Gerade noch vereitelt – So plump kann Kriminalisierung sein
von Initiative fur gesellschaftliches Engagement am 15. März 2010 veröffentlicht in politische JustizVon Protesten begleitet, findet am 15.Februar 2008 in der Göttinger Lokhalle eine große Militärmusik-Show statt. Die AntimilitaristInnen kritisieren mit ihren kreativen Aktionen den Versuch, die von Militärapparaten ausgehende Gewalt zu verharmlosen und auch auf diesem Weg für kriegerisches Handeln Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewinnen. Ein Aktivist ist vor der Lokhalle, inmitten des wartenden Konzertpublikums, mit dem Sicherheitsdienst in eine lautstarke Diskussion verwickelt. Die hinzugezogene Polizei schleift ihn vor den Augen des verstörten Publikums schließlich zweimal weg. Beim zweiten Mal hatte sie ihn selbst wieder vor den Eingang geführt, er sollte einen Kreidespruch abwischen.
Die Polizei kennt den Aktivisten. Sie leitet ein Ermittlungsverfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ein. Der Vorwurf: Der Antimilitarist soll beim Wegschleifen um sich getreten haben. Hinzu kommt noch eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs durch die Verantwortliche des Lokhallen-Managements. Wie sie später einräumt, kam sie damit einer Empfehlung der Polizei nach! Der Aktivist erhält einen Strafbefehl über 20 Tagessätze, gegen den er Einspruch erhebt. Zu diesem Zeitpunkt hat die Staatsanwaltschaft bereits festgestellt, dass der Vorwurf des Widerstands aufgrund der polizeilichen Ermittlungslage nicht haltbar ist – es bleibt der vermeintliche Hausfriedensbruch: Der Angeklagte soll sich aus dem Eingangsbereich nicht entfernt haben, obwohl er dazu von der Verantwortlichen aufgefordert worden war. Zahlreiche ZeugInnen werden an zwei Verhandlungstagen vernommen. Nach den Vernehmungen zeigt sich, dass die verbindlichen Aufforderungen, den Eingangsbereich zu verlassen, zu keinem Zeitpunkt an den Angeklagten herangetragen worden sind.
Viel augenfälliger und von vornherein klar ist jedoch, dass es sich bei dem Bereich vor der Lokhalle überhaupt nicht um befriedetes Gelände handelt. Ein Hausfriedensbruch kann hier demnach gar nicht stattgefunden haben. Nach einem ausführlichen Plädoyer der Verteidigung passiert das Unfassbare. Der Richter verurteilt den Angeklagten dennoch zu 15 Tagessätzen, ohne mit einem Wort auf die differenzierte Argumentation der Verteidigung einzugehen. Lediglich beim Hinausgehen murmelt er: „Soll sich das Landgericht doch damit beschäftigen…“ Genau das passiert, als sich nach einer Berufung am 12. Januar 2009 das Landgericht mit dem Fall befasst. Die Verhandlung ist sehr kurz und endet mit einem Freispruch. Das freisprechende Urteil hat der Angeklagte nach fast einem Jahr allerdings immer noch nicht in Schriftform – und muss damit auf die Rückerstattung der ihm durch das Gerichtsverfahren entstandenen Kosten weiter warten. Den Stress und seinen zeitlichen Aufwand wird er in keinem Fall erstattet bekommen.