Dienstschluss im Rathaus: Kundgebung von Polizei getäuscht?

Protest und Sitzblockade gegen Abschiebung von Jetmir K.
von am 6. August 2012 veröffentlicht in Antirassistische Politik & Verfolgung, Demonstration, Lokalpolitik, Titelstory

Jetmir K. sitzt in Abschiebehaft und soll ins Kosovo abgeschoben werden. Deshalb protestierten vor dem Neuen Rathaus gegen 14:00 Uhr ca. 100 Menschen gegen die geplante Abschiebung des 21-jährigen Göttinger Roma. Der Zutritt zur Ausländerbehörde wurde der Kundgebung von der Polizei verwehrt. Eine Delegation mit Verwandten Jetmir Ks. durfte nach längerer Verhandlung das Rathaus betreten, um mit der Behörde zu sprechen. Dann die Überraschung: In der Ausländerbehörde hatten schon alle Feierabend.

Die Stimmung auf dem Hiroshima-Platz war deutlich gedrückt. Trotzdem freuten sich die VeranstalterInnen der Kundgebung, dass nach so kurzer Mobilisierungszeit sich doch so viele TeilnehmerInnen eingefunden hatten. Es ist kaum eine Woche her, dass Jetmir K. in der Göttinger Ausländerbehörde verhaftet wurde. Eigentlich sollte er schon am 1.8. abgeschoben werden, seine Androhung einen Suizid zu unternehmen, habe die Abschiebung aber verzögert, da ihm nun eine ärtzliche und polizeiliche Begleitung zur Verfügung gestellt werden müsse. Da diese nun gefunden sind, soll er morgen abgeschoben werden.

Jetmir K. spricht Deutsch, kein Albanisch, ist seit seinem vierten Lebensmonat in der BRD und hat dennoch keinen Aufenthaltstitel. Genauso wie seine Eltern wird er nur geduldet. 1991 kam seine Familie nach Deutschland, kurz bevor die Balkankriege ausbrachen. Schon damals sahen sich die Roma rassistischer Verfolgung in ihrer ehemaligen Heimat Kosovo ausgesetzt. Die Hoffnung auf ein dauerhaftes Bleiberecht in der BRD wurde allerdings schnell getrübt, nachdem in Zuge von Rostock Lichtenhagen und Hoyerswerda 1993 das seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende Asylrecht faktisch abgeschafft wurde.

Schon 2010 erregte das Schicksal Jetmir Ks. überregionales Aufsehen. Damals floh er im Zuge einer groß angelegten Abschiebeaktion von Stadt und Landkreis, die damals von AktivistInnen erfolgreich verhindert wurde, mit seinem Bruder Ramadan ins Kirchenasyl. Seine damalige Weigerung sich abschieben zu lassen wird heute vom Amtsgericht Hannover als Legitimation für die Abschiebehaft argumentativ herangezogen. Auf der Kundgebung vorm Neuen Rathaus wird die Begründung des Gerichts folgendermaßen zitiert:

„Der Betroffene ist bereits im Jahre 2005 mit seiner Familie nach Schweden ausgereist, um sich der geplanten Abschiebung zu entziehen. Ein weiterer Abschiebeversuch scheiterte im Jahr 2010, weil sich der Betroffene ins Kirchenasyl begab. Im Rahmen seiner Anhörung am 31.7.2012 vor dem Amtsgericht Göttingen hat er angegeben nicht freiwillig ausreisen zu wollen. Der Betroffene ist ferner gegen seine Abschiebung gerichtlich vorgegangen und hat versucht eine einstweilige Anordnung zu erwirken.“

Gerade die letzte Passage wird vom Antirassistische Aktionsplenum kritisiert. Da Jetmir gegen seine Abschiebung rechtliche Schritte eingeleitet habe, wird er in Abschiebehaft gesteckt. „Haft als Sanktionierung, da er es gewagt hat als Mensch ohne deutschen Pass seine eigenen Rechte im deutschen Rechtssystem wahrzunehmen,“ heißt es zynisch in dem Redebeitrag. Alle Bemühungen Jetmir Ks., sich um seine kranken Eltern zu kümmern und in Deutschland zu bleiben würden vom Gericht durch die Abschiebehaft sanktioniert. Das Antirassistische Aktionsplenum widerspricht der Argumentation des Gerichts:

„Schon allein die Tatsache, dass er sich allein um seine kranken Eltern kümmern muss, entkräftigt den Verdacht, dass er untertauchen wird. Somit ist eine Begründung für die Abschiebehaft hinfällig und der Haftbeschluss rechtswidrig. Nach Aussagen eines Anwaltes in Hannover, der sich auf Abschieberecht spezialisiert hat, sind ca. 2/3 aller Haftbeschlüsse in Abschiebehaftssachen rechtswidrig.“

Die Kritik der VeranstalterInnen geht allerdings viel weiter: Sie fordern eine generelle Abschaffung von Abschiebehaft und Abschiebung, globale Bewegungsfreiheit und ein dauerhaftes Bleiberecht für alle. Die Betroffenen der derzeitigen Abschiebepolitik kommen ebenfalls zu Wort. Ein junger Mann, der aus dem Kosovo flüchten musste, erzählt wie ihm Albaner auf der Flucht mit dem Messer zwei Narben ins Gesicht schnitten, und seine Eltern mit Schlagstöcken misshandelten. Die Furcht vor dem alltäglichen Rassismus im Kosovo sei so groß, dass er lieber in Deutschland sterben würde, als dahin zurückkehren zu müssen.

Diese Ansicht teilt auch Hadschi K., der Vater des 21-jährigen Jetmir K. Er beschuldigt den zuständigen Beamten in der Ausländerbehörde, im Falle des Todes seines Sohnes mitverantwortlich zu sein. Der Familie geht es derzeit schlecht, Jetmirs Mutter ist im Krankenhaus, die letzten Tagen haben an den Nerven gezerrt. Hadschi K. betont, dass auch er und seine Familie einen Suizid in Erwägung ziehen würden, da sie ohne ihren Sohn nicht weiterleben könnten. Aussagen wie diese erschüttern die anwesenden TeilnehmerInnen, wahrscheinlich auch weil sie Erinnerungen an den Suizid des Slawik C. aus Hamburg wachrufen, dessen Abschiebehaft im Nachhinein für rechtswidrig erklärt wurde.

Nachdem die Kundgebung aufgelöst wurde, war zunächst eine Spontandemo im Gespräch. Auf Wunsch des Vaters zog die Kundgebung dann aber Richtung Neues Rathaus, um in die Ausländerbehörde zu gelangen und eine Stellungnahme zu fordern. Die Polizei sperrte den Eingang ab und es kam zunächst zu einer Sitzblockade. Die AnmelderInnen der Kundgebung verhandelten daraufhin mit der Polizei, inwiefern ein Treffen mit der Ausländerbehörde möglich sei. Der Polizeibeamte ließ seitens der Ausländerbehörde mitteilen, wenn die Kundgebung den Eingang räume, dürfe sich eine Delegation mit den Angestellten in der Ausländerbehörde treffen. Die Kundgebung forderte daraufhin, dass die Angestellten zu ihnen kommen sollten.

Darauf ließ sich die Ausländerbehörde allerdings nicht ein. Nach einigem Hin und Her machte die Kundgebung den Eingang frei. Es war der Wunsch von Hadschi K. auf das Angebot der Ausländerbehörde einzugehen. Jetmirs Vater ging mit einer kleinen Gruppe, darunter einem Vertreter des AK Asyl ins Rathaus. Dort diskutierten sie im Eingangsbereich mit dem Pförtner und kamen nach kurzer Zeit wieder raus. Es hieß, in der Ausländerbehörde sei schon seit einer Stunde Dienstschluss.

Wenn aber in der Ausländerbehörde niemand mehr war, wer hat dann von der Kundgebung gefordert, den Eingang freizumachen und eine Delegation nach oben zu schicken? Bei den Demonstrierenden blieb der Eindruck zurück, von der Polizei und den Angestellen im Rathaus getäuscht worden zu sein. Die Kundgebung löste sich daraufhin auf.

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6 Kommentare auf "Protest und Sitzblockade gegen Abschiebung von Jetmir K."

  1. ulm(A) sagt:

    Ein Schlag ins Gesicht!

