Göttingen gentrifiziert?
von Rakete am 21. September 2009 veröffentlicht in Hintergrund, Politik, städtischesGentrification, das ist so etwas wie das Modethema in der linken Szene der Hauptstadt geworden. Einige derer, die das nicht gut finden, tun sich durch Aktionsformen wie Anzünden so genannter Nobelkarossen und Demolieren von Bio-Supermärkten hervor, weil sie der Hoffnung nachgehen, dadurch die Gentrification stoppen oder zumindest bremsen zu können. Auch in Hamburg-St.Pauli greift die Gentrification um sich, wie im Film Empire St. Pauli zu sehen ist. Und in Göttingen? Gibt es hier auch Gentrification? Werden auch hier Menschen mit niedrigem Einkommen durch Latte-Macciato-SchlürferInnen aus ihren Wohnungen vertrieben?
Gentrification ist der soziologische und stadtgeographische Begriff für eine Umstrukturierung (vulgo „Aufwertung“) eines Stadtteils. „Die gezielte Aufwertung des Wohnumfelds sowie Restaurierungs- und Umbautätigkeiten führen zu einer Veränderung der Bevölkerung“, heißt es nüchtern in der Definition von Wikipedia. Diese Veränderung konkretisiert sich im Allgemeinen in einer Vertreibung der ursprünglichen Bewohner, die sich die durch die Gentrification gestiegenen Mieten nicht mehr leisten können. „Ausgelöst durch den Zuzug von Personengruppen, die ein wesentlich höheres Einkommen haben als die ursprüngliche Bevölkerung oder die Personen mit wesentlich höherem Einkommen nach sich ziehen“, erklärt der Göttinger Stadtsoziologe Rainer Neef. Für lange Zeit ensteht so ein buntes Gemisch von Bevölkerungsgruppen. „Wenn Gentrifikation tatsächlich funktioniert, obsiegt dann die höhere Kaufkraft und der ganz andere Lebensstil von gehobenen Familien und Erwerbstätigen“, sagt Neef.
Dabei handele es sich meist um ein marktwirtschaftliches Phänomen und nicht um einen politisch gesteuerten Prozeß. „Den meisten Städten ist es recht, wenn es so abläuft“, sagt Neef. Schließlich sei die Entwicklung verbunden mit der Erneuerung eines Gebietes, das baulich in einem schlechten Zustand ist. Viele Städte würden diese Entwicklung begünstigen, steuern ließe sie sich aber nicht.
In Göttingen seien Gentrification-Prozesse nicht zu beobachten, sagt Neef. Dafür seien die Voraussetzungen gar nicht gegeben, schließlich müßten zwei Bevölkerungsgruppen vorhanden sein. „Die eine ist in Göttingen sehr stark vorhanden, Leute die kulturell sehr engagiert und trotzdem nicht einkommensstark sind. Die gelten in der Gentrifikationsforschung als so genannte Pioniere, die so ein Viertel erstmal lebendig und attraktiv machen.“ Es mangelt aber an der Gruppe der Besserverdienenden, denen eine Wohnung in direkter Nähe zu ihrem Arbeitsplatz in der Innenstadt wichtig ist. Eine Aufwertung von ganzen Stadteilen, bei denen die ursprünglichen BewohnerInnen durch Besserverdienende ausgetauscht werden, habe es in Göttingen nie gegeben. Erste Anzeichen einer Gentrification, wie es sie in der Südstadt oder dem unteren Ostviertel gegeben habe, seien nie über das Anfangsstadium des Prozesses hinaus gekommen – mangels einkommensstarker Nachfrager. „Das zeigt sich dann darin, dass da anstelle eines Edeka-Marktes heute ein Feinschmecker-Laden ist.“
Vertrieben wird trotzdem
Dass es in der Göttinger Innenstadt dennoch Vertreibung von einkommensschwachen Bevölkerungsschichten gegeben hat, betonen die BewohnerInnen eines Hausprojektes in der Gotmarstraße. Sie engagieren sich für günstiges und kollektives Wohnen in der City und wehren sich gegen eine Umstrukturierung zugunsten einer immer mehr auf Kommerz ausgerichteten Innenstadt.
Die Vertreibung, die hier in der Innenstadt seit dem Ende des 2. Weltkrieges stattgefunden hat, sei immens, erzählt Bewohnerin Maria. „In der Neustadt z.B. ist ein ganzes Viertel in den sechziger Jahren abgerissen worden. Gelebt haben dort vor allem ArbeiterInnen und MigrantInnen, die damals als „GastarbeiterInnen“ galten. Die wurden quasi umgesiedelt auf den Holtenser Berg.“ Die neu gebauten Häuser seien „ein Paradebeispiel für die Umsetzung der polizeilichen Konzepte von sozialer Kontrolle und ’sicherem Wohnen’“, sagt Maria.
Doch die Kritik richtet sich nicht nur an historische Stadtverwaltungen: „Diese Politik der Vertreibung und der Zerstörung – nicht nur der Häuser, auch der sozialen Zusammenhänge – die zieht sich durch die großen planerischen Entwürfe für die Neugestaltung der Innenstadt“, findet Maria. Auch ganz aktuell stoßen politisch gewollte Entwicklungen auf Widerspruch. „Da stecken wir in der Gotmar ja mitten in so einem Prozess drin: Wenn sich die Pläne am Stadtbad-Gelände realisieren, dann wird das auf kurz oder lang auch zu Veränderungen hier in der BewohnerInnen- und Laden-Landschaft führen“, vermutet Maria.
Gentrification ist das falsche Wort
Ob die kritisierten Entwicklungen in der Innenstadt mit dem Begriff der Gentrification zu fassen sind, bezweifeln die BewohnerInnen. „Das beschreibt ja einen sehr eng gefassten Prozess städtischer Segregation an dessen Beginn ja oft auch WGs oder subkulturelle Projekte Türöffner für eine „Aufwertung“ der Viertel sind“, sagt Hausbewohner Manuel. „Mir fällt auf Anhieb kein Straßenzug ein. Nimm mal den T-Keller, die Rote Straße oder auch unsere Häuser in der Gotmar – die sind ja nicht derart, dass sie die Gegend aufwerten.“ Vielmehr glaubt Manuel, dass die genannten Einrichtungen in Göttingen eher für eine Abwertung der Umgebung sorgen: „Während rundum Geschäfts- und Büroflächen ausgebaut werden, Häuser luxus-saniert werden, sind die ja eher ein Hemmnis.“
Auch Rainer Neef mag nicht von Gentrification sprechen. „Es ist einene ganze Menge abgerissen und neu gebaut worden. Das sickerte son bisschen rein in die Altstadt. Es gibt jetzt aber keine Ecke in der Altstadt, bei der man sagen könnte, die ist jetzt aber schick und kaufkräftig und insgesamt eine „bessere Leute“-Ecke geworden“, analysiert der Soziologe. Auch die jüngsten Bauvorhaben der Stadt werden seiner Einschätzung nach keine solchen Effekte nach sich ziehen: wenn überhaupt, könnten Teile der Südstadt oder Straßenzüge nördlich des Kreuzbergrings betroffen sein, prognostiziert er.