, sie löst sich von der Mitte her auf“.
Der VVN-BdA ruft zu einer Gedenk-Kundgebung am Samstag, den 15.01.2011, um 15:00 Uhr am Göttinger Gänseliesel auf.
Wo ruft denn die VVN-BdA dazu auf? ich hab nur ein Poster von der Gruenen Jugend gesehen.
„Als VVN-BdA unterstützen wir seit Beginn an aktiv diese antifaschistische Bündnisarbeit. Gemeinsam mit anderen Bündnispartner-innen wollen wir an die Ermordung Alexander Selchows vor 20 Jahren erinnern“.
So schön es ist, dass sich noch immer Menschen an unseren Freund Alex erinnern, so weh tut es immer wieder wenn er nur zum „Bundeswehrsoldaten“ reduziert wird.
Denkt bitte immer daran: Alex war zuerst ein Mensch, ein Freund, ein Sohn, ein Enkel… und erst ganz hinten Soldat, und das nicht aus Überzeugung…
nach meinem Wissensstand rufen mehrere Gruppen gemeinsam dazu auf, so sind es aktuell:
Grüne Jugend Göttingen, Antifaschistische Linke International (A.L.I.), Fachschaftsrat der Philosophischen Fakultät, DKP Göttingen, VVN-BDA Göttingen, Grüne Hochschulgruppe Göttingen, Juso Hochschulgruppe Göttingen.
Die Redical [M] unterstützt nun ebenfalls den Aufruf