Prozeßauftakt gegen Göttinger Antirassisten in Hamburg
von am 22. Oktober 2009 veröffentlicht in Politik

Ein Polizist fällt um und liegt am Boden. Die Demonstrant*Innen auf der Abschlussdemonstration des letztjährigen Antira-Camps am Hamburger Flughafen, die zuvor noch um ihn herumstanden, entfernen sich hektisch. Sie wissen, dass es nicht gut ist, neben einem umgefallenen Polizisten stehen zu bleiben. Denn Polizist*Innen sind standfest, fallen nicht einfach um, stolpern nicht und bleiben nie am Bordstein hängen. Ergo, fallen sie um, dann wurden sie von Umstehenden angegangen und dass muss geahndet werden.

Am letzten Dienstag wurde deshalb der Prozess gegen fünf Antirassist*Innen in Hamburg eröffnet, darunter auch mehrere aus Göttingen. Vorgeworfen wird ihnen gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung. Sie sollen den Polizisten nicht nur niedergerungen sondern auch verprügelt haben. Nach dem ersten Prozesstag kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es der Polizei damals vor allem um die Herstellung von negativen Medienbildern ging.

Das Verfahren findet im Hamburger Strafjustizgebäude am Sievekingplatz statt. Der Platz ist Standort von Oberlandesgericht, Strafgericht und Zivilgericht, massige Gebäude mit griechischen Säulen, Kuppeln, historistischen Eingangsportalen und ähnlichen auf Autorität und Tradition verweisenden Ornamenten. Ganz in diesem Sinne verkündet die Giebelinschrift des Hauptgebäudes: „Jus est ars boni et aequi“ („Das Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten“). Der Platz ist die Institutionalisierung des ideologischen Überbaus des Jahrhundertwendebürgertums, alles ist massig und erdrückend.

Der Eingang zum Strafjustizgebäude, ein massiger Sandsteinbau mit nachgemachten Hansezeitgiebeln kombiniert mit antiken Säulen, führt über eine breite Treppe. Am Eingang setzt die Geschlechtertrennung ein. Beamt*Innen hinter Panzerglas, Durchleuchtung von Taschen, Handys und MP3-Player sind abzugeben. Man scheint sich nicht mehr nur auf die einschüchternde Wirkung der Bausubstanz zu verlassen. Heute ist der Souverän ängstlich geworden, die Eingänge abgeschottet, die Hallen dahinter leer und öde. Zur Auflockerung hat man moderne Kunst gehängt, die in diesem Ambiente mehr als fehl am Platz ist. In den Hintern einer auf einem Bild abgebildeten tanzenden Frau in schwarzem Kleid hat jemand ein Loch gebohrt, Ausdruck der hier ihren Ausdruck findenden infantil-aggressiven Hilflosigkeit des modernen Patriarchats.
Der Prozess wird im Plenarsaal des Landgerichts geführt, einem großen Raum in gelb und weiß mit Eichenlaubstuck an der Decke. Der Saal ist so groß, dass Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten nur über Mikrofon möglich ist.

Pünktlich 9.15 Uhr will der Richter das Verfahren eröffnen. Der Staatsanwalt solle die Anklageschrift verlesen, verkündet er, doch es gibt berechtigte Einwände seitens der Anwälte. In den Anträgen der Verteidigung offenbaren sich Schlamperei und Verfahrensfehler bereits im Vorfeld des Prozesses. Anklageschriften wurden nicht zugestellt, Einwände gegen das Verfahren wurden ohne erforderliche Begründung abgelehnt, die Ladung zum Prozesstermin wurde teilweise nicht fristgerecht zugesandt, da sie an eine falsche Adresse geschickt wurde, etc. Der Richter lehnt alle Einwände ab. Gleichlautende Begründung jedesmal: die gesetzlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weitere Begründungen gibt es eigentlich nicht. Aber dadurch zieht sich das ganze hin. Mehrmals muss der Richter sich zur Beratung mit sich zurückziehen. Er telefoniert mit Postangestellten und findet heraus, wer für den Poststützpunkt Göttingen 1 zuständig ist. Ob die Lieferung angekommen ist, kann er eigentlich nicht klären, beschließt aber, dass sie wohl angekommen sein muss. Dann tippt er seinen Entschluss ab (das dauert bei ihm immer ein bisschen länger, sagt er). Währenddessen kann er wenigstens Kaffee trinken, alle anderen bleiben auf dem Trockenen sitzen. Die Cafeteria hat zu, doch bis man sie gefunden hat, geistert man über verwaiste Gänge, einige der Treppen enden vor vermauerten Wänden.

