Was (Immobilien)Märkte mit Menschen machen

„So extrem war es noch nie“
von am 27. Juli 2015 veröffentlicht in Politik, Titelstory
Die Bank vor dem Hagenweg 20 ist purer Zynismus
Die Bank vor dem Hagenweg 20 ist purer Zynismus

Gebannt starrt Göttingen auf die Kakerlaken im Hagenweg. Dabei ist das Problem hausgemacht und geht über einen Appartement-Block hinaus. Eine Reportage über den Hagenweg und den Wohnungsmarkt für „Schlichtimmobilien“.

Es ist Freitag Nachmittag in Göttingen. Auf dem Gänseliesel steht Lars, er hat aufgerufen gegen Ungeziefer und Verfall im Hagenweg zu demonstrieren, zum dritten Mal in Folge. Es ist brütend heiß und der 55-Jährige will anfangen. Bisher sind nur ein paar alternativ aussehende Jugendliche gekommen. Lars findet, die Situation gehe ganz Göttingen etwas an. 15 Minuten später beginnt er zu reden. Mittlerweile sind es mehr TeilnehmerInnen als bei der letzten Kundgebung.

Lars spricht über Kakerlakenbefall, marode Bausubstanz und soziale Probleme im Hagenweg. Er wohnt in der Hausnummer 20, es ist eine der verrufensten Adressen Göttingens. Derzeit sind die Kakerlaken in den Schlagzeilen. Zuvor war es ein Wohnungsbrand, davor die Modedroge Flex. Lars ist am Limit und dank Megafon hört es die ganze Stadt: Er habe seinen Job wegen der Geschichte verloren, die Leute dort können nicht mehr schlafen, außerdem leben Famillien mit Kindern im Haus. Er fordert, die Stadt müsse endlich handeln. Insgesamt leben im Hagenweg etwa 150 Menschen, nur drei haben es zur Kundgebung geschafft. „Ich spreche für die BewohnerInnen des Hagenwegs“, sagt Lars.

Kakerlaken, Müll, Drogen

Im Hagenweg zeigt er, warum: Sichtbare Brandschäden, provisorisch reparierte Treppengeländer, bröckelnde Balkone. In vielen Wohnungen gibt es Wasserschäden und Schimmel. In den Fluren liegen tote Kakerlaken, lebendige sieht man bei Tageslicht selten. Einige BewohnerInnen sind drogenabhängig. Wer auf Flex ist, wird schnell aggressiv – davon zeugen tiefe Dellen in den Stahltüren einiger Wohnungen.


Notwehr gegen Ungeziefer: An doppelseitigen Klebeband bleiben Kakerklaken kleben. Meistens jedenfalls.

Tiefe Dellen in der Stahltür. Manchmal versuchen Junkies, in die Wohnungen ihrer Nachbarn einzudringen.

Wasserschäden im Flur. Vielleicht hängt das mit den …

…heraus gebauten Fenstern zusammen. Denn es hat im Hagenweg gebrannt – vor sechs Wochen.

Im Hinterhof liegt Müll – angeblich seit Wochen.


Die Meisten hier haben Angst vor den Flex-Abhängigen: Das Haus steht immer offen, die Klingelanlage ist defekt. Auch für die Stahltüren der Zwischenflure haben die MieterInnen keine Schlüssel. Allerdings gibt es Überwachungskameras. Alle im Hagenweg wissen, dass sie nicht funktionieren – seit Jahren. Natürlich weiß der Vermieter Bescheid. „Das machen wa schon, Alles kein Problem, ich meld mich die Tage!“ – die BewohnerInnen kennen seinen Standardspruch. Danach passiert meist nichts, das gilt nicht nur für die Überwachungskameras.

Viele, die im Hagenweg leben, beziehen Sozialleistungen. Es gibt einige „Problemfälle“ im Haus, erzählt Camilla*, die seit über 20 Jahren im Hagenweg wohnt. Drogenabhängige und Messis seien aber eine Ausnahme. Für den Großteil der BewohnerInnen sei die Situation im Haus eine Belastung, die „krank mache“. Sie glaubt aber auch: „wer aus dem Hagenweg kommt, findet keine andere Wohnung mehr“. Deshalb bleiben viele bei der Immobilienverwaltung Meyer, die besitzt den Großteil der Wohnungen im Hagenweg.

Meyer verdient prächtig

Meyer habe die Wohnungen schrittweise aufgekauft. Für 3.000 bis 5.000 Euro pro Wohnung, sagt Camilla. Heute nimmt sie die Spitzensätze dessen, was das Sozialamt zahlt, darin sind sich die BewohnerInnen einig. Das summiert sich auf rund 4.000 Euro im Jahr – pro Wohnung. Alle im Hagenweg sind sich sicher, dass Meyer prächtig verdient. In den meisten Fällen kommt die Miete direkt vom Amt.

„Das Geschäftsmodell Meyers beruht darauf, günstigsten Wohnraum zu kaufen und an Bezieher von Sozialleistungen zu vermieten“ glaubt auch Cornelius Blessin vom Mieterverein Göttingen. Er hält es für ein lukratives Geschäft. Meyer besitzt noch zahlreiche weitere Immobilien in Göttingen, unter anderem in der Unteren Masch-Straße, im Iduna-Zentrum und in der Ruhstrathöhe. Dort gibt es ebenfalls Klagen über Ungezieferbefall. Blessin sagt: „Wer in Göttingen auf dem normalen Markt nichts findet, kriegt eine Wohnung bei Meyer“.

