Mieter*Innen wehren sich gegen Ungeziefer und Verfall

Lars kämpft
von am 16. Juli 2015 veröffentlicht in Gespräche, Titelstory
Lars wohnt im Hagenweg 20. Er kämpft dafür, dass sich dort etwas ändert. Foto: Topf
Lars wohnt im Hagenweg 20. Er kämpft dafür, dass sich dort etwas ändert. Foto: Topf

Der Hagenweg 20 ist eine Adresse, die in Göttingen einem Stigma gleicht. Kaum ein Wohnblock in der Stadt ist derart heruntergekommen. Medien bezeichnen die Adresse als „Göttingens Ghetto“. Dort leben Menschen wie Lars, der für bessere Wohnbedingungen kämpft.

Samstag Mittag am Gänseliesel: Bürger und BürgerInnen flanieren durch die frisch renovierte Fußgängerzone – beige Pflasterplatten, helle T-Shirts, brüllende Hitze. Wer es sich leisten kann, rettet sich unter die Sonnenschirme von Eiscafés und genießt den Hochsommer in Göttingen. Lars trübt das Bild: Immer wieder schallt das Schlagwort „Kakerlaken“ über den Marktplatz; die Rede ist von lebensunwürdigen Bedingungen und Mietwucher. Nur wenige PassantInnen bleiben stehen, einige schauen beschämt in ihre Eisbecher.

Denn was Lars berichtet, ist nicht neu: Er wohnt im Hagenweg 20 und das ist eine der verrufensten Adressen der Stadt. Lars lebt dort seit etwa einem Jahr und was die Göttinger Öffentlichkeit kaum berührt, belastet Lars umso mehr: Im ganzen Haus krabbeln Kakerlaken, viele Wohnungen sind verschimmelt und die Vermieter unternehmen – wenn überhaupt – nur das Nötigste. Lars ist deshalb am Limit: Allein die Angst, im Schlaf könnten Kakerlaken über sein Gesicht laufen, hält ihn nachts wach.

So erzählt er es jedenfalls später in einem Cafè in der Innenstadt. Auch hier erntet er skeptische Blicke, wenn er die Kakerlaken erwähnt – was er oft tut. Lars hofft, dass sich durch den öffentlichen Druck etwas ändert. Er fände es am Besten, wenn die Stadt das Haus einfach übernähme. Ein Ratsherr, der mit am Tisch sitzt, wiegelt ab – die Spielräume der Stadt seien schließlich begrenzt. Lars hat dafür wenig Verständnis und erzählt stattdessen von Kakerlaken, die Familien in Windeln ihrer Kleinkinder gefunden haben. Der Ratsherr verabschiedet sich eilig, will aber in Kontakt bleiben.

Im Hagenweg zeigt der gut fünfzig Jährige, wo die Probleme liegen: Seine Wohnungstür ist mit doppelseitigen Klebeband abgeklebt, so dass kleine Kakerlaken dort hängen bleiben – „Notwehr sozusagen“. Neben dem Ungezieferbefall türmen sich im Hagenweg soziale Probleme: Manche BewohnerInnen sind drogenabhängig. Wer auf Flex ist, wird schnell aggressiv. Davon zeugen tiefe Dellen in den Stahltüren der Nachbarwohnungen. Überhaupt ist das Haus heruntergekommen: Wasserschäden „zieren“ die Wände, in den Fluren sind wegen eines Brandes die Fenster herausgehebelt worden. Fünf Wochen ist das her, fast nichts ist seitdem passiert.

Seit der ersten Kundgebung am Gänseliesel sind zwei Wochen vergangen. Zu einer zweiten Kundgebung kamen nur einige Schaulustige, auch das Interesse der Presse ist abgeflaut. Von besagtem Ratsherr hat Lars nichts mehr gehört. Dafür hat der Vermieter einige Wohnungen von Kakerlaken befreit. Der Container mit befallenen Möbeln steht ungesichert im Hof.

Lars will weiterkämpfen, aber zuletzt konnte er nichtmal die Bewohner des Hagenwegs motivieren zur Kundgebung zu kommen. „Die sind resigniert“, erklärt sich das Lars, „die Leute hier sind nicht mehr in der Lage sich zu wehren“. Die Stadt Göttingen könnte helfen, aber „das sind Paragraphenhengste, die sagen, ihnen wären die Hände gebunden“. Trotzdem findet Lars, die Stadt müsse einschreiten. Unbürokratisch und schnell: „Schließlich wohnen auch Familien mit Kindern im Haus“.

Deshalb glaubt Lars, dass es die „breite Masse“ braucht, um Druck aufzubauen. Doch wie er die kriegen soll, weiß er nicht. Er ist gefrustet, weil das Göttinger Tageblatt nicht über die letzte Kundgebung berichtet hat. Wie er eine Pressemitteilung verfasst, weiß Lars nicht. Mit dem Computer zu arbeiten, hat er nie gelernt und Facebook kennt er nur vom Hörensagen. Für Anrufe bei Sozialverbänden und Initiativen fehlen Kontakte und Handy-Guthaben.

Trotzdem mobilisiert er zu einer weiteren Kundgebung und hofft, dass sich diesmal mehr Menschen beteiligen: „Ich versuche, den Leuten zu verklickern, dass es nicht nur ein Hagenwegs-Problem ist, sondern ein Göttinger Problem“. Für ihn geht es darum was in Göttingen in den letzten Jahren versäumt wurde: „Da kann sich kein Göttinger verschließen, das geht nicht“.

Am 17.7. Um 16 Uhr wollen die BewohnerInnen des Hagenwegs wieder am Gänseliesel demonstrieren. Sie haben uns gebeten, hier darauf hinzuweisen.

Update: Mittlerweile hat die Stadt angekündigt, „rigoros“ gegen den Kakerlakenbefall vorzugehen. Lars findet, dass es mit Kakerlakenbekämpfung nicht getan ist.

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