Göttinger Perspektiven auf den G20-Gipfel in Hamburg. Erster Teil
von am 28. Juli 2017 veröffentlicht in Gespräche

In Hamburg hat es heftig geknallt. Vor Beginn und während des G20-Gipfels am 7. und 8. Juli 2017 im Hamburger Messe- und Kongresszentrum kam es im Stadtgebiet zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den mit 21.000 BeamtInnen vertretenden Polizeibehörden, Zehntausenden Anwohner_innen und etwa 100.000 G20-Gegner_innen.

Seither wird über Ursachen und Konsequenzen debattiert. Die lautesten Stimmen kommen dabei erwartungsgemäß aus den für den Gipfel verantwortlichen Regierungen sowie den etablierten Parteien und Medien. Dabei stellen sie ausnahmslos die Gewalt gegen PolizeibeamtInnen bei Auseinandersetzungen rund um die verhinderte Welcome To Hell-Demonstration am Donnerstag und bei Protesten im Schanzenviertel am Freitag in den Fokus.

Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) behauptete in Hinblick auf gewalttätige Demonstranten: „Die Täter unterscheiden sich überhaupt nicht von Neonazis und deren Brandanschlägen.“ Ähnlich äußerten sich auch Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) und Bundesinnenminister De Maizière (CDU), nur dass sie auch noch Islamisten in die Gleichung aufnahmen. Aus der parlamentarischen Opposition waren ähnliche Verlautbarungen zu vernehmen: Für Sahra Wagenknecht (Die Linke) sind „die Gewalttäter keine Linken, sondern Kriminelle“. Auch die Polizei mischte während des Gipfels als politische Akteurin mit eigenen Standpunkten und Medien mit und versuchte frühzeitig eine Deutungshoheit herzustellen, die es ihr erlaubte, Handlungsmacht weit über das gewohnte Maß hin für sich zu beanspruchen.

Neben diesen lauten Stimmen sind vertiefende Analysen der in Hamburg sichtbar gewordenen politischen Konflikte, aber auch die Erfahrungen und Einschätzungen der an den Anti-G20-Protesten Beteiligten dagegen kaum zu vernehmen. War und ist die Linke angesichts der massiven Gewalt während der Gipfelwoche und einer aktuell stattfindenden medialen und polizeilichen Kampagne gegen linke Aktivist_innen und Netzwerke zu schwach organisiert? Hat sie in Hamburg an Deutungs- und Handlungsmacht eingebußt oder ist der Gipfel-Protest ein Erfolg der Linken, der sich mittel- und langfristig auszahlen wird?

Wir haben Menschen getroffen, die sich an Protesten gegen den G20-Gipfel beteiligt haben und sie nach ihren Motiven für den Protest und nach ihrem vorläufigen Fazit gefragt. In den kommenden Wochen werden wir darüber mit Göttinger Aktivist_innen aus unterschiedlichen politischen Zusammenhängen sprechen. In ersten Teil der Interviewserie befragen wir die Gruppe redical M, die sich als sich „kommunistisch und antinational“ versteht.

monsters: Warum habt ihr zum G20-Gipfel nach Hamburg mobilisiert?

redical M: Wir haben nach Hamburg zu Protesten gegen den G20-Gipfel mobilisiert, weil wir im Rahmen breiter linker Bündnisse eine gemeinsame Politik entwickeln und für eine Kritik an kapitalistischer Herrschaft werben wollen. Uns ging es in Hamburg nicht darum, am Zaun der Mächtigen zu rütteln oder einzelnen Charaktermasken wie Erdogan oder Trump eine Politikberatung anzubieten. Außerdem waren wir bei Gipfelprotesten in den vergangenen Jahren, aber auch in Hamburg, immer wieder mit Formen von Protesten – wir denken da etwa an verschwörungstheoretische und antisemitische Äußerungen – konfrontiert, die emanzipative Perspektiven verstellen anstatt sie zu öffnen. Uns ging es darum die Gipfelproteste inhaltlich zu schärfen und falschen Protestformen etwas entgegenzusetzen.

Der G20-Gipfel und eine radikale Kritik war in Göttingen in den Wochen vor dem 7./8. Juli kaum zu vernehmen. War es schwer in Göttingen für die Gipfelproteste zu mobilisieren?

Göttingen ist stark durch ihre Universität und ihre studentische Klientel geprägt. Göttingen trägt wenig Weltgeschehen in sich; hier gibt es, anders als in europäischen Großstädten, keine Institutionen, in denen sich die gesellschaftliche Polarisierung und die Brutalität des Kapitalismus symbolisch so sehr verdichten, dass sich eine politische Auseinandersetzung unmittelbar anbietet. Insofern bestehen Schwierigkeiten bei der Vermittlung unserer Kritik.

