Einsatzleitung interessiert sich für Strafanzeigen, nicht für das Versammlungsrecht
von Initiative fur gesellschaftliches Engagement am 16. März 2010 veröffentlicht in politische JustizAm 13. und 14.Juni 2008 finden in Göttingen die Stiftungsfeste mehrerer Burschenschaften und Studentenverbindungen statt. Gegen das Fest der neonazistischen Burschenschaft Hannovera gibt es bereits am 13. Juni eine größere Demonstration unter dem Motto „Faschismus trägt viele Farben“. Am nächsten Morgen bewegt sich ein „Fahnenumzug“ inklusive Uniformen und Degen im Rahmen des „Gesamtbaltischen Völkerkommers“ des Corps Coronia von der Paulinerkirche in Richtung Stadthalle.
Ca. 30 AntifaschistInnen, die davon kurzfristig erfahren haben, versammeln sich in der Innenstadt, um das reaktionäre Treiben nicht unkommentiert zu lassen. Die Polizei zeigt sich allerdings entschlossen, den Fahnenumzug durchzusetzen und spontane Gegenkundgebungen zu verhindern. Vor der Stadthalle räumt die Polizei den Eingangsbereich und versucht dann ohne erkennbaren Grund, ca. ein Drittel der GegendemonstrantInnen einzukesseln. Dabei werden vier Personen – darunter der Anmelder der Demo vom Vortag – von den Einsatzkräften festgehalten und teilweise zu Boden gerissen. Auf das Versammlungsrecht nimmt der Einsatzleiter bei dieser Aktion, wie er später eingestehen muss, keinerlei Rücksicht – es scheint ihm auch gänzlich unbekannt.
Für die Festgehaltenen folgt eine zweistündige Ingewahrsamnahme. Von irgendwelchen Straftaten ist keine Rede, der Gewahrsam soll lediglich Störungen der Corps-Veranstaltung verhindern. Erst bei der Entlassung wird allen Vier plötzlich mitgeteilt, dass gegen sie pauschal Verfahren wegen Nötigung, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet worden seien.
Eine Anzeige der Einsatzleitung gibt der Staatsschutzabteilung die Möglichkeit, gegen die Antifaschisten zu ermitteln. Der Einsatzleiter bemüht sich eifrig, an der Kriminalisierung der Aktivisten mitzuwirken. Unter anderem behauptet er vehement, die Beschuldigten vor der Einkesselung aufgefordert zu haben, den Eingangsbereich der Stadthalle zu verlassen. Trotz detaillierter Beschreibungen der Situation findet sich allerdings in keinem der Berichte der an der Gewahrsamnahme beteiligten BeamtInnen ein Hinweis auf eine solche Aufforderung. Die Staatsanwaltschaft muss das Verfahren schließlich noch vor einer Prozesseröffnung mangels Tatverdacht einstellen. Der Vorwurf der Nötigung ist in dieser Situation schlichtweg Unsinn, ein Hausfriedensbruch kann am fraglichen Ort gar nicht begangen werden (vgl. Gerade noch vereitelt: So plump kann Kriminalisierung sein) und der vermeintliche Widerstand gegen die ohnehin rechtswidrige Polizeimaßnahme deckt sich nicht mit den Berichten einiger PolizistInnen, die es sich teilweise nicht nehmen lassen, ihre Durchsetzungsfähigkeit und ihr deutlich größeres Körpergewicht herauszustellen. „Ich griff beherzt einem der jungen Autonomen von hinten an die Kapuze und brachte ihn sofort zu Fall“, gibt einer von ihnen zu Protokoll und fährt fort: „Ich drückte ihn zu Boden und gab ihm sinngemäß zu verstehen, dass er keinen Unsinn machen solle. Die Person, die ich zu fassen bekam, machte keinerlei Anstalten sich zu wehren. Es wäre auch kaum möglich gewesen, da ich gut und gerne 30 Kilogramm mehr wog.“
Trotz der Einstellung bleibt das Verfahren zumindest für einen der Beschuldigten nicht ohne Folgen. Abgesehen von mehreren hundert Euro Anwaltskosten wird der Vorfall vom LKA in mehrere Datenbanken eingespeist, u.a. auch in eine Staatsschutz-Datei eines bundesweiten Informationssystems, die nach ihrer Bestimmung der „Verhütung und Aufklärung von politisch motivierten Straftaten, die länderübergreifende, internationale oder erhebliche Bedeutung haben“ dienen soll. Obwohl die Einstellung bereits vorher erfolgt, taucht dieser Datenbankeintrag in der Akte eines anderen Verfahrens wieder auf und wird vom polizeilichen Staatsschutz gezielt genutzt, um auf eine Verurteilung des betroffenen Aktivisten hinzuwirken.