Ein Kommentar zu steigenden Student_innenzahlen
Studieren wird zum Glücksspiel
von schnurr am 9. November 2015 veröffentlicht in Titelstory, UnipolitikIn der Turmmensa finden sich Ökos und Antifas zusammen. Foto: schnurr
Die ersten Wochen des neuen Semesters sind vorbei, die O-Phase schon lange. Man könnte denken, dass sich langsam wieder ein Alltag nach einem langen Sommer einschleicht. Alles wie immer?
Seit Mitte Oktober schallen die Sprechchöre verschiedenster Studienanfänger_innengruppen durch die Stadt, der Willi riecht wie eine Kloake, der Boden ist gespickt mit Glasscherben. Wenn man an der Mensa sein Tablett zurückgeben will – eine riesige Schlange. War die schon immer da? Und war sie schon immer so lang?
Die Uni Göttingen verzeichnet dieses Jahr 6.200 Neuimmatrikulationen. Davon sind 4.600 Erstis. Aus Mitteln des Hochschulpaktes konnten 2.020 zusätzliche Studienanfänger_innenplätze eingerichtet werden. In einer Reihe von Fächern werden zusätzliche Professuren und Lehrende gefördert. Die Gesamtzahl der Studierenden an der Universität steigt damit gegenüber dem vergangenen Wintersemester um knapp 5 Prozent und erreicht mit 30.750 Studierenden zu Semesterbeginn das höchste Niveau seit über 20 Jahren.
Höher, besser, weiter- mehr, mehr mehr. Die Uni reiht sich ein in das Dogma des Kapitalismus vom immer währenden Wachstum. Die Konsequenzen daraus ziehen andere. Das „attraktive Studienangebot und Rahmenbedingungen des Studiums“, laut Vizepräsidentin für Studium und Lehre Grund für die steigenden Student_innenzahlen, schwinden.
Die Teilnahme an Seminaren artet in eine Lotterie aus. Ein Gewinnspiel darum, wer einen der begehrten 25-40 Plätze ergattert oder erbarmungslos rausgelost wird. Statt als Konsequenz das Seminar zwei Mal anzubieten oder nochmals im Folgesemester, wird zunächst die Konkurrenz unter den Student*innen verschärft. Die Wachstumsschmerzen der Uni machen sich bemerkbar. Die Gerissenen müssen das Seminar jetzt belegen, damit sie ihre Bachelorarbeit nicht verschieben müssen. Ein Vorteil der Bologna-Reform: Eine Uni muss ein Studium in Regelstudienzeit ermöglichen.
Einzugswunschtermin 2018
Ja, kommt nur alle nach Göttingen. Aber zieht bitte nach drei Jahren auch wieder weiter. Die Nächsten stehen schon vor der Tür. Sie ziehen in unrenovierte Zimmer oder das Harry-Potter-Zimmer unter der Treppe – Hauptsache ein Dach über dem Kopf.
Der Göttinger Wohnungsmarkt ist, was bezahlbaren Wohnraum angeht, eine Katastrophe. Die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt hat dem Studentenwerk im September ein neues Wohnheim mit 96 Plätzen übergeben. Kosten: ab 300€. 1957 Bewerber_innen haben zum Wintersemester jedoch keinen Platz in irgend einem Wohnheim bekommen. Durch Aktionen wie „Zimmer frei? Studi herbei“ mit privaten Wohnungseigentümer_innen oder „Wohnen für Hilfe“ mit der Freien Altenarbeit konnten 21 Wohnungen vermittelt werden.
Wer keine Lust hat nach oben zu scrollen: 2.020 neue Studienanfänger_innenplätze wurden dieses Jahr neu geschaffen. Dagegen wirken die geschilderten Maßnahmen wie ein Tropfen auf einem heißen Stein. Und es sind nicht nur Student_innen, die auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind.
Alles wie immer? Ja. Solange die Nazis nicht in meine Mensa gehen.