A never-ending Story? – Die scheinbar unendliche Geschichte von Strafanzeigen, Ermittlungen, Verfahren und Verurteilungen gegen einen linken Politiker aus Göttingen
von am 12. März 2010 veröffentlicht in politische Justiz

Kontinuierlich seit 1996 wird ein Politiker der Partei DIE LINKE, der immer wieder mit den außerparlamentarischen Bewegungen zusammenarbeitet, mit Verfahren, Verdächtigungen und (wenn es möglich war) auch mit Verurteilungen überzogen. Anlässe waren linke Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen. Der Politiker ist seit vielen Jahren kommunalpolitisch aktiv und nimmt derzeit ein Mandat im niedersächsischen Landtag wahr.

Dieser Text stammt aus der Broschüre der Initiative für gesellschaftliches Engagement – gegen Kriminalisierung und politische Justiz. Presserechtlich verantwortlich ist Patrick Humke-Focks, MdL.

Drei aktuelle „Fälle“

Die Inhalte von Bündnisaktionen, für die er angeklagt worden ist und immer wieder wird, sind vielfältig: Antifaschismus, Anti-Castor, Schaffung von sozialen und linken Freiräumen, Flüchtlingspolitik, Internationale Solidarität und soziale Gerechtigkeit.

Am Beispiel der drei jüngsten ‚Fälle‘ wird deutlich, wie systematisch Polizei und Staatsschutz ihre Möglichkeiten nutzen, das Engagement des Politikers durch Kriminalisierung zu diskreditieren. Über eine solche persönliche Diskreditierung hinaus sollen Bündnisse zwischen etablierten Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften mit außerparlamentarischen Bewegungen verhindert werden. Die Deutungshoheit über Begriffe wie „linksradikal“, „gewaltbereit“, „Bündnisfähigkeit“ und „Demokratie“ soll in solchen Kontexten allein den Herrschenden vorbehalten sein.

Widerstand gegen die von Nazis betriebene Table-Dance-Bar in Göttingen

Im Juli 2008 findet eine antifaschistische Demonstration gegen eine von Nazis betriebene sogenannte Table-Dance-Bar statt. Anlass ist die Übernahme der Bar Moonlight durch bekannte Neonazis. Diese machen aggressive Werbung für diese Bar für rechte Sexisten in den einschlägigen Foren im Internet. Deutlich wird, dass die Bar auch über Räume verfügt, die für private Feiern und an Gruppen vermietet werden könnten. Die Nazis hätten es damit geschafft, in Göttingen feste Räumlichkeiten zur Verfügung zu haben und damit bessere Möglichkeiten für den Aufbau fester Nazistrukturen in der Stadt.

Verschiedene Gruppen, Organisationen, Parteien und Gewerkschaften organisieren daraufhin auf unterschiedliche Weise eine Gegenöffentlichkeit, um den Weiterbetrieb dieser Strip-Bar zu verhindern. Im Rahmen einer Demonstration und Kundgebung direkt vor der Bar im Göttinger Stadtteil Weende ist der besagte Politiker als Beobachter und Begleiter der Aktion anwesend. Die Polizei fordert ihn auf, sich in den Demonstrationszug einzureihen. Als er dem nicht nachkommen will, durch Zeigen seines Abgeordnetenausweises darauf hinweist, dass er lediglich Beobachter sei, den Zug nur seitlich begleiten wolle und nach dem Namen des Beamten fragt, tritt der Beamte gegen das Fahrrad des Politikers und sagt, dass ihm das egal sei. Noch vor Ort behauptet dann der Polizist, dass der Abgeordnete ihn mit dem Wort ‚Penner‘ beleidigt habe. Der daraufhin Angeklagte bestreitet diesen Vorwurf vehement. Er sieht sich aber mit einer Reihe von aufeinander abgestimmten Aussagen von Polizisten konfrontiert.

Der Richter stellt das Verfahren gegen den Politiker gegen Zahlung eines Geldbetrages in Höhe von 1000 € ein. Hinzu kommen noch die Anwaltskosten in Höhe von mehr als 700 €.

