3000 Kilometer bis Auschwitz
von Rakete am 9. Dezember 2007 veröffentlicht in PolitikDeportationen von jüdischen Menschen gab es in der NS-Zeit überall. Auch im Göttinger Bahnhof wurden über 100 Opfer des antisemitischen Vernichtungswahns in die Züge verfrachtet. Am kommenden Wochenende hält im selben Bahnhof der „Zug der Erinnerung“: eine reisende Ausstellung, die den Deportierten gedenken soll. Begleitet wird der Zug von einer umfangreichen Veranstaltungsreihe.
„Auf behördliche Anordnung setzen wir Sie davon in Kenntnis, daß Sie sich ab Mittwoch, den 10. Juni 1942, vormittags 8 Uhr zur Abwanderung in Ihrer Wohnung bereitzuhalten haben, und behändigen Ihnen hiermit die von Ihnen vor Ihrer Abwanderung auszufüllende Vermögenserklärung. Mit der Zustellung der Vermögenserklärung ist Ihr gesamtes Vermögen als beschlagnahmt anzusehen. Demgemäß haben Sie sich jeder Verfügung über dasselbe zu enthalten; insbesondere ist es Ihnen strengstens untersagt, irgendwelche in Ihrem Besitz befindlichen Gegenstände zu verschenken, zu verkaufen oder einem anderen in Verwahrung zu geben.“ So beginnen die Briefe, die 1942 an Juden und Jüdinnen verschickt wurden, um sie auf die Deportation vorzubereiten.
Es war der 26. März 1942, als in Göttingen zum ersten Mal Juden und Jüdinnen unter den Augen der Bevölkerung durch die Innenstadt getrieben wurden. Die Züge der Reichsbahn warteten am Bahnhof auf sie und fuhren sie nach Warschau. Die meissten überlebten nicht einmal die Fahrt, der Rest kam in der polnischen Stadt ums Leben. Am 21. Juli folgte die zweite Deportation. Auch hier die gleichen Bilder: Verzweifelte Menschen werden von Soldaten durch die Goetheallee geleitet, wohlwissend, dass sie Göttingen nie wieder sehen werden. Das Ziel des zweiten Transports: das KZ Theresienstadt. 110 GöttingerInnen wurden an diesen zwei Tagen in den Tod geschickt, darunter 20 Kinder. Nur dreivon ihnen überlebten. Insgesamt waren es mehr als 280 jüdische Menschen aus Göttingen und Umgebung, die im Holocaust den Tod fanden.
Damit diese nicht vergessen werden, organisiert ein breites Bündnis aus verschiedensten Göttinger Initiativen den Halt des „Zugs der Erinnerung“ im örtlichen Bahnhof. Der Zug fährt auf 3000 Kilometern quer durch Deutschland. Entlang der Deportationsstrecken der Deutschen Reichsbahn steuert er die Wohnorte der von den Nazis verschleppten und ermordeten Kinder an. Am Donnerstag den 13.12., Freitag den 14. und Sonntag, den 16. Dezember hält er in Göttingen. Die rollende Ausstellung zeigt in fünf Waggons das Schicksal der Verschleppten und soll insbesondere Jugendliche zur Spurensuche nach örtlichen Lebenszeugnissen der Verschleppten anregen. Das Ziel dieses Zuges: das Konzentrationslager Auschwitz.
Diese Form des Gedenkens ist in zweierlei Hinsicht besonders. Zum einen wird die Organisation von unzähligen Menschen aus der ganzen Republik getragen, die alle vor Ort weitere Veranstaltungen organisieren. Zum anderen versteckt sich die Ausstellung nicht hinter Museumsmauern, sondern konfrontiert die Menschen in der Öffentlichkeit. An den Orten, die auch vor 65 Jahren Schauplätze der Deportationen waren: den Bahnhöfen.
Verantwortung übernehmen
Neben dem Gedenken an die Deportierten soll mit dem „Zug der Erinnerung“ auch das reibungslose bürokratische System, dass die Deportationen möglich machte, kritisiert werden. „Es geht um die Verantwortung, die Menschen und Institutionen wie die Reichsbahn und deren Folgeunternehmen Deutsche Bahn übernehmen müssen“ heisst es in einer Publikation des Göttinger Bündnisses. Die Notwendigkeit, sich der eigenen Geschichte zu stellen, werde von der Deutschen Bahn allem Anschein nach noch nicht geteilt. Tatsächlich gewinnt man schnell den Eindruck, dass das Unternehmen von seiner Geschichte nicht viel wissen möchte. Im Januar entfernten Mitarbeiter der Deutschen Bahn im Göttinger Bahnhof aufgehängte Bilder von deportierten Juden. Menschen, die im Bahnhof an die Deportierten erinnern wollten, erhielten Hausverbot. „Es kann nicht angehen, dass deutsche Unternehmen es von ihrem Gutdünken abhängig machen, ob und wenn ja, wo und wie der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird“ kritisiert das Bündnis weiter und fordert freie Informationen und offene Erinnerung an die verschleppten Menschen auf den Bahnhöfen der Deportationsstrecken.
