Ist unangemeldetes Demonstrieren Landfriedensbruch?
von Initiative fur gesellschaftliches Engagement am 20. März 2010 veröffentlicht in politische JustizIn den frühen Morgenstunden des 16. April 2009 wird in Erfurt ein selbstverwaltetes Haus durch ein martialisches Polizeiaufgebot – Räumpanzer, Hubschrauber, Maschinenpistolen – geräumt. Die Räumung bedeutet das Ende für das linke Kulturzentrum auf dem ehemaligen „Topf und Söhne“-Gelände. Die BesetzerInnen hatten sich für die Erhaltung des historischen Komplexes eingesetzt, hatten mit Ausstellungen, Veranstaltungen und Führungen immer wieder an dessen Geschichte erinnert. Die Firma Topf und Söhne fabrizierte während des Zweiten Weltkrieges Krematorien für die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz und Buchenwald.
Am Nachmittag des 16. April kommt es in vielen Städten zu spontanen Solidaritätsdemonstrationen – auch in der Göttinger Innenstadt. Die DemonstrantInnen wollen lautstark ihren Protest gegen die Geschehnisse des Morgens auf die Straße tragen. Kurz nachdem sich die Demonstration, bestehend aus circa 60 TeilnehmerInnen, in Bewegung gesetzt hat, wird sie von Polizeikräften gestoppt. Dass die Polizei hier bewusst provoziert, ist sogar für das Verwaltungsgericht Göttingen nicht zu übersehen, das in einem Beschluss vom 26.11.2009 erklärt: „Nach den derzeitigen Erkenntnissen verlief die Versammlung bis zum Einschließen der Teilnehmer durch die Polizei vollständig friedlich.“ Die Einsatzkräfte schlagen mit Fäusten und Schlagstöcken auf die TeilnehmerInnen ein und setzen die Gruppe in einem Kessel fest, eine Maßnahme, die sich – so das Gericht – „voraussichtlich als rechtswidrig erweisen“ wird. Als die DemonstrantInnen anschließend der Forderung der Polizeiführung nicht nachkommen eineN AnmelderIn zu benennen und stattdessen versuchen, ihre Demo weiter fortzusetzen, eskaliert die Situation. Die Polizeikräfte prügeln erneut auf die DemonstrantInnen ein – auch Pfefferspray kommt zur Anwendung – und verhindern so eine Fortsetzung der Demonstration. Durch diese Gewaltanwendung werden TeilnehmerInnen der Versammlung zum Teil schwer verletzt.
Unter dem kollektiven Vorwurf des Landfriedensbruchs werden die DemoteilnehmerInnen daraufhin bis zu dreieinhalb Stunden lang ohne Getränke und Zugang zu Toiletten im Kessel gefangen gehalten. Sie werden einzeln aus dem Kessel geführt und müssen eine Leibesvisitation und Personalienfeststellung über sich ergehen lassen. Hierbei werden die Kleidung und mitgeführte Gegenstände aller TeilnehmerInnen protokolliert. Außerdem werden zwei Stoff-Transparente beschlagnahmt: Diese seien „als Waffen“ gegen die PolizeibeamtInnen eingesetzt worden. Ein herbeigerufener Anwalt kann zumindest ein weiteres Abfilmen und die Ingewahrsamnahme aller TeilnehmerInnen verhindern.
Bisher sind vier Fälle bekannt, in denen die Polizei gegen einzelne TeilnehmerInnen Ermittlungsverfahren eingeleitet hat. Gemein mit anderen Fällen ist diesem, dass es sich bei allen Betroffenen um Personen handelt, die seit langem in linken und antifaschistischen Initiativen aktiv sind. Dass gerade diese Personen von der Polizei herausgegriffen worden sind, dürfte kein Zufall sein…