In der Öffentlichkeit kann derweil das Bild vom (linken) Politiker verbreitet werden, der Polizisten beleidigt. Die Bildzeitung berichtet am 12. Februar 2009 süffisant über den „Verlierer des Tages“, der „Polizisten als ‘Penner‘ beschimpft“ habe und deshalb nun von der Staatsanwaltschaft angeklagt werde.

Widerstand gegen die verfehlte Bildungspolitik der Landesregierung

Im November 2008 ziehen 3000 SchülerInnen während einer Plenarwoche vor den Landtag in Hannover und protestierten lautstark gegen die katastrophale Bildungspolitik der CDU- und FDP-geführten Landesregierung. Sie dringen dabei auch in die Bannmeile des Landtags ein. Von einer kleinen Gruppe wird eine Tür des Landtags beschädigt.

Die überforderten Polizeikräfte reagieren nervös und größtenteils aggressiv auf die überwiegend minderjährigen DemonstrantInnen und versuchen anfangs, mit Einsatz von Gewalt die direkt vor dem Parlamentsgebäude liegende Bannmeile zu räumen. Eine Reihe von Abgeordneten beobachtet die Szenen und versucht dann in der Folge die Situation zu deeskalieren und einen friedlichen Abschluss der SchülerInnenaktion zu erreichen. Darunter ist auch der Göttinger Abgeordnete, der versucht, zwischen Demonstrierenden und der Polizei zu vermitteln. Die Veranstaltung findet letztlich einen friedlichen Abschluss. Einer mündlichen Aufforderung eines Polizisten, die Bannmeile zu verlassen, entgegnet der Abgeordnete mit dem Hinweis, dass dieser Bereich dazu da sei, ihn als Abgeordneten zu schützen, er selbst dürfe sich explizit in diesem Bereich aufhalten. Der Landtag mit all seinen Abgeordneten, MinisterInnen und BeamtInnen war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr!

Einen Tag später zitiert Innenminister Schünemann in der öffentlicher Sitzung im Landtag aus Polizeiprotokollen, in denen dem Göttinger Politiker unterstellt wird, dass er gewalttätig gewesen sei und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet habe. Auf diese Weise erfährt der Abgeordnete das erste Mal, dass gegen ihn ermittelt wird. Beweise für die „Tat“ können mit Ausnahme von Polizeiaussagen in diesem laufenden Ermittlungsverfahren nicht beigebracht werden. Aber: In einer aktuellen Stunde bereits einen Tag nach der Demonstration zitiert der Innenminister im Landtag aus Polizeiprotokollen und belastet damit den Betroffenen! Er kündigt in diesem Zusammenhang an, in der Folgewoche im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung belastendes Videomaterial zu präsentieren. Jedoch muss ein Vertreter der Polizei in dieser nicht-öffentlichen Sitzung zugeben, dass es kein belastendes Videomaterial gebe. Scheinbar sei die Kamera defekt gewesen. Kein Wunder, dass die Polizei zu diesem Zeitpunkt nicht auf ihr eigenes Videomaterial zurückgreifen will. Denn das inzwischen dem Beschuldigten im Rahmen der Akteneinsicht vorgelegte Videomaterial der Polizei bestätigt dessen Darstellung, dass er deeskalierend eingegriffen hat.

Auch hier wird nach dem gängigen Muster verfahren: Vorverurteilungen und abgestimmte Aussagen von PolizeibeamtInnen – und wieder wird der Name des Politikers in den Medien im Zusammenhang mit einer Straftat genannt. Die Neue Presse schreibt am 14. November 2008: „Er soll sogar einen Polizisten geschlagen haben.“ Der Gerichtsprozess steht in diesem Fall noch aus.

