Graffiti

„Zwischen Lifestyle, Kunst und Adrenalin“
von am 1. Oktober 2013 veröffentlicht in Kultur, Tagessatz, Titelstory

Wäre ohne Graffiti nicht das, was es ist: Das Jugendzentrum Innenstadt. Bild: Sarah Raymakers.

Max malt Graffiti an Göttingens Wände. Er ist damit Teil einer globalen Subkultur, die sich im Kampf um den öffentlichen Raum befindet. Die Geschichte einer Jugendbwegung im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz. Tagessatz-Autor Paul Hildebrandt hat ihn getroffen.

Das Zischen der Dose hallt über den leeren Hof. Aus der fernen Dunkelheit hört man lautes Lachen der letzten Kneipengäste. Während aus weißen Strichen langsam ein bunter Schriftzug entsteht, wirft Max immer wieder prüfende Blicke über seine Schultern. Wird er von der Polizei entdeckt, droht ihm eine hohe Geldstrafe. Als „Vandalismus“ bezeichnet der Staat die kunstvollen Zeichnungen an der leeren Wand.

„Es geht mir auch um den Nervenkitzel“, erklärt Max, „und die uneingeschränkte Freiheit, machen zu können, was ich möchte. Ohne Kontrolle.“ Graffiti ist Teil einer neuen Urbanität, die sich Ende der 70er Jahre in US-Amerikanischen Großstädten herausgebildet hat. Das Sprühen entsteht als Teil der Hip-Hop Szene vor allem als Rebellion. Junge Menschen schreiben ihre Pseudonyme an Wände, an Fenster, an Züge. Was mit normalen Stiften beginnt, entwickelt sich zu Sprühdosenmalereien.

Die Welle schwappt über und so tauchen bald auch in deutschen Großstädten erste Malereien auf. Graffiti-Magazine entstehen, Regelkodexe werden etabliert, englische Begriffe bestimmen den Szene-Jargon. Immer mehr Jugendliche werden von der Faszination der Straße gepackt. „Natürlich hat es auch etwas mit Zerstörung zu tun, aber vor allem kann jeder Graffiti machen. Du kannst entscheiden, was du malst und wo du malst, du bist frei von Vorgaben und Kontrolle und musst keinem Rechenschaft ablegen.“ Den SprüherInnen geht es um den Fame, bekannt zu werden, gesehen zu werden. Aufmerksamkeit bekommt, wer die verwinkelsten Buchstaben kreiert, die heißesten Spots bemalt – präsent bleibt.

Das Göttinger Straßenmagazin TagesSatz will soziale Missstände aufzeigen und als Sprachrohr für alle sozial Benachteiligten und Ausgegrenzten dienen. Er will dazu beitragen, Armut und Ausgrenzung sichtbar zu machen. Sein Ziel ist es, Menschen in besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und sie bei der Überwindung ihrer Schwierigkeiten zu unterstützen. Ihr könnt diese Menschen dabei unterstützen, in dem ihr bei den StraßenverkäuferInnen ein Exemplar des monatlich erscheinenden Magazins erwerbt. Im Rahmen unserer Medienpartnerschaft mit dem TagesSatz veröffentlichen wir aus jedem Heft einen Artikel bei uns.
www.tagessatz.de

„Graffiti ist auch immer Ausdruck einer Stadt. Menschen, die an diesem Ort leben, gestalten ihn – und nicht irgendwelche Werbeplakate“, beschreibt Max das Besondere am Sprühen. Zu Hause bereitet er Skizzen vor, entwirft neue Buchstabenformen, überlegt sich Farben. Dann zieht er los. Gemalt wird überall, wo es gesehen werden kann. „Am Besten ist es auf Zügen zu malen. Das Material und die Größe sind perfekt zum Sprühen.“ Für ihn ist Graffiti fester Bestandteil eines modernen Stadtbildes. Die öffentliche Verwaltung jedoch sieht Menschen wie Max als Feindbild. „Graffiti ist kein Kavaliersdelikt“, lässt die Polizei verlauten. Die Bahn rechnet mit knapp 7,6 Millionen Euro Kosten im Jahr, um die Farbe von ihren Zügen zu waschen. „Die Werbung setzt uns auch jeden Tag Bilder vor die Nase, die wir nicht sehen wollen, also entscheiden wir einfach selber, was an die Wände kommt“, wehren sich SprüherInnen.

In den Achtzigern erreicht das Sprühfieber auch Göttingen. Erste Tags tauchen an den Wänden der Innenstadt auf. „Alle meine Freunde haben gesprüht. Irgendwann wollte ich auch Sachen machen und habe meine eigenen Graffiti entwickelt. Dann bin ich zusammen mit anderen losgezogen. Beim Sprühen geht es ziemlich viel um Gemeinschaft.“ Wie viele andere in der Szene ist auch Max Teil einer festen Crew, mit der er in verschiedenen Städten aktiv ist.

„In Göttingen ist die Szene relativ klein, fast alle Sprüher kennen sich untereinander.“ Beim Schlendern durch die Innenstadt erkennt er die meisten Tags wieder. Taucht ein neues, gut gesprühtes Graffito auf, wird er neugierig. „Einmal wurde ich auf einer Plattform von einem User angeschrieben, der sich mit mir treffen wollte. Zuerst dachte ich an einen Ermittler, aber die Wortwahl konnte nur aus der Szene kommen.“Am nächsten Tag treffen sich zwei Menschen, die sich vorher nur über ihre Writings kannten. Die Graffiti des Neuen überzeugen, mittlerweile malen sie auch zusammen.

Die Angst, seinen eigenen Namen zu nennen, ist groß. Die Polizei macht Jagd auf SprüherInnen, es gibt eigene Einheiten, um gegen die Bemalung der Wände vorzugehen, die Bahn benutzt angeblich sogar Drohnen, um illegale SprüherInnen zu stellen.

Vernetzung passiert also neben dem Internet vor allem über legale Veranstaltungen, bei denen SprüherInnen einen Ort gestellt bekommen, in dem sie kreativ werden können.

Das Prinzip der Hall of Fame, legale Spots zum Sprühen, gibt es auch in Göttingen: am JuZi zum Beispiel oder bei Veranstaltung wie dem „Street Up Europe“-Festival auf dem Uni-Campus. „Die legalen Sachen helfen Graffiti und Street Art zu mehr Akzeptanz in der Gesellschaft zu kommen und geben den Sprühern Zeit für hohe Qualität, sie können aber höchstens Beiwerk zum illegalen Sprühen sein. Die Spontaneität geht sonst einfach verloren.“ Die Graffiti-Szene sucht keine Kompromisse, der Kick ist Teil des Ganzen.

Als sich Graffiti langsam vom Hip Hop zu lösen beginnt, entstehen neue Formen des Ausdrucks:  Street Art, so der Oberbegriff, geht über das reine Malen von Buchstaben hinaus. Anders als Graffiti werden nun gesellschaftliche Aussagen in die Öffentlichkeit transportiert. „Ich würde sagen, im Gegensatz zu Street Art ist Graffiti keine Kunst. Wenn ich sprühen gehe, sehe ich mich nicht unbedingt als Künstler“, formuliert Max vorsichtig den Unterschied.

Street Art hingegen bewegt sich im künstlerischen Feld, die Regeln von Graffiti fallen weg. Künstler, wie der weltbekannte Brite Banksy nutzen Schablonen, Poster und Gegenstände des öffentlichen Lebens, um Kunst zu schaffen und sehen sich doch in der Tradition von Graffiti. Die Grenzen sind fließend.

Beide eint die Vergänglichkeit, die Teil des Prozesses ist. Nichts davon bleibt für die Ewigkeit, es lässt sich nicht in Museumssälen konservieren. Wer Street Art schafft, weiß, dass es schon am nächsten Tag verschwunden sein kann.

Auf der facebook-Seite „Street Art Göttingen“ werden daher Bilder aus den Straßen der Stadt hochgeladen. Malte, der Betreiber des Portals, beschreibt das Prinzip von Street Art als Kunst „beyond the white cube.“, Kunst außerhalb des weißen Würfels. „StreeArt findet im öffentlichen Raum statt und ist jedem immer zugänglich.“ Er versucht zu dokumentieren, was sonst vielleicht ungesehen wieder verschwunden wäre. Auf seiner Seite lassen sich bunte Figuren finden, die an Häuserwände geklebt sind, Schablonen, Wandmalerereien. Das Titelbild ziert ein gesprühtes Schwein.

Außerhalb von Göttingen ist die Straßenkunst längst im kommerziellen Bereich angelangt: Große Sportartikelhersteller nutzen SprüherInnen, um Werbung an Straßenecken anbringen zu lassen, Kleidungsfirmen bedienen sich seit Jahren am verschlungenen Graffiti-Stil, Banksys Werke werden zu Millionenbeträgen an Kunstinteressierte verkauft. Auch Graffitikünstler wie Taps und Moses verkaufen Fotos von ihren Werken im großen Stil. Aus der jugendlichen Rebellion ist ein Kunstmarkt entstanden.

Die Frage, wie viel Kommerz diese Subkultur aushält, stellt sich für Max nicht, das Sprühen ist längst ein nicht wegzudenkender Teil seines Lebens. Zwischen Bergen von halb leeren Sprühdosen und noch bleistiftgrauen Skizzen versucht er die Rolle zu beschreiben, die Graffiti heute einnimmt: „Es hängt eben ganz stark davon ab, was dir das Ganze bedeutet, welche Ziele du bei der Sache verfolgst. Am Ende findet sich Graffiti irgendwo zwischen Lifestyle, Kunst und Adrenalin – du hast die Freiheit daraus zu machen, was dir gefällt.“

Text: Paul Hildebrandt

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