Erfolgreiche Mobilisierung zu einer radikale Kritik am G20-Gipfel in Göttingen?

Dennoch haben wir gemeinsam mit anderen Göttinger Gruppen die Veranstaltungsreihe „Göttingen goes G20“ zur Mobilisierung und zur Vorbereitung der Gipfelproteste durchgeführt. Daran hat ein breites Spektrum linker Gruppen, unter anderem queerfeministische, antifaschistische, gewerkschaftliche und kurdische Aktivist_innen aus Göttingen, teilgenommen. Des Weiteren hatten wir den Eindruck, dass sich das Stadtbild in den Wochen direkt vor dem Gipfel wahrnehmbar verändert hat und viele Plakate und ähnliches auf die Proteste hingewiesen haben.

Zu welchen Protestaktionen gegen den Gipfel in Hamburg habt ihr aufgerufen?

Uns ging es darum, den kapitalistischen Normalvollzug symbolisch anzugreifen. Daher stand im Mittelpunkt unseres Engagements die Beteiligung am „#HamburgCityStrike. Shut down the logistics of capital!“. Wir haben eine Demonstration durch den Hamburger Hafen gemacht und dabei diesen als Ort angegriffen, in dem sich zentrale Aspekte des globalen Kapitalismus thematisieren lassen. Während über die Meere täglich Millionen von Waren frei bewegt werden, sterben in denselben Gewässern täglich Menschen, denen dieselbe Freizügigkeit verweigert wird.

Im Hafen haben wir eine wichtige Verkehrsachse blockiert, um deutlich zu machen, dass dieser kapitalistische Normalvollzug an seinen logistischen Achsen angreifbar ist. Wir haben im Vorfeld von ähnlichen Aktionen gelernt – etwa die Hafenblockade im Rahmen von Occupy Oakland 2011 oder durch Erfahrungen mit Blockaden in italienischen Betrieben.

Würdet ihr den Verlauf eurer Aktion als Erfolg werten? Inwiefern musstet ihr spontan auf Ereignisse und Dynamiken vor Ort reagieren?

Ja, wir werten die Aktion als großen Erfolg. Über 1000 Menschen haben sich an der Aktion beteiligt. Die Port Authority Hamburg gab vor wenigen Tagen bekannt, dass unsere symbolische Blockade einen Rückstau von LKW und damit eine Verzögerung von drei Tagen in der Logistik verursacht hat. Das und auch die vielen positiven, solidarischen Rückmeldungen von Hafenarbeitern sehen wir als unseren Erfolg an.

Dieser Erfolg war, so unsere Einschätzung, durch das Ineinandergreifen von verschiedenen Aktionsformen während des Gipfels in Hamburg möglich. Der Protest, den die Interventionistische Linke (IL) unter dem Label „Block G20. Colour the Red Zone“[1] organisierte, und andere Aktionen haben sich ergänzt und gegenseitig unterstützt. Wir teilen mit der IL aus inhaltlichen Überlegungen heraus nicht deren Präferenzen für Aktionen gegen Gipfelort und -teilnehmerInnen, am Zaun der Mächtigen rütteln ist unsere Sache nicht. Dennoch, die Stärke der einzelnen Aktionen ergab sich aus ihrem Zusammenspiel sowie dem gegenseitigen kritischen und doch solidarischen Bezug aufeinander.[2]

Dennoch vermute ich, dass vieles in Hamburg anders lief, als von euch erwartet. Insbesondere die Polizei konnte Handlungsmacht weit über das gewohnte Maß hin für sich zu beanspruchen.

Ja, sicher lief nicht alles nach Plan. Du hast nach spontanen Schwierigkeiten gefragt. Ich denke, diese lassen sich unter dem Stichwort Polizeigewalt und Repression zusammenfassen. Was Stadt und Verwaltung aufgefahren haben, lässt sich nur mit dem Wort Polizeistaat zusammenfassen. Die Polizei hat jegliche demokratischen Rechte ignoriert, hat gegen die Justiz geputscht und unsere Camps zerstört. Genoss_innen von uns aus Skandinavien wurden schon an der Grenze massiven Repressalien unterzogen und kamen erst mit viel Verspätung nach Hamburg.

Uns haben durch die Repression – vor allem durch das Fehlen der Camps, wie sie ursprünglich vorgesehen waren – Orte des inhaltlichen Austauschs und der Vernetzung gefehlt und es war schwieriger, unsere Kritik sichtbar zu machen. Wir haben deshalb umdisponieren müssen.

Durch die brutale Polizeigewalt schon in der Woche vor dem Gipfel, etwa bei der Welcome to Hell-Demonstration oder den Angriffen auf die Camps, hat es hunderte Verletzte gegeben. Schlussendlich war dieses Vorgehen der Polizei auch darauf ausgelegt, abschreckend auf junge, unerfahrene aber interessierte Menschen zu wirken, die dann möglicherweise in der Folge nicht mehr an Aktionsformen am Wochenende, wie zum Beispiel unserer Hafenblockade, teilgenommen haben.

Inwiefern ist es richtig von einer neuen Dimension von Polizeigewalt zu sprechen? Und müsste die Linke nicht auch stärker in den Blick nehmen, dass die Polizei immer stärker als eigenständige politische Akteurin auftritt?

Zunächst mal ist das Vorgehen der Polizei ein Zeichen, dass die Linke ein Störfaktor bleibt und dass wir etwas richtig machen. In der Geschichte gab es außerdem keine linke Bewegung, die nicht von Staat und Polizei angegriffen und diffamiert wurde und es den Versuch gab diese zu spalten. Wir sehen in den Ereignissen von Hamburg keine neue Dimension oder Qualität. Die Cops halten sich nicht an ihre eigenen Regeln – das hat uns nicht überrascht. Die Ereignisse in Hamburg sind vielmehr eingebettet in eine schon lange anhaltenden autoritären Wende. Eine „bessere“ Polizeistrategie zu fordern, ist nicht unsere Aufgabe. Wir schauen auf andere Akteur_innen.

Die Transformation des Sozialstaats ist seit Jahrzehnten geprägt durch soziale Einschnitte und autoritäre Lösungen. Autoritäre Politik sucht sich immer wieder Rechtfertigungen für Maßnahmen und natürlich sind soziale Aufstände Anlässe für einige ihrer Akteure lauter zu bellen. Für den politischen Rechtsruck spielte und spielt der G20-Gipfel jedoch keine besonders große Rolle. Wasserwerfer und Bundestrojaner gab es schon vor dem G20-Gipfel.

Erstaunlich war, und das haben wir mit Freude festgestellt, dass trotz Säbelrasseln und massiver Gewalt und Gewaltdrohungen viele tausende Menschen nach Hamburg gekommen sind. Diese Menschen haben sich nicht abschrecken lassen, obwohl für alle ersichtlich war, dass die Bullen eskalieren wollten. Die Folge war, dass Zehntausende entschieden haben, die Polizei und die Verbote zu ignorieren.

Die mediale und polizeiliche Kampagne zielt ja nun vor allem auf die Gewaltfrage.

Natürlich versucht die Polizei nun eine bestimmte Gewalt herauszugreifen und zu benutzen. Es wäre aber falsch, sich von diesen Institutionen vor ihnen her treiben zu lassen. Wir halten es außerdem für falsch, sich grundsätzlich von allem, das medial mit „Gewalt“ betitelt wird, zu distanzieren.

Allerdings halten wir eine Kritik an einigen Aktionen für wichtig: welchen Sinn es etwa haben soll Kleinwagen anzuzünden und Unbeteiligte zu gefährden erschließt sich uns nicht. Ansätze wie den „Kommenden Aufstand“ halten wir für politisch fatal.

Es kann nicht Ziel der radikalen Linken sein, gewaltsam soziale Konflikte bis zum finalen Zusammenbruch zu eskalieren. Soziale Konflikte können, wenn sie auf der Straße ankommen, militant ausgetragen werden, aber im Mittelpunkt sollte die Frage nach sozialer Verankerung und politischer Organisierung stehen. Über die „Militanzfrage“ wird ja nun seit Jahren in der Linken debattiert und darüber wird auch noch weiter zu sprechen sein.

Ihr habt von einem Mobilisierungserfolg gesprochen. Andererseits ist auch eine Schwächung einer Zivilgesellschaft, die auf die Einhaltung demokratischer Grundregeln pocht, zu beobachten. Ist das nicht eine große Gefahr für eine schon bereits marginalisierte politische Linke?

Es war tatsächlich erschreckend zu sehen, dass die Zivilgesellschaft ihre Basis in Hamburg nicht auf die Straße gekriegt hat. Wer ist die Instanz in Deutschland, die Grundrechte verteidigt? Auf die Zivilgesellschaft jedenfalls können wir uns nicht verlassen. Natürlich hat Hamburg da auch seine eigene Geschichte: Die Konflikte um die „Gefahrengebiete“ haben einer breiten Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass die Cops lügen. Auch im Rahmen des Gipfels wurde deutlich, dass der Umgang mit den Medien, aber auch mit Anwält_innen nicht den demokratischen Standards genügt, die sich bundesrepublikanische Autoritäten immer zugute halten. Journalist_innen von Süddeutscher Zeitung, Stern, Zeit und selbst die Bild – alle haben über massive Einschränkungen ihrer Arbeit und über Angriffe auf ihre Gesundheit berichtet. Schlussendlich ist es dann aber erschreckend, dass der Protest einer zivilgesellschaftlichen Basis ausgeblieben ist.

Wir konzentrieren uns darauf, eigene Ansätze für Deutungshoheit zu schaffen. Wir begrüßen daher eine kritische Gegenöffentlichkeit, wie sich sich im Offenen Brief der Ladenbesitzer_innen des Schanzenviertels oder im Alternativen Medienzentrum in St.Pauli ausdrückten. [3]

Welche Erfahrungen habt ihr diesbezüglich in Göttingen gemacht?

In Göttingen gibt es eine relativ starke bürgerliche Mitte. Auch die Linke ist in Göttingen stark verwurzelt. Die Sensibilität für polizeiliches Fehlverhalten ist hier groß und wenn die Polizei über die Stränge schlägt und sich nicht an ihre eigenen Gesetze hält, können wir meist auf eine kritische Gegenöffentlichkeit zählen.

Dazu gehört neben einer aufmerksamen Zivilgesellschaft auch juristische Unterstützung. In dem Zusammenhang möchten wir auf das Engagement Göttinger Anwälte  beim G20-Gipfel hinweisen.[4]

Wie wichtig war der G20-Gipfel für euren Protest? Wie sähe ein guter Gipfel aus?

Ein gelungener Gipfel ist in dieser Form sicherlich unmöglich. Wir sehen ihn vielmehr als Machtinszenierung. Wir erwarten von diesen politischen AkteurInnen nichts. Natürlich gehen die im Rahmen internationaler Treffen getroffenen Vereinbarungen über Krise, Krieg und Geflüchtete nicht spurlos an uns vorüber. Politikberatung für Charaktermasken mit begrenzten Handlungsspielräumen ist aber nicht unsere Aufgabe. Es muss sich grundsätzlich etwas ändern.

Ein erfolgreicher Gipfel wäre daher einer gewesen, der verhindert worden wäre. Das wäre ein Erfolg, ein Zeichen, dass ein Großteil der Menschen diese Politik nicht mehr akzeptieren kann, gewesen. Es wäre ein Zeichen gewesen, dass Politik von unten gemacht wird. Die Welt hat zwei Tage auf Hamburg und auf die Proteste geblickt. Es waren Ansätze von Selbstermächtigung wahrnehmbar. Uns ist es gelungen, gegen den inszenierten Showdown zwischen autoritärem Neoliberalismus und nationalistischem Rollback endlich wieder die dritte Option eines grenzübergreifenden Widerspruchs auf die Tagesordnung der Weltöffentlichkeit zu setzen.

Wie geht es mittel- und langfristig mit der Linken weiter?

Wir sind genervt, dass es hauptsächlich um Gewalt geht und dass wir in Hamburg unsere inhaltlichen Punkte nur unter großen Einschränkungen machen konnten. In Göttingen findet aber glücklicherweise eine linke Debatte statt – man muss sagen: wieder. Das war nicht immer so. Es wird in Zukunft darum gehen, den kapitalistischen Alltag auch hier vor Ort zu kritisieren. Das war ja auch die große Chance in Hamburg: Dort symbolisch und vor einer breiten Öffentlichkeit anzugreifen, was uns hier alltäglich betrifft. Eine Lehre aus Hamburg muss auch sein, verschiedene soziale und politische Hintergründe ernst zu nehmen, um gemeinsame Perspektiven zu entwickeln. Wir finden es wichtig, dass sich Menschen politisch vernetzen und in verschiedenen Bereichen selbst ermächtigen. Dafür sind wir in Göttingen in thematisch vielfältigen Bündnissen gut aufgestellt und wir sind dabei zu wachsen.

Danke für das Gespräch.


[1] http://www.blockg20.org/

[2] Eindrücke von den Blockaden im linken Videoportal Leftvision: https://youtu.be/6wz9ti63FkI und https://youtu.be/ItDKfcYJ6oQ

[3] Offener Brief von Ladenbesitzer_innen des Schanzenviertels

Berichte über das Alternative Medienzentrum auf St.Pauli: Hamburger Abendblatt und TAZ.

[4] Bericht beim Göttinger Tageblatt

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