Gedenken an Pogrom
Hoyerswerda, 21 Jahre später
von Harvey am 18. September 2012 veröffentlicht in Soziale Bewegungen, TitelstoryUm an das Pogrom zu erinnern, das vor 21 Jahren in Hoyerswerda stattfand, haben sich am Montagabend knapp 100 Menschen zu einer Videokundgebung in der Göttinger Innenstadt versammelt. Nicht nur an den rassistischen Mob vor 21 Jahren wurde erinnert, sondern auch der Umgang Hoyerswerdas mit der eigenen Geschichte wurde