Zum Umgang der Göttinger Polizei mit öffentlicher Kritik
von am 14. März 2010 veröffentlicht in politische Justiz

Die Folgen einer Demonstration gegen Polizeirepression am 21. Oktober 2006

21.Oktober 2006. In Göttingen soll eine Demonstration stattfinden gegen die zunehmende Unterhöhlung der Versammlungsfreiheit durch die Polizei. Kritisiert werden laut Aufruf: „Aggressive Personalienkontrolle. Provokante Spaliere. Permanente Kameraüberwachung. Brutale Übergriffe. Gängelnde Auflagen. Beliebige Ingewahrsamnahmen. Massive Zivilpräsenz. Stundenlange Kessel. Missachtung der Intimsphäre. Inflationäre Platzverweise. Willkürliche Machtdemonstrationen.“

Dieser Text stammt aus der Broschüre der Initiative für gesellschaftliches Engagement – gegen Kriminalisierung und politische Justiz. Presserechtlich verantwortlich ist Patrick Humke-Focks, MdL.

Die OrdnungshüterInnen agieren, als müssten sie die Berechtigung der Demo an diesem Tage besonders anschaulich selber unter Beweis stellen: Einen Tag vor der Demonstration erlässt die Stadt zahlreiche Auflagen, mit denen die Aussenwirkung der Veranstaltung stark eingeschränkt wird. Die Transparente dürfen nicht länger als 2,50 Meter sein, die Lautstärke des Lautsprecherwagens wird begrenzt, Kundgebungen auf Kreuzungen werden verboten. Die Polizei kesselt die Demonstration noch vor dem Loslaufen ein und fordert die Einhaltung dieser Auflagen. Von Beginn an wird durch die Polizei gefilmt. Den DemonstrantInnen nutzt es nichts, dass die Auflagen der Stadt fast 2 Jahre später vom Verwaltungsgericht als rechtswidrig eingestuft werden. In der konkreten Situation können sie ihnen entweder Folge leisten oder eine gewaltsame Auflösung durch die Polizei riskieren. Doch auch nachdem die Demonstrierenden z.T. durch Zerschneiden ihrer Transparente die Auflagen erfüllt haben, wird die Demonstration mit einem wandernden Polizeikessel von der Außenwelt abgeschirmt.

Völlig überfordert scheinen die Ordnungshüter von dem nicht nur entschlossenen, sondern auch kreativen Demokonzept: Mars-TV berichtet in Echtzeit über die Übergriffe und macht Live-Interviews, und unter die Demonstranten haben sich Schlapphüte, Clowns und erste Weihnachtmänner gemischt.

Entsprechend fällt die Reaktion der Polizei aus: Sie stoppt die Demonstration immer wieder, obwohl diese auf der angemeldeten Route läuft. Der vordere Teil der Demonstration wird dabei wiederholt angegriffen. Die Demonstration wird deshalb, nachdem sie einige hundert Meter gelaufen war, von der Versammlungsleiterin abgebrochen, um die TeilnehmerInnen nicht weiter den Polizeiangriffen auszusetzen. Für mehrere DemonstrantInnen kommt dieser Abbruch zu spät. Zwei Nikoläuse, die die Demonstration begleiten, und eine Person aus der Spitze der Demo werden gewaltsam abgeführt und angezeigt.

Es folgt die Dokumentation dieser sehr unterschiedlichen Verfahren:

Vor der Göttinger Polizei ist selbst der Nikolaus nicht sicher

Extrem humorlos reagieren die eingesetzten BeamtInnen auf kreative Protestformen, die ihr Agieren persiflieren und die Lächerlichkeit des enormen Polizeiaufgebots verdeutlichen. Besonders hart trifft es hier eine Gruppe von als Nikoläusen verkleideten DemonstrantInnen, die das ständige Filmen von Versammlungen skandalisieren wollen. Da die Polizei auch dieses Mal von Beginn an die gesamte Demonstration (rechtswidrig) mit Videokameras erfasst, kommen die Nikoläuse schnell zum Einsatz. Mit Hinweisschildern – „Vorsicht Kamera“ – postieren sie sich neben den filmenden BeamtInnen. Die Satire wird allerdings umgehend mit bewährten Methoden beendet: Es hagelt Platzverweise, eine Demonstrantin wird brutal am Kopf ergriffen und zu Boden gerissen. Als Strafe für den Spott soll das aber noch nicht genügen: Gegen die bekannte Aktivistin wird ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung eingeleitet. Angeblich soll sie einen Polizisten mit ihrem Schild geschlagen haben. Die Staatsanwaltschaft spielt das Spiel der Polizei bereitwillig mit und treibt das Verfahren bis zur Anklageerhebung voran. Erst der Richter stellt das Verfahren schließlich kurz vor Prozessbeginn ein. Zu eindeutig sind die von der Angeklagten und ihrem Anwalt vorgelegten Beweise. Mittels eines Videos und von ihnen selbst angefertigter Standbilder können sie belegen, dass die Anschuldigungen nicht stimmen können. Während die PolizistInnen behaupten, die Beschuldigte hätte einen Polizeibeamten geschlagen, zeigt das Video: Die Polizeibeamten haben sich selbst geschlagen! Der Polizei-Kameramann hatte das Pappschild der Beschuldigten herunter gerissen und dabei seinen Kollegen leicht an der Mütze getroffen. Auch in diesem Fall hat die Polizei nachweislich gelogen – wieder einmal. Für die BeamtInnen hat das keine Konsequenzen, obwohl sie versucht haben, der Demonstrantin eine Tat anzuhängen, für die ein Strafrahmen von sechs Monaten bis zehn Jahren Haft vorgesehen ist. Einer Verurteilung ist die Betroffene hier nur entkommen, weil die Verteidigung entlastendes Videomaterial sicherstellen konnte, mit dem die Aussagen der PolizistInnen widerlegt werden konnten.

Wir haben ja schon eine Akte über Sie!

Auch einen anderen Demonstranten wollen Polizei und Staatsanwaltschaft für sein repressionskritisches Engagement abstrafen. Er berichtet selbst von diesem Kriminalisierungsversuch, der erst vor Gericht beendet werden kann:

1. AUF DER DEMO: Ich gehe als Nikolaus und trage ein an einem Besenstil befestigtes Schild mit der Warnung „Vorsicht Kamera“. So begleite ich, zur Erheiterung von Kindern und anderen PassantInnen, filmende PolizeibeamtInnen, die vor der Demo in ca. 10 Meter Entfernung hergehen und die ganze Zeit den Demoaufzug filmen (wollen). Sie reagieren auf meine Präsenz gereizt, wissen aber nicht damit umzugehen: Wer will sich schon an einem Weihnachtsmann vergreifen, noch dazu in aller Öffentlichkeit? „Gehören Sie zur Demonstration? Dann reihen Sie sich gefälligst ein!“ – „Nein, gehöre ich nicht!“ Daraufhin bekomme ich fünf Minuten später einen Platzverweis – ich soll 200 Meter weiter gehen, aber ausgerechnet in die Richtung, in die auch die Demo zieht. Gerne leiste ich Folge und bleibe unbehelligt. Auf der Kreuzung Weender Tor rastet eine Kamerafrau aus – offensichtlich hat sie zu oft das Schild statt des Demozugs aufgezeichnet. Mit „Jetzt reicht’s mir aber!“ greift sie an den Besenstil und will mir mein Schild entwenden, andere PolizistInnen eilen hinzu und halten mich fest. Einer sagt, ich habe auf die Kamerafrau eingeschlagen. Erst auf lautstarkes Nachfragen meinerseits bestätigt diese dann vor vielen ZeugInnen, sie sei nicht geschlagen worden (sonst hätte ich womöglich ein Verfahren wegen Körperverletzung am Hals). Unter Protest werde ich abgeführt, die Presse bekommt Bilder, wie Uniformierte einen Nikolaus abführen. Im Polizeiwagen wird mir vorgeworfen: „Behinderung von Amtshandlungen“ und „eventuell Widerstand“ („Gegen wen?“ – „Das werden wir dann sehen!“). Personalienfeststellung. Ich könne jetzt gehen, dürfe mich aber bis zum Schluss der Demo nicht mehr in deren Umfeld blicken lassen. Als ich gerade den Perso in Empfang nehme, kommt aufgeregt ein anderer Grüner heran gelaufen: „Eins – eins – eins! Ingewahrsamnahme!“ – offensichtlich hat der Datenabgleich ergeben, dass sie mich haben wollen (und wie sich später herausstellt, ist eine Unzahl von Daten über mich gespeichert, ohne dass ich je rechtskräftig verurteilt worden bin). So lande ich

2. AUF DEM REVIER. Dort will sich schließlich ein freundlich-jovial auftretender Staatsschutzbeamter mit mir unterhalten: “Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Betreiber des Roten Buchladens? Wir kennen uns doch!“ – „Dazu äußere ich mich nicht!“. Er schaut auf zwei Blatt Papier vor sich, ausgedruckt: “Wir haben ja schon eine Akte über Sie – sind Sie denn schon mal ED-behandelt worden?“ – „Was für eine Akte?“ – „Oh, ja, na, auf jeden Fall legen wir jetzt eine an!“ Nach der Ankündigung einer dann doch nicht erfolgten erkennungsdienstlichen Behandlung komme ich wieder auf freien Fuß. Die dann folgenden

