Eilabschiebung verhindert Rechtsbehelf
Die Effizienz der Abschiebemaschine
von Harvey am 13. April 2012 veröffentlicht in Polizei & Justiz, TitelstoryMittwoch, 28. März: für den 27jährigen Sohrab A. beginnt ein Arbeitstag. Doch kaum bei der Arbeit, kommt alles anders als erwartet. Gegen acht Uhr wird er von der Polizei abgeholt. Sie vollstreckt die Abschiebung von Sohrab A. nach Armenien. Ein Wettrennen gegen eine komplexe Abschiebebürokratie beginnt, das Sohrab A. verliert.
Eigentlich klingt es fast unglaublich: Das Göttinger Verwaltungsgericht hatte noch am frühen Nachmittag dem Eilantrag von Sohrab A.s Anwältin Silke Schäfer stattgegeben und dem Landkreis Göttingen auferlegt, die Abschiebung auszusetzen, damit in Ruhe die Voraussetzungen geprüft werden können. Einen Monat lang – also bis Ende April – solle nicht abgeschoben werden. In dieser Zeit hätte Sohrab A. versuchen müssen, doch noch Bleiberecht zu bekommen. Die Chancen dafür waren nicht schlecht: Seine Anwältin erwähnt nicht nur, dass Sohrab A. seit 13 Jahren in Deutschland lebt – fast sein halbes Leben, seit er mit seinen Eltern im Alter von 14 Jahren geflohen war. Er habe außerdem seine Verlobte bereits kirchlich geheiratet, habe bei einer Telekommunikationsfirma gearbeitet und daneben studiert. Seine Familie lebt in Deutschland.
Dennoch kam die Entscheidung zu spät. Es wird deutlich, warum oft von einer „Abschiebemaschine“ gesprochen wird. Zwar bleibt die Abschiebung grundsätzlich in der Zuständigkeit der Ausländerbehörden. Allerdings wird die eigentliche Zwangsmaßnahme von Landes- und Bundespolizei durchgeführt. Im Wege von Abkommen sind Fluggesellschaften und Drittländer involviert. Der Landkreis war schon nicht mehr wirklich involviert, als der Eilantrag um vierzehn Uhr beim Verwaltungsgericht einging. Nach dem penibel geregelten Procedere für Abschiebungen muss Sohrab A. zu diesem Zeitpunkt bereits seit mindestens einer Stunde in der „Rückführungsstelle“ der Bundespolizei am Frankfurter Flughafen gewesen sein. Als die Entscheidung gegen seine Abschiebung um zehn vor drei fiel, saß er wohl schon eine Weile im Flugzeug – regelmäßig müssen die Betroffenen noch vor anderen Passagieren einsteigen. Pünktlich um drei Uhr flog die Linienmaschine nach Moskau ab.
Dass Sohrab A. die Maschine nicht mehr verlassen konnte, wollen Gericht und Landkreis nicht verantworten. Das Gericht, so Richter Olaf Lenz, habe dem Eilantrag entsprechend entschieden. In solchen Fällen entscheiden Gerichte nach Aktenlage – Eilbeschlüsse sollen nicht der Entscheidung vorgreifen, aber verhindern, dass unumkehrbar Fakten geschaffen werden. Vorliegend wurde von Sohrab A.s Anwältin ein Beschluss gegen den Landkreis beantragt. Der erging auch und wurde auch vom Gericht dem Landkreis zugeleitet, wie das Göttinger Tageblatt berichtet. In einer Presseerklärung verweist der Landkreis allerdings darauf, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät für einen Abbruch gewesen sei. In einer Stellungnahme erklärt der Flüchtlingsrat Niedersachsen, dass weiterhin versucht worden sei, die Bundespolizei am Flughafen zu erreichen, die zu diesem Zeitpunkt möglicherweise noch zuständig war. Dort habe erst eine schriftliche Ausfertigung des Beschlusses eingereicht werden müssen, nur um die Auskunft zu erhalten, dass es zu spät sei, da die „Türen bereits geschlossen“ gewesen seien.
