1. Mai

Bratwurst oder Böller?
von am 30. April 2010 veröffentlicht in Politik

Wenn am 1.Mai einerseits Einweggrills angeschmissen, Tapeziertische aufgebaut und Hüpfburgen aufgepustet werden und andererseits revolutionäre Mai-Demonstrationen durchgeführt und Neonazi-Aufmärsche radikal verhindert werden, stellt sich für uns die alljährliche Frage: Was tun am 1. Mai? Bratwurst oder Böller? Ein Gastbeitrag der Verdi Jugend Göttingen anläßlich des Arbeiter_innenkampftags.

Dass der Kampftag der internationalen Arbeiter_innenklasse eine besondere Bedeutung in unserem Selbstverständnis als Gewerkschafter_innen einnimmt, leitet sich nicht zuletzt aus seiner gewerkschaftlich geprägten Historie ab. Ein Blick in die Geschichtsbücher verrät, dass die Demonstration für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und gegen die Unzumutbarkeiten der kapitalistischen Produktionsweise stets mit erheblichen Risiken verbunden war. Seien es die Haymarket Riots 1886, der Blutmai 1929 oder die Besetzung der Gewerkschaftshäuser durch SA und SS 1933: Der Kampf für ein gutes Leben forderte stets Opfer und Mut zur Grenzüberschreitung. An dieser Erkenntnis wollen wir anschließen und leiten daraus unser Handlungsbewusstsein in der Gegenwart ab.

Natürlich hat sich im Vergleich zu früher auf den ersten Blick einiges geändert. Arbeiter_innen haben rechtlich abgesicherte Mitbestimmungsrechte durch Gewerkschaften und Betriebsräte, es gibt mal mehr, mal weniger tolle Tarifverträge, Kündigungsschutz, gesetzlich geschützte Urlaubsansprüche, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und eine 50-Stunden-Woche ist doch eher die Seltenheit. Es scheint beinahe so, als könne mensch sich mit Hilfe der Gewerkschaften in diesem System recht angenehm einrichten. Dementsprechend sind wir auch durchaus der Meinung, dass starke Gewerkschaften eine absolute Notwendigkeit innerhalb des Kapitalismus sind, da sich durch sie einige Übel zwar nicht unbedingt beseitigen, aber doch enorm abmildern lassen und da sie auf diese Weise eine erhebliche Verbesserung der Lebensumstände herbeiführen können. Den Regeln des Spiels gehorchend versuchen wir also zunächst, die herrschenden Umstände in unserem Sinne zu gestalten. Wir könnten an dieser Stelle stehen bleiben und den 1. Mai zur Selbstbeweihräucherung nutzen und bessere Tarifabschlüsse, Mindestlöhne und dergleichen mehr fordern. Aber auch wenn diese Forderungen ihre absolute Berechtigung haben, wollen wir den Blick über den Tellerrand nicht aus den Augen verlieren.

Denn am Ende unseres Kampfes soll ein gutes und menschenwürdiges Leben stehen – und zwar für alle Menschen dieser Erde. Die kapitalistische Verwertungslogik steht diesem Wunsch radikal entgegen, denn sie zeichnet sich aus durch die Ausbeutung aller Mehrwert-produzierenden Arbeiter_innen, die Ausgrenzung aller im kapitalistischen Sinne nicht verwertbaren Menschen, die massive Zerstörung von Flora und Fauna, die Unterdrückung aller unbequemen Kritiker_innen dieses nicht bedürfnisorientierten Systems durch Repression und Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Wir können uns nicht darauf beschränken, lediglich ein lebenswertes Leben für den exklusiven Kreis deutscher (weißer) Bürger innerhalb unserer Landesgrenzen anzustreben. Wir wollen uns nicht auf einer Insel der Glückseligen wähnen, vielmehr sollen alle Menschen ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben. Alltägliche Schweinereien wie Abschiebungen, Lagerinternierungen, Verelendung Erwerbsloser, Prekarisierung von Erwerbsarbeiter_innen und Rentner_innen, schikanöse Behördengänge und polizeiliche Repression lassen sich nicht mit unserem Weltbild vereinbaren. Die Kritik an diesem System wollen wir am ersten Mai auf die Straße tragen. Anschließend an den ursprünglichen Gedanken aller 1. Mai Demonstrationen heißt unsere Waffe grenzüberschreitende Solidarität mit all jenen, die unter diesen Mechanismen leiden.

