Ideologie in Kinderbüchern
Der rote Wunderschirm
von Eduard Bar am 3. November 2011 veröffentlicht in featured, Kultur, TitelstoryEine Ausstellung in der Paulinerkirche zeigt, wie Erwachsene über Kinderbücher versuchen, Einfluss auf den Nachwuchs zu nehmen. Vom Kaiserreich über den deutschen Faschismus bis hin zur DDR sind alle Epochen vertreten. In den Büchern ist alles von schwarzer Pädagogik über Rassismus bis hin zu Antisemitismus zu finden.
Eine Ausstellung historischer Kinder- und Jugendbücher in der Göttinger Paulinerkirche – könnte es einen verlockenderen Anlass geben, sonntagmorgens das Haus zu verlassen? Und vor lauter Buchbegeisterung noch fröhlich darüber hinwegsehen, dass es bei der Ausstellungseröffnung weder Sekt noch Häppchen gibt? Wer jetzt zweimal „Nein“ gedacht hat, gehe einfach an einem beliebigen Tag bis zum 12. Februar 2012 zu einer selbstbestimmten Uhrzeit hin und nehme sich ein Brötchen mit. Zumindest zur Kenntnis genommen haben sollten alle diese Veranstaltung, die gerade als öffentlich sichtbare Spitze auf eine dahinterliegende Sammlung aufmerksam macht, die zum Interessantesten gehört, was Göttingen in dieser Hinsicht zu bieten hat. Es handelt sich dabei um den seit 2008 in Göttingen befindlichen Nachlass des Hannoveraner Politikwissenschaftlers und Verfassungsrechtlers Jürgen Seifert (1928-2005).
„Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder“
Seiferts Sammlung „von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus“ ist mit 12.000 Bänden nicht nur eine der größten ihrer Art, sondern vor allem durch die politische Schwerpunktsetzung einzigartig. Vom 18. Jahrhundert mit Robinson Crusoe und den pädagogischen Elementarwerken der Aufklärung über die Märchenbücher der Romantik und die Straf- und Disziplinierungsphantasien der „schwarzen Pädagogik“ bis in die jüngere Vergangenheit findet sich fast alles, was Erwachsene für und über Kinder gedacht, geschrieben, illustriert und folgenreich institutionalisiert haben. Aus Seiferts eigener Biographie heraus begründet sich der große Anteil an Büchern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Versuch, ganz im Sinne von Seiferts Inspirator Walter Benjamin, die „Zeit zu ordnen“.
Die umfangreichen Bestände sind eine einzigartige Dokumentation der ideologischen Früherziehung vom Kaiserreich zum sog. Dritten Reich – durch alle politischen Lager. Jürgen Seifert hatte bei seiner jahrzehntelangen Sammeltätigkeit die Frage angetrieben, warum er nicht zu dem geworden ist, was die Schul- und Lesebücher seiner Kindheit propagiert haben. „Ich lernte, dass mein ‚eigener Raum‘ für mich wichtig ist, aber immer neu von der Welt des ‚Dienstes‘ bedroht war. Die unterschiedliche Lektüre brachte mich zu der Frage: warum interessiert dich dieses Buch und das andere nicht? So kam ich dazu, Unterschiede wahrzunehmen und zu beurteilen“, wird Seifert im Ausstellungskatalog zitiert.
Diese Unterschiede, die Seiferts Sammlung offen zu Tage treten lässt, durch die Jahrhunderte und über verschiedene pädagogische Ansätze und opponierende politische Systeme hinweg aufzuzeigen, ist den AusstellungsmacherInnen gelungen. Unter der Anleitung des Göttinger Fachdidaktikers Wolfgang Wangerin hat die Projektgruppe Historische Kinderbuchforschung einen viele Stationen umfassenden Rundgang geschaffen, der nicht nur die historischen Entwicklungslinien nachvollziehbar werden lässt, sondern auch die krassen Unterschiede anschaulich macht. Neben rassistischen kolonial-romantischen „Neger“-Büchern, militaristischen Kleinkindersoldatenabenteuern, dem Hitlerjungen Quex oder Ernst Hiemers Giftpilz von 1938, einem populären antisemitischen Bilderbuch, das den Massenmord an den europäischen Juden vorwegnimmt, werden auch deren Gegenteile sichtbar. Widerwärtiges in allzu niedlicher Aufmachung wird konfrontiert mit harter, von Käthe Kollwitz illustrierter sozialrealistischer Wirklichkeitsabbildung.
„Der Affe Oswald“ von Egon Mathiesen
Ernst Friedrichs Proletarischer Kindergarten etwa, oder das kollektiv von „Arbeiterkindern für Arbeiterkinder“ verfasste Tagebuch Die rote Kinderrepublik machen eine „Anti-Bewegung“ sichtbar, die auch für das jüngste Lesepublikum gegen die auf bürgerlicher Seite propagierten Größen wie Krieg, Kolonialismus, Kapitalismus oder die Entwürfe einer „heilen Welt“ anschrieben. Dieser lange vernachlässigten sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur wurde in Ausstellung und Katalog großer Raum gegeben. Und das ist trotz der Menge der gezeigten Ausstellungsobjekte gleichbleibend eindrucksvoll, auch wenn die Ausstellung naturgemäß nicht alles zeigen kann. Aber Eindrücke davon vermitteln, wie Erwachsene mit mal mehr, mal weniger subtilen Tricks und Kniffen auf Kinder einzuwirken versucht haben.
Oder dass Bücher nicht nur Instrumente der Beschränkung, der Strafandrohung und Einengung kindlichen Wünschens und Handelns gedient haben, sondern auch ganz gegenteilig. Als utopische Korrektive einer grausamen Realität, als Hoffnungsspender und Verheißung besserer Welten. Oftmals durch Bilder, die wie im Fall des titelgebenden Wunderschirms mehr sagen als tausend Worte. Daher die Empfehlung, einfach mal hereinzuschauen. Es muss ja nicht am Sonntagmorgen sein.
„Mecki bei den Negerlein“