So wird Sohrab A. wohl nicht mehr selbst erfahren haben, dass seine Abschiebung eigentlich hätte abgebrochen werden sollen. Tatsächlich ist auch ab der Startphase des Flugzeugs nicht mehr die Bundespolizei, sondern der Pilot der Maschine in der Verantwortung. So ist möglich, dass auch die Bundespolizei den Abflug nicht mehr verhindern durfte. Da sich Sohrab A. „kooperativ“ verhalten hat, sich also nicht körperlich gegen seine Abschiebung gewehrt oder anderweitig die Lage am Flughafen eskaliert hat, wird er möglicherweise sogar ohne Begleitung durch die Bundespolizei geflogen sein. Paradox: Wenn er Widerstand geleistet hätte, wäre die Abschiebung vermutlich verschoben worden – und damit wäre wohl auch der Gerichtsbeschluss wirksam geworden. Damit wäre dann zwar die Abschiebung verhindert gewesen – aber doch nichts gewonnen: Der Widerstand hätte ein noch ausstehendes Gerichtsverfahren um einen Aufenthaltstitel sicher nicht erleichtert.
Um den Aufenthaltstitel werden sich die weiterlaufenden Mühlen des Rechtsstaates kümmern. Dieser Titel war Sohrab A. schon 2010 gerichtlich verwehrt worden. Ein Berufungsverfahren wurde damals nicht zugelassen. Seitdem drohte Sahrab A. jeden Tag die Vollstreckung der Abschiebung. Im nun angelaufenen Eilverfahren wird es dann um neue Gründe gehen, weshalb Sahrab A. rechtlich nicht hätte abgeschoben werden dürfen. Zwar habe das Verwaltungsgericht angeregt, das Eilverfahren für erledigt zu erklären, schildert Sahrab A.s Anwältin Schäfer. Sie werde es aber weiterverfolgen. Im Anschluss seien dann weitere Schritte bis hin zur Verfassungsbeschwerde möglich. Sie habe beim Landkreis auch bereits beantragt, Sahrab A. die Wiedereinreise zu erlauben. Denn die ist abgeschobenen Menschen zunächst lebenslang untersagt. Der Landkreis kann aber dieses Einreiseverbot befristen.
Mittlerweile sind Abschiebungen detailliert rechtlich geregelt. Sie stellen tragisches Massengeschäft spezialisierter Abteilungen und Behörden dar. Im Fall Sohrab A. zeigt sich, dass diese Maschine so effizient läuft, dass zwischen Verhaftung und Abflug keine 7 Stunden mehr liegen. Und es zeigt sich auch, dass damit ein effektiver Rechtsschutz immer unmöglicher wird. Binnen dieser 7 Stunden werden zudem mehrere Behörden tätig, deren Arbeitsschritte ineinander greifen. Das macht zusätzlich kompliziert, die letzten eiligen rechtlichen Schritte auch gegen die richtige Behörde zu richten. Völlig unmöglich wird durch „Massengeschäft“, zahlreiche Beteiligte und die Eile des Verfahrens aber ein adäquater Umgang mit den betroffenen Menschen. Natürlich hätte sich Sohrab A.s Maschine wohl auf dem Rollfeld stoppen lassen, hätte er das Flugzeug verlassen können. Aber rechtlich vorgesehen war das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.
Der Flug TSO308 ist am 28.3. um 20:15 Uhr in Moskau gelandet, zwölf Stunden nach Sohrab A.s Verhaftung. Seine Anwältin hat noch keine Nachricht, wie seine erzwungene Ausreise von dort aus weiterging.
###Neue Fakten im Fall der vollzogenen Abschiebung von Sohrab A.### via Fluechtlingsrat: „Offenbar verstieß es der Landkreis Göttingen bei Durchführung der Abschiebung des Armeniers Sohrab A. nicht nur gegen die guten Sitten, sondern auch gegen einen Erlass des Landes vom 30. November 2011, der die Ausländerbehörden dazu verpflichtet, Flüchtlinge vor der Einleitung von Abschiebungsmaßnahmen über die Möglichkeit eines Härtefallantrags zu informieren.“ Der Erlass: http://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2007/02/Erlass-MI-ABH-sollen%C3%BCber-HFK-informieren-30-11-2011.pdf