20. Todestag von Conny Wessmann – Ein Kriminalisierungsversuch trotz Zeugen und Videos

Aus Anlass des 20. Todestags von Conny Wessmann findet eine nicht angemeldete Demonstration am Samstag, den 14. November 2009 in Göttingen statt. Die Demonstration steht im Kontext vielfältiger Aktionen und Veranstaltungen, die an den Tod der Studentin erinnern, die bei einem Polizeieinsatz gestorben ist.

Trotz massiver Einschüchterung der Polizei im Vorfeld finden sich 1800 Menschen am Startpunkt der Demonstration ein. Von Anfang an wird die Demonstration von der Polizei bedrängt. Sie wird von der Polizei eingekesselt. Mehrere Reihen Polizisten laufen direkt an der Demonstration mit.
Als die Demonstration die Stelle erreicht, an der Conny Wessmann 20 Jahre zuvor zu Tode kam, greift die Polizei den Demozug an. Begründung: Es sollen Personen festgenommen werden, die angeblich vermummt sind und passive Bewaffnung tragen. Es kommt zu mindestens zwei Festnahmen – unter anderem auch von einem 14-jährigen Jungen.

Der Göttinger Landtagsabgeordnete und Ratsherr bekommt als Begleiter und Beobachter der Demonstration die Festnahme mit und begibt sich mit mehreren Menschen zum Ort des Geschehens, wo der junge Demonstrant abgeführt wird. Er zeigt den Polizisten seinen Abgeordnetenausweis und bittet um Auskunft über die Polizeiaktion. Die Reaktion der Beamten sind Schläge und Wegstoßen des Fragenden. Dieses Vorgehen wird von einer ganzen Reihe von Menschen beobachtet. Erneut erstattet die Polizei Anzeige. Sie behauptet, dass der Politiker sich mit Anlauf in die Polizeikette geworfen habe, um zu dem Festgenommenen zu gelangen.

Diesmal hat die Polizei jedoch ein Problem mit ihren Anschuldigungen, denn der Beschuldigte hatte aus den Kriminalisierungsversuchen der letzten Jahre Konsequenzen gezogen und wurde deshalb von mehreren Personen begleitet, die die Ereignisse beobachteten. Doch nicht nur das: Bereits kurz nach der Demonstration tauchen Videoaufnahmen von der Festnahme im Internet auf. Sie entlarven die Vorwürfe der eingesetzten Polizisten als Lügen. Es ist nichts zu erkennen von einem Angriff auf die Polizeibeamten. Vielmehr ist deutlich sichtbar, dass sich der Politiker mit seinem Abgeordnetenausweis den Polizisten vorstellt und Informationen über die Festnahme einfordert. Selbst das Göttinger Tageblatt kommt nicht umhin festzustellen: „Im Internet aufrufbare Videoaufnahmen deuten darauf hin, dass sich die Auseinandersetzung so zugetragen hat, wie sie XXX gegenüber dem Tageblatt schilderte.“ (GT vom 25. November 2009)

Trotzdem lässt es sich Innenminister Schünemann nicht nehmen, den Abgeordneten öffentlich zu diffamieren. Abermals erfährt dieser durch eine Rede des Innenministers im Landtag von Ermittlungen gegen ihn. Die Landtagsfraktion der CDU hatte ihrem Minister mit einer Anfrage im Landtag die Plattform dazu bereitgestellt.

Die Medien sind durch das entsprechende Dauerfeuer inzwischen eingestimmt: „Wiederholt Ärger mit der Justiz“ schreibt der NDR in einer Meldung, „Erneut Verfahren gegen XXX“ titeln die Zeitungen des Madsack-Konzerns (u.a. Hannoversche Allgemeine Zeitung, Göttinger Tageblatt) unisono und berichten ausführlich über vorangegangene Verfahren gegen den Politiker. Frei nach dem Motto: Wenn einer so oft mit der Polizei in Konflikt gerät, dann muss da was dran sein.

Ob es in diesem Fall zu einem Gerichtsverfahren kommt, ist noch offen. Die Staatsanwaltsschaft teilt mit, ihre „Ermittlungen“ seien noch nicht abgeschlossen.

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