Aus antifaschistischer Zivilcourage wird Widerstands-Konstrukt
von am 19. März 2010 veröffentlicht in politische Justiz

Als Nazis am 28. Oktober 2006 in Göttingen eine Kundgebung abhalten wollen, beteiligen sich tausende engagierter GöttingerInnen an Gegenaktivitäten, Demonstrationen und Blockadeversuchen. Einige DemonstrantInnen stellen sich den anreisenden Nazis bereits im Bahnhof in den Weg. Als Züge mit Nazis in Göttingen einfahren, beginnt die Polizei den Bahnhof zu räumen. Dennoch werden die FaschistInnen mit Pfiffen, Sprechchören und Transparenten konfrontiert, der Nazi-Aufmarsch kann verzögert werden. Schließlich werden Reisende und AntifaschistInnen von den Polizeikräften zum West-Eingang abgedrängt.

Dieser Text stammt aus der Broschüre der Initiative für gesellschaftliches Engagement – gegen Kriminalisierung und politische Justiz. Presserechtlich verantwortlich ist Patrick Humke-Focks, MdL.

Ein Antifaschist erhält Wochen später einen Strafbefehl über 20 Tagessätze. Ihm wird vorgeworfen, im Bahnhof Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben: Durchbrechen einer Polizeikette, Stemmen gegen eine Polizeikette, Schlagen eines Polizeibeamten. Der betroffene Antifaschist bezahlt nicht und legt stattdessen Einspruch ein. Das Verfahren wird vor Gericht weitergeführt. An drei Verhandlungstagen werden sechs PolizeizeugInnen vernommen, die versuchen, den Straftatvorwurf zu bekräftigen.

Doch durch beharrliche Vernehmung der Verteidigung kommt schließlich ganz Anderes ans Licht: Das Durchbrechen der Polizeikette war in den Ermittlungsunterlagen und im Strafbefehl glatt erfunden – niemand der von der Polizei angeführten ZeugInnen kann dazu irgendetwas sagen. Das Stemmen gegen die Polizeikette zeigt sich als gegenstandslos – die PolizeizeugInnen sind sich nicht einmal sicher, von welcher konkreten Situation im Bahnhof sie überhaupt sprechen. Der Schlag gegen einen Polizeibeamten wird von diesem zwar behauptet, kann allerdings nicht schlüssig belegt werden – bei seiner Vernehmung verstrickt er sich in eklatante Widersprüche und gibt irgendwann zu, von einem Schlag nichts gespürt zu haben. Eine Polizeikamera, die diesen Hergang mit hoher Wahrscheinlichkeit gefilmt hat, wird von der Polizei ganz frech nicht identifiziert. Ein möglicherweise entlastender Videomitschnitt ist verschwunden… Nebenbei zeigt die Verteidigung noch, dass der gesamte Polizeieinsatz gegen die DemonstrantInnen im Bahnhof ohne Rechtsgrundlage stattgefunden hatte. Der Richter hat jetzt keinen Spielraum mehr. Offensichtlich zähneknirschend beendet er diesen unnötig aufwendigen Gerichtsprozess mit einem Freispruch.

Interessant ist sicherlich noch, wie die Polizei überhaupt auf den angezeigten Antifaschisten gekommen ist. Hinweise gibt einer der Polizeizeugen bei seiner Vernehmung: Der Angeklagte sei dem Einsatzleiter durch ständiges Wechseln zwischen Beruhigung und Aktivität aufgefallen. Auf persönliche Ansprache sei der Angeklagte zunächst immer scheinbar eingegangen, habe sich der Kommunikation dann aber plötzlich entzogen. Das Wegdrängen des Angeklagten habe sich als sehr zäh gestaltet. Im Klartext: Der Einsatzleiter war von ihm genervt.

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