Polizeigewalt? Sind wir hier in China oder was?
von am 17. März 2007 veröffentlicht in Lokalpolitik

„Polizeigewalt“ ist ein schlimmes Wort und wird zumeist mit totalitären Regimen in Verbindung gebracht. In Europa (oder gar Deutschland) gibt es sowas nicht, so die landläufige Meinung vieler BürgerInnen und wenn doch, dann hätten die Opfer sicher selber Schuld. Dass das so nicht stimmt und das schlimme Wort leider auch in Göttingen ein Thema ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Aktueller Anlass dieses Artikels ist die Klageerhebung einer Demonstrationsanmelderin gegen die Stadt Göttingen.

Drehen wir das Zeitrad mal ein knappes Jahr zurück. Am 13. Mai 2006 stand der zweite von insgesamt drei Naziaufmärschen innerhalb eines Jahres in Göttingen auf dem Kalender von keinen 200 (Neo)Nazis und tausenden Gegendemonstrierenden. Die Stadt sah sich bereits Wochen vorher einem erdrückendem Polizeiaufgebot ausgesetzt. Zwar hielt sich die Polizei in Sachen direkter körperlicher Gewalt größtenteils zurück, jedoch wurde das Demonstrationsrecht an allen Ecken zum Nachteil der linken Gegendemo verbogen. „Ich hatte den Eindruck, dass die Polizei sich manchmal schwer damit tut, anzuerkennen, dass das Versammeln und Demonstrieren, die Kundgabe einer Meinung vom Grundgesetz gedeckt sind und das Grundgesetz auch geradezu auffordert, diese Rechte auch wahrzunehmen“ kommentierte damals Rechtsanwalt Johannes Hentschel das Geschehen. Die Rote Hilfe berichtete von Fällen, in denen Minderjährige nach Hannover gebracht worden sind und teilweise mit Händen und Füßen an die Gitterstäbe ihrer Zellen gefesselt wurden. Sehr großzügig machte die Polizei von der freiheitsentziehenden Maßname der Ingewahrsamname gebrauch. „Die Polizei muss in jedem Einzelfall ganz genau prüfen, ob es konkrete Anhaltspunkte für ganz konkrete Straftaten gibt, die unmittelbar bevorstehen. Nur dann darf eine solche Maßnahme ergriffen werden“ erklärt Hentschel wohlwissend, dass es zahlreiche Betroffene gab, die schlicht und ergreifend zur falschen Zeit am falschen Ort waren und anschließend mehrere Stunden in Gefangenensammelstellen verbringen mussten. Dass dieses Verhalten kalkuliert ist und die Gesetzesübertretungen seitens der Polizei bewusst vollzogen werden, behaupten die erfahrenen DemobeobachterInnen der Roten Hilfe: „Auffällig ist, dass zunehmend Minderjährige und unorganisierte Menschen Opfer dieser Schikanen werden“ erklärte eine Sprecherin.

Eine Demo, die eben diese Zustände kritisieren wollte, wurde im letzten Herbst zur traurigen Realsatire. Die Demonstration richtete sich „gegen die deutlich zunehmenden repressiven Maßnahmen und Tätlichkeiten der Polizei sowie die Einschränkungen durch die Stadt bei Demonstrationen und Versammlungen“. Die Polizei tat, was sie nur konnte, um dem Aufruf gerecht zu werden. Dabei zeigte sich man seitens der TeilnehmerInnen kreativ: Nikoläuse wiesen mit großen Schildern auf die (fast immer unrechtmässig) filmenden StaatsschützerInnen (O-ton einer Polizistin:“Wir nehmen nicht auf sondern testen nur die neue Kamera“) hin und grüne Wesen aus dem All klärten via „Mars TV“ die PassantInnen darüber auf, was da gerade für komische Sachen passierten. Die Polizei reagierte mit brutalen Schlagstockeinsätzen und Ingewahrsamnahmen von Nikoläusen. Die Demonstration wurde letztlich vorzeitig abgebrochen – „um schlimmeres zu verhindern“. Einen ausführlichen Bericht gibt es bei Indymedia.

Und auch die Stadt lies sich nicht lumpen: kurzfristig wurden die Demoauflagen geändert, so dass Transparente nicht länger als 2,50m sein und die Lautstärke 70dBA nicht überschreiten durfte. Eine Sprecherin des Bündnisses gegen Repression und Polizeigewalt kommentiert: „Durch die Auflagen der Stadt sollte die Demonstration in ihrer Wahrnehmbarkeit stark begrenzt und in ihrem Anliegen herabgewürdigt werden. Eine derartige Einschränkung der Meinungsfreiheit und des Versammlungsrechts ist für uns inakzeptabel.“

Das will man sich nun nicht gefallen lassen: am 5. Februar hat die Demoanmelderin Klage gegen die Stadt Göttingen, vertreten durch den Oberbürgermeister, eingereicht, um die Rechtmässigkeit der Demoauflagen prüfen zu lassen. Sie möchte damit „ein Zeichen gegen die Willkür staatlicher Behörden“ setzen.

Am Donnerstag, den 22. März ab 20 Uhr findet im Theaterkeller die „Pig Brother Liveshow statt“. Bei der Veranstaltung soll über polizeiliche Willkür und Gewalt inklusive humoristischer Aspekte weltweit berichtet werden.

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2 Kommentare auf "Polizeigewalt? Sind wir hier in China oder was?"

  1. Rakete sagt:

    Der in Gewahrsahm genommene Nikolaus ist übrigens vor Gericht vom Vorwurf der Vermummung freigesprochen worden.

  2. DeeDee sagt:

    Hier der Bericht auf Indymedia (falls noch nicht bekannt): http://de.indymedia.org/2007/05/179307.shtml

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