Die Groner Landstraße 9 wird in Göttingen „der Bunker“ genannt. In dem Hochhaus leben ebenfalls viele Sozialfälle. Auch hier gehören zahlreiche Wohnungen der Immobilienverwaltung Meyer. Die Kaufpreise der Wohnungen dort dürften um die 20.000€ gelegen haben, schätzt Blessin. Der Wohnraum gelte als „schlicht, aber in Ordnung“. Dafür seien die Quadratmeter-Mieten mit die höchsten in Göttingen. Die Wohnungen sind recht klein und Meyer orientiere sich an dem, was an Mieten im Rahmen der Kosten einer Unterkunft übernommen wird, sagt Blessin. Die gesetzlichen Bedarfssätze sind auf 50 Quadratmeter kalkuliert. So verwandeln sich kleine, an Sozialhilfe-BezieherInnen vermietete, Wohnungen in wahre Goldgruben.

So extrem wie nie zuvor

MieterInnen finden sich immer, denn preiswerter Wohnraum ist in Göttingen knapp: Immer mehr StudentInnen und Geflüchte drängen auf den Wohnungsmarkt. Sie alle suchen günstige Wohnungen. Dabei fallen in den 70er und 80er Jahren errichtete Wohnungen derzeit aus der Sozialbindung. Dem Geografen Michael Mießner zufolge hat sich die Zahl der Sozialwohnungen seit dem Jahr 2000 um ein Viertel reduziert, „bis 2025 fallen nochmal 500 bis 1000 Wohnungen raus“. Gleichzeitig sei fast kein günstiger Wohnraum entstanden.

„Als die Häuser gebaut wurden, war das hier eine richtig gute Adresse“, erzählt Camilla aus dem Hagenweg. Deshalb gäbe es sogar eine Fußbodenheizung. Spätestens seit Ende der 90er ist es bergab gegangen, heute sei es “so extrem wie nie zuvor“. Michael Mießner überrascht das nicht: „Das knappe Angebot heisst für die Vermieter auch, dass sie nicht sanieren oder investieren müssen, weil gerade BezieherInnen von Sozialleistungen nichts anderes finden“.

Stadt spricht von Schlichtimmobilien

Bei der Stadt nennt man Quartiere wie den Hagenweg „Schlichtimmobilien“. Zur Rolle der Immobilienverwaltung Meyer will sich die Stadt aus Datenschutzgründen nicht äussern. Grundsätzlich seien die Mietverhältnisse aber eine Angelegenheit „zwischen Vermietern und Mietern“, betont Sozial-Dezernentin Dagmar Schlappheit-Beck.

Allerdings zwingt die Stadt den Vermieter nun, gründlich gegen Kakerlaken vorzugehen, entsprechende amtliche Verfügungen habe man bereits erwirkt. Profis sollen die Schädlingsbekämpfung durchführen. Bisher habe das nicht viel gebracht, erzählt Camilla. Im Gegenteil: In der Vergangenheit habe ein Unternehmen giftige Stoffe eingesetzt und die MieterInnen nicht darüber informiert. Auch Thomas* ist skeptisch. Er „kommt vom Bau“ und glaubt, das Problem sei die Fußbodenheizung, durch die kämen Kakerlaken überall hin.

Außerdem will die Stadt den Mietern helfen, mietrechtliche Schritte einzuleiten. Einige haben das Angebot angenommen. Triumphierend erzählt Camilla, dass sie zukünftig nur noch die Kaltmiete zahle. Die Sachbearbeiterin in der Sozialbehörde hat ihr dabei geholfen. Andere BewohnerInnen haben ihr zufolge die Tür nicht aufgemacht, als die Stadt Wohnungen auf Schäden überprüfen wollte. Denn viele, die im Hagenweg leben, hätten „einfach aufgegeben“.

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Auch Camilla glaubt, dass das Haus mindestens grundsaniert werden muss. „Dem Meyer“ traut sie das nicht zu. Sie erzählt, dass es vor Jahren schonmal ziemlich viel Rummel ums Haus gegeben habe, geändert habe das wenig. Auch Lars findet, die Stadt sollte die Verantwortung für die Schwächsten übernehmen: „Meyer muss der Stadt die Schlüssel übergeben“. Die Stadt hat schonmal erwogen, das Haus zu kaufen – die Preisvorstellung der Eigentümer war aber zu hoch.

500 Problematische Wohnungen in Göttingen

Camilla und viele Andere würden am liebsten ausziehen. Doch sie sind nicht die Einzigen in prekärer Lage: Sozialdezernentin Schlappheit-Beck spricht von ungefähr 500 Wohneinheiten in Göttingen, „bei denen man sich wünschen würde, den BewohnerInnen etwas anderes anbieten zu können“. Ohnehin rate man explizit davon ab, in den Hagenweg 20 zu ziehen. Allein: Es mangelt an Alternativen.

*Name geändert

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