Die Bahn verdient unterdessen sogar noch Geld mit dem „Zug der Erinnerung“. Für die Nutzung der Schienen zahlen die Organisatoren sogenannte Trassengebühren an die Bahn AG. Darüber hinaus ist das Gedenken in den Bahnhöfen nach Regelsätzen für Zugaufenthalte zu entgelten. Diese Beträge summieren sich auf mehrere 10.000 Euro. Einen Erlaß dieser Gebühren hat die Bahn AG abgelehnt. Eine Bitte um finanzielle Unterstützung wies das Verkehrsministerium jetzt „aus rechtlichen Gründen“ zurück. Insgesamt kostet die mehrmonatige Fahrt über 250.000 Euro. Die beteiligten Bürgerinitiativen sammeln deswegen Spenden.
„Deutsche Zustände angreifen!“
Die Ankunft des Zuges nimmt die Göttinger Gruppe OLAfA (Offene Linke – Alles für Alle), die auch Teil des Göttinger Bündnisses ist, zum Anlass, erneut eine kritische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen einzufordern. „Dies kann und darf jedoch nicht einem deutschen Selbstbild als geläuterte Nation zur Begründung dienen“, heisst es im Aufruf zu einer Kundgebung, die am Donnerstag auf dem Jacobikirchhof stattfindet. Kritisiert wird vor Allem der Umgang der deutschen Geschichte mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. „Die deutsche Schuld wird zur “deutschen Verantwortung” umgedeutet und macht Deutschland insbesondere außenpolitisch handlungsfähiger. Sich der Vergangenheit zu stellen scheint auch einen weiteren Schritt zu legitimieren, der vormals als vermeintliches Tabu formuliert wurde: endlich auch der deutschen Opfer zu gedenken.“ Die OLAfA stellt fest, dass Entrechtete, Verfolgte und Ermordete des Nazi-Regimes mit deutschen TäterInnen gleichgesetzt und zu einem Opferbrei verkocht würden. Diesem erinnerungspolitischen Diskurs will die Gruppe etwas entgegen setzen. Die Kundgebung beginnt um 17 Uhr und fordert: „Deutsche Täter sind keine Opfer!“
Der „Zug der Erinnerung “ kommt am 12.12.07 um 18.04 Uhr auf Gleis 4 in Göttingen an und wird mit einer kurzen Kundgebung am Bahnsteig begrüßt.
Im Anschluß findet die feierliche Eröffnungsveranstaltung um 20 Uhr im Kino Lumière, Geismar Landstraße 19, statt. Das Projekt wird vorgestellt, SchülerInnen präsentieren ihre Beiträge zur Spurensuche nach deportierten Kindern und Jugendlichen aus der Region. Konzert: Sänger und Gitarrist Daniel Kempin, begleitet von Dimitry Reznik, spielt und singt jiddische Lieder. Eintritt ist frei.
13. / 14. / 16.12.07 Öffnungszeiten der Ausstellung im Zug Göttingen: 8 bis 13 Uhr für Schulklassen (Anmeldung erforderlich!) 13 bis 18 Uhr für alle Anmeldung für Schulklassen bitte per Mail an zug-der-erinnerung-goe@hotmail.de Der Eintritt ist frei. Der „Zug der Erinnerng“ ist auf Gleis 11 zu besichtigen.
Die Kundgebung der OLAfA findet anders als hier angegeben am Donnerstag, 13.12. 17.00 Uhr auf dem Jakobikirchhof statt.
pardon.
habt ihr nicht lust, den zug auch in die terminspalte auf der startseite mit aufzunehmen. was die gödru schafft, bekommt ihr bestimmt auch hin, oder?
Den ersten Artikel zur Kundgebung der OLAfA gibts bei
liebe monsters,
toll, daß ihr diesen artikel geschrieben habt, schade, daß ihr auf den kommentar von „kwert“ nicht eingegangen seid. der zug der erinnerung hätte tatsächlich unbedingt in die terminspalte gehört, wie ich finde. so habt ihr leider die chance verpasst, kurz und bündig auf der startseite darauf hinzuweisen.
immerhin gibt es die chance, dort andere spannende veranstaltungen aus dem rahmenprogramm des zde anzukündigen. zum beispiel den nächsten:
cordula tollmien liest „fundevogel oder: was war hört nicht einfach auf“. montag, 17.12.07, 15.30 uhr, stadtbücherei göttingen, gotmarstr. 8.