Ab der zweiten Pause sitzen bereits die Zeugen der Anklage vor der Tür. Der Hauptbelastungszeuge, der Leiter der Hamburger Bereitschaftspolizei und Leiter des fraglichen Einsatzes, Hartmut Dudde, ist in Begleitung einer Eskorte erschienen. Er ist Ende vierzig, hat schütteres Haar (schwarz, Tonsur), trägt neben der Brille eine Uniform mit vier Sternen und wirkt schlecht rasiert. Während er vor dem Gerichtssaal sitzt und die Bildzeitung studiert – Dudde informiert sich – schirmen ihn seine Unterschergen ab. Das ganze sieht nach Betriebsausflug aus und wird wahrscheinlich auch noch bezahlt. In der Mittagspause hält der Richter ein Pläuschchen mit der Dudde-Eskorte. Das macht keinen guten Eindruck, ist aber wohl nicht verboten. Wer würde dem Richter damit auch schon Befangenheit unterstellen wollen.

Die Anklageschrift wird dann erst gegen drei verlesen. Um 15.07 Uhr dann Auftritt von Hartmut Dudde. Obwohl Hauptbelastungszeuge, weiß Dudde wenig konkretes zu berichten, dafür mit hamburgischem spitzen „S“. Als Leiter des Einsatzes am Flughafen habe er sich mit seinem Fahrzeug an die Spitze des Demonstrationszuges bringen wollen und musste zu diesem Zweck sein Fahrzeug durch die Versammlung hindurchmanövrieren. Das sei gar nicht so einfach gewesen, so Dudde, vereinzelte „Spaßvögel“ hätten sich immer wieder vor das Fahrzeug gestellt (was einen aber nicht verwundern sollte, wenn man sein Fahrzeug in eine Menschenansammlung lenkt).

Dudde und seine Kolleg*Innen hätten dann das Fahrzeug verlassen, um mit den Anmeldern der Demonstration zu sprechen und allgemein ansprechbar zu sein. Und das auch noch völlig ungeschützt, nur in „Grünzeug“. Während er mit drei Kollegen das Einsatzfahrzeug durch die Schiebetür verlassen habe, habe der Kollege Günstig* dafür die Hecktür benutzt. Dudde selber habe dann rege Bewegung am Heck wahrgenommen, jedoch erst das Fahrzeug umrunden müssen, um genaueres zu sehen. Das ist ihm dann aber auch nicht gelungen. Zwar sagte er aus, wahrgenommen zu haben, dass auf den nun bereits auf dem Boden liegenden Kollegen Günstig* „eingewirkt“ worden sei, er könne aber keine Handlung einer konkreten Person zuordnen. Das sei ja auch alles „ratzfatz“ gegangen, alles in allem eine bewegliche Situation – „so wie beim Fußball“ – „da war Musik drin“. Seine Aussagen weichen dabei stark von den im Anschluss an die Polizeiaktion gemachten ab. Schläge will er nun nicht mehr gesehen haben (ist ja auch schwierig, einen am Boden liegenden Menschen zu schlagen, ohne dafür in die Hocke zu gehen). Auch als der Richter versucht, ihm die Situation in der ihm verständlichen Erlebniswelt näher zu bringen („das erlebt man ja auch manchmal beim Schützenfest“), weiss er nichts genaues zu berichten. Er muss erst mal ausrechnen, wie viele Leute „da so um einen Körper rumpassen“, vielleicht so zwölf, insgesamt habe er etwa 50 Leute gesehen. Aber immerhin, eine Person war dunkel gekleidet. Und die Leute, die dann später in der ersten Reihe standen, waren für ihn die Täter. Aber auch wenn die jetzt nichts gemacht hätten, dann hätten die doch immer noch die Täter geschützt und damit ja eigentlich auch mitgemacht. „Das ist dann aber wohl ihre Interpretation“, weist ihn daraufhin der Richter zurecht.

Überhaupt zeigt sich Dudde sehr uninformiert. Obwohl bereits zwei Wochen vorher zum gleichen Ereignis verhandelt wurde (damals musste Dudde zugeben, sich geirrt und die falsche Person festnehmen lassen zu haben), kann sich Dudde nicht an die Namen der sonst noch festgenommenen Personen erinnern. Er weiß auch nicht mehr, wie viele Kamerateams er genau eingesetzt habe, hat sich aber immerhin im Nachhinein über die Demo informiert (Spiegel TV).

Er wüsste aber auch nicht zu sagen, ob diejenigen, die dann festgenommen worden sind, überhaupt diejenigen wären, die er seinen Kollegen als vermeintliche Täter gezeigt hätte, und dass, obwohl er selbst noch bei der Festnahme anwesend war. Auch heute hätte er schon Probleme, diese wiederzuerkennen. Dabei kommt auch noch heraus, dass sich die Polizei bei ihren Ermittlungen nicht an die kriminologischen Standards für Wiedererkennungsmaßnahmen gehalten habe. Nachdem Dudde damals das Video gezeigt worden sei, habe man ihm einfach ein paar Fotos vorgelegt und ihn gefragt, ob er darauf Menschen wiedererkennen und als dem Geschehen zuordnen würde. Ihm wurden also keine an Statur und Erscheinung ähnliche Personen gegenübergestellt. Außerdem dürfte seine Wahrnehmung nach der Sichtung des Videomaterials stark beeinflusst gewesen sein. Den Polizeiermittler*Innen ging es also nicht um die Klärung des Vorfalls, sondern darum, irgendwelche Demonstrationsteilnehmer*Innen als Schuldige vorzuführen.

Dudde muss dann noch mal kurz vor die Tür, während ein Polizeivideo angeschaut wird, auf dem ein Teil der zu verhandelnden Situation zu sehen ist. Es setzt an dem Punkt ein, als der Polizist Günstig* in der Menge der Demonstrant*Innen hinfällt. Die Demonstrant*Innen ziehen sich vom gefallenen Polizisten zurück, fast panisch. Weitere Polizist*Innen tauchen von links auf, aus der Demonstration schiebt sich eine untergehakte Reihe noch vorne, schirmt den Lautsprecherwagen ab. Ein Polizist wirft sich über seinen Kollegen. Von links kommt dann ein weiterer Polizist, geht auf einen der Demonstranten in der untergehakten Reihe los, greift diesen am Kehlkopf und drückt ihn so in die Demonstration hinein. Nach zwei bis drei Sekunden lässt er wieder los, verständigt sich mit seinen Kollegen, holt weitere Polizeikräfte heran. Die Kamera zoomt nun heraus, um nicht eventuelle Übergriffe der Kollegen bei der Festnahme zu filmen.

Als Dudde wieder in den Verhandlungssaal gerufen wird und ihm das Video vorgespielt wird, gelingt es ihm immerhin, sich selber auf dem Video zu identifizieren. Er ist der Würger. Weiteres zum Geschehen vermag er nicht zu sagen. Der erste Prozesstag geht dann schließlich zu Ende. „Chaos-Randale am Flughafen“ titelte die Bildzeitung nach der Demonstration. Nach dem ersten Prozesstag verstärkt sich der Eindruck, dass es der Polizei vor allem auf diese Schlagzeile ankam, nicht zuletzt, weil sie damit ihr eigenes brutales Vorgehen gegen Demonstranten im Rahmen des Antira-Camps sowie unterlassene Hilfeleistung und Unterbindung von Hilfeleistung durch Polizeikräfte überspielen und ihre brutalen Einsätze legitimieren konnte. Dass Dudde solche Formen des Einsatzes billigt, hat er bereits mehrmals verlauten lassen. „Heute fangen wir mal an. Haut mal schön rein“, soll Dudde seine Untergebenen der taz zufolge beim Schanzenfest im Juli 2009 aufgefordert haben. Dementsprechend ist er in Hamburg kein Unbekannter und selbst die taz kommt zu der Einschätzung: „Polizeiführer wie […] Hartmut Dudde sind Überzeugungstäter. Sie wissen genau, was sie nicht dürfen – und sie tun es dennoch.“ Dudde wird man wohl auch am kommenden Dienstag wieder zusehen und -hören dürfen. Der Richter stimmt am Ende schon mal auf mehr als die bisher angesetzten vier Verhandlungstermine ein („Bringen sie ihre Kalender mit!“).

Die Angeklagten freuen sich dabei über jegliche Unterstützung. Der nächste Verhandlungstermin ist wie gesagt der nächste Dienstag, 9.15 Uhr Sievekingplatz 3. Die Anreise aus Göttingen ist mit dem Nahverkehr möglich und dank dem Semesterticket einfach und konstenfrei zugleich.

weitere Infos auf:
www.bg-geschichte.org; www.bb-goettingen.de und bei der taz.

* Name geändert

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5 Kommentare auf "Prozeßauftakt gegen Göttinger Antirassisten in Hamburg"

  1. semesterticket oder was sagt:

    wo lebst DU denn?

  2. Rakete sagt:

    Die taz berichtet über den weiteren Prozessverlauf unter dem Titel „Theater im Gerichtssaal“:

    http://www.taz.de/regional/nord/nord-aktuell/artikel/1/theater-im-gerichtssaal/

  3. Nächste Prozesstermine: Di., 24. November; Di., 8. Dezember; Di., 15. Dezember; Do., 17. Dezember jeweils um 8:00 Uhr im Plenarsaal (Raum 300), Sievekingplatz 3, Strafjustizgebäude, 20355 Hamburg

  4. irrgärtnerin sagt:

    gestern gab es vier freisprüche (auch alle göttinger wurden freigesprochen), aber ein verfahren wird noch fortgeführt. weitere informationen hier:
    http://www.bg-geschichte.org/231

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