So weit, so gut. Wir könnten also am ersten Mai demonstrieren gehen und unsere Wut und Unzufriedenheit über die gegenwärtigen Umstände in dieser Welt und im Speziellen in diesem Land kundtun. Damit wären wir auch ausgelastet genug, schließlich scheinen die reichhaltigsten Ressourcen Deutschlands wohl die niemals versiegenden Frustrationsquellen zu sein. Doch auch damit wollen wir uns nicht zufrieden geben. Denn darüber hinaus halten wir es für zwingend notwendig uns den Neonazis in den Weg zu stellen.

Seit 1992 versuchen Neonazis den 1. Mai wieder für ihre Propaganda zu nutzen. Der Maifeiertag hat für die Nazis eine große Symbolkraft, schließlich war es Joseph Goebbels, der 1933 den 1. Mai zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ kürte. Dementsprechend stilisieren sich die Nazis hoch zu den Gründungsvätern des 1. Mais und verkennen dabei die oben bereits kurz erwähnten historischen Wurzeln. Auch für dieses Jahr haben Neonazis jeglicher Couleur Kundgebungen und Demonstrationen angemeldet und auch sie wettern gegen den Kapitalismus. Ihre Kapitalismuskritik schließt allerdings nicht an den missachteten Bedürfnissen der Menschen an, sondern an der angeblichen Zersetzung der „nationalen Volksgemeinschaft“. Kapitalismus ist also nicht deswegen schlecht, weil er den Bedürfnissen der Menschen widerspricht, sondern weil er die von Nazis stilisierte „aufrechte deutsche Volksgemeinschaft“ zerstört. Ihre Schuldzuweisungen strotzen vor massivem Antisemitismus, Rassismus und aggressivem Nationalismus. Wir können und wollen den Nazis nicht die Deutungshoheit über den für uns wichtigen Tag lassen! Wie in den vergangen Jahren, als wir 2008 nach Hamburg, 2009 nach Hannover und im Februar dieses Jahres nach Dresden mobilisierten, werden wir diesen Umstand nicht hinnehmen und uns den Nazis aktiv in den Weg stellen.

Wir stecken also in einem Dilemma, das wohl viele linke Gruppen kennen: Reisen wir bundesweit Neonazis hinterher oder ergreifen wir selbst die Initiative und vermitteln eigene Inhalte? Einerseits wollen wir den Neonazis nicht zu viel Beachtung schenken, denn Rassismus und Antisemitismus sind tief in der Gesellschaft verankert und sind auch genau dort zu bekämpfen. Andererseits wollen wir Ihnen natürlich nicht die Straße überlassen. Darüber hinaus wollen wir unsere Kapitalismuskritik massiv abgrenzen von der menschenverachtenden Ideologie der rechten Weltverschwörer. Oder doch lieber in Göttingen bleiben? Schließlich wurde die DGB-Kundgebung im letzten Jahr von Burschis bepöbelt. Jede hier aufgezeigte Alternative hat sicherlich ihre Berechtigung und dementsprechend kontrovers wurde in unserer Gruppe diskutiert.

Wir haben uns letztlich für einen eher gewerkschaftsuntypischen Weg entschieden. Dennoch können wir diesen Weg in voller Kongruenz zu unserem Selbstbild als Gewerkschaftsjugend beschreiten. Wir haben uns dazu entschlossen für den 1. Mai zusammen mit der Antifaschistischen Linken International nach Berlin zu mobilisieren, weil wir der Meinung sind, dass wir auf diese Weise beide bereits erwähnten Perspektiven verfolgen können. Vormittags wollen wir den Nazis in die Suppe spucken und mit einem breiten und „Dresden-Ähnlichem“ Bündnis und einer ebenso ähnlichen Strategie den Naziaufmarsch im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg verhindern. Nachmittags werden wir an der revolutionären 1. Mai Demo teilnehmen, um selbst die Initiative zu ergreifen und um eigene Statements zu setzen. Wir wollen uns als Gewerkschaftsjugend nicht darauf beschränken bratwurstkauend auf einem x-beliebigen Dorfmarktplatz zu stehen, wo wichtige und vermeintlich wichtige Menschen richtige und vermeintlich richtige Dinge sagen, die zwei Tage später niemanden mehr interessieren. Wir sind unzufrieden mit diesem System und wollen unsere Kritik offensiv auf der Straße demonstrieren. Schließlich haben wir eine Welt zu gewinnen. Daher:

HERAUS ZUM REVOLUTIONÄREN 1. MAI! HER MIT DEM SCHÖNEN LEBEN FÜR ALLE!

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