    Ein Schlag ins Gesicht für die Göttinger Linke. Die drohende Abschiebung von Jetmir K. kann in meinen Augen nur als dieser Gewertet werden.
    Neben dem persönlichen Schicksal der betroffenen Menschen, ihrem Leid und den ungeheuerlichen Vorgängen innerhalb der Göttinger und niedersächsischen Behörden, die auch eng mit den beiden Personen Schelper und Schünemann verbunden sind, zeigt die „Festnahme“ im Göttinger Rathaus doch, wie weit weg linke/linksradikale Positionen (noch) von der alltäglichen Realität der Menschen entfernt sind. Und das obwohl es in Göttingen seit langem kontinuierlich Arbeitende antirassistische Zusammenhänge gibt, und darüber hinaus in letzter Zeit gleich mehrere „Spektren übergreifende“ Veranstaltungen mit klaren antirassistischen Inhalten gegeben hat.
    Bleibt nur zu hoffen, dass heute die Abschiebung von Jetmir mit Hilfe seines Anwaltes doch noch verhindert werden kann.

  2. Frechdax sagt:

    Hey irgendwie irritiert mich, dass die Sicherheitsmenschen, die nur ihren Job tun, nicht unkenntlich gemacht werden, die Demonstranten schon. Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Ich hoffe das die Mädels und Jungs ihr Einverständnis gegeben haben hier gezeigt zu werden?

  3. Die Mitte erobern! sagt:

    BFE-Bullen, Abschiebe-SachbearbeiterInnen, Innenminister und andere (Schreibtisch-)TäterInnen machen ja nur ihren Job? Wer auf Befehl handelt bleibt unschuldig? An deren Händen klebt Blut!!

  4. Frechdax sagt:

    😀 Da scheint ja jemand sehr differenziert die Dinge zu betrachten 😀 Aber Persönlichkeitsrechte haben also nur Menschen die nach deiner Meinung richtige Entscheidungen treffen. ?! Interessant.

  5. aber auf sagt:

    Das Freiheitsverständnis von „Frechdax“ scheint mir gut in die Piratenpartei zu passen. Er wird dort vermutlich gut mit dem rechten Oberpiraten und leitenden Mitarbeiter der Göttinger Ausländerbehörde Herrn Andreas Schelper zusammenarbeiten können. Der setzt sich ja auch für die zumindest digitalen „Freiheitsrechte“ einiger Bürger ein,
    ( http://www.piratenpartei-goettingen.de/category/kreistag/andreas-schelper ) während er gleichzeitig die Abschiebung von anderen mit betreibt. Siehe die (Selbst-)Darstellung bei
    http://www.wkdis.de/partner/autoren?imagecard=453057093
    Zitat: „Schwerpunkte der Tätigkeit sind die Aufenthaltsbeendigung“…
    Ich bin gespannt auf das Ergebnis der von der Göttinger Stadtratsfraktion der „Linken“ beantragten Akteneinsicht im Falle der Abschiebung von Jetmir K.
    http://www.stadtradio-goettingen.de/redaktion/nachrichten/goelinke_will_akteneinsicht_zu_abschiebung/
    Das könnte Aufschluss darüber geben, in welch unterschiedlichem Ausmaß Menschen Persönlichkeitsrechte zugebilligt werden.Und wer darüber hinter den Kulissen die Fäden zieht und für die Verwaltungsgerichte Bilder von Menschen konstruiert.
    Bei Monsters geht es in meinen Augen um „Journalismus von unten“, der den herrschenden Medienkonstrukten entgegentritt. Zum Beispiel jenen über die Beamten , die ja immer „nur ihre Pflicht“ tun.
    Da haben bisher zu wenige begriffen und gelernt, dass das mit dem „Gehorsam“ eine schwierige Angelegenheit ist. Und das ist leider ein Problem, das früh in der Entwicklung eines Menschen grundgelegt wird und später schwer zu beeinflussen ist.
    Dennoch bleibt die Frage persönlicher Verantwortlichkeit immer bestehen, auch wenn Monsters mit zweierlei Maß misst. Es muss verantwortet werden. Und das kann es in diesem Falle nach meinem Dafürhalten auch.

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