3. ERMITTLUNGEN wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz bleiben nach Befragung von PolizeizeugInnen ergebnislos, schon zu Beginn hieß es: „Fraglich ist, inwieweit sein Verhalten strafrechtlich oder ordnungsrechtlich relevant ist“. Aber die Staatsanwaltschaft will mich rankriegen, und so verfügt Oberstaatsanwalt Heimgärtner eine erneute Befragung der PolizeibeamtInnen mit den Worten: „Ich rege an, eine Äußerung der eingesetzten Polizeibeamten dahin herbeizuführen, ob durch die Verkleidung „des Betroffenen als Weihnachtsmann die Feststellung der Identität wesentlich erschwert oder verhindert worden wäre“. Als die PolizistInnen gehorsam bejahen, kommt es nunmehr zu einem Strafbefehl wegen Vermummung – und als ich den nicht bezahle, zum

4. PROZESS. Dieser endet mit einem 1-A-Freispruch: Als zwei Polizeibeamte Fotos von Demo-Nikoläusen vorgelegt bekommen, sagt der eine unschuldig: „Der hier ist mir auch bekannt“, der andere stolz über mich: „Ich erkannte ihn (auf der Demo) gleich wieder!“ Also – nichts mit Vermummung!

5. DAS FAZIT, gezogen vom Gerichtsreporter des Göttinger Tageblatts, das hier ausnahmsweise zustimmend zitiert sei: „Dass es überhaupt zu dem angefochtenen Strafbefehl gekommen ist, war für (den Anwalt) Hentschel der Versuch, jemanden zu kriminalisieren, den man wegen Behinderung der Polizei bei Film- und Fotoaufnahmen nicht drankriegen konnte, weil das keine Straftat ist. Tatsächlich barg die Anklage Unlogik: Erst war der am Rande eines Demo-Zuges agierende Weihnachtsmann mit einem Platzverweis belegt worden, was nur erlaubt ist, wenn er nicht Teilnehmer einer Versammlung war. Dann aber sollte er nach eben diesem Versammlungsrecht gegen das Vermummungsverbot verstoßen haben, obwohl beim Start der Demo (…) keines der Kostüme beanstandet worden war. (…) In der Rechtsprechung wurde herausgearbeitet, dass die Vermummung sowohl objektiv geeignet sein muss, nicht wiedererkannt zu werden, als auch subjektiv diesem Ziel dienen müsse. Wer nicht Teilnehmer einer Versammlung ist, kann nach § 17a nicht belangt werden.“

Ein politisches Urteil mit Ansage

Gegen eine Person aus der Spitze der Demonstration wird Anklage erhoben wegen versuchter und wegen vollendeter Körperverletzung. Grundlage ist eine gerötete Wange bei einem der eingesetzten Polizisten. Für die Beschuldigungen gibt es keine Beweise außer den Aussagen der Polizeibeamten.

Dem Beschuldigten wird zusätzlich zum Verhängnis, dass sein Prozess wenige Tage nach dem G8-Gipfel bei Rostock statt findet. Denn nicht nur wird er allein auf der Grundlage von Polizeiaussagen verurteilt, auch die verhängte Strafe sprengt das übliche Maß bei weitem. 3 Monate Haft, die auf 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden, verhängt Richter Rammert für die gerötete Wange eines Polizisten. Begründung: Offensichtlich in Anspielung auf die Ereignisse rund um den G8-Gipfel erklärt der Richter, dass der „Schmusekurs mit dem schwarzen Block“ beendet werden müsse. An dem Angeklagten soll ein Exempel statuiert werden. Er wird stellvertretend für einen ominösen „schwarzen Block“ abgeurteilt. Wer „der schwarze Block“ überhaupt sein soll und warum der Angeklagte ihm zuzurechnen sei, darüber lässt der Richter nichts verlauten. Inzwischen gibt es Hinweise, wie es zu dem hohen Strafmaß kommen konnte. Es soll eine Absprache zwischen mehreren Richtern am Amtsgericht geben: Wenn möglich würden linke AktivistInnen bei angeblichen Demonstrationsvergehen von diesen Richtern grundsätzlich nur noch mit Haft bestraft.
Der Richter Rammert wäre hier mit seiner rechtspolitischen Auffassung erfolgreich. Urteil und Strafmaß haben auch in der Berufung vor dem Landgericht Bestand. Damit hat die Öffentlichkeit es von offizieller Seite. Die Justiz ist politisch – und das auch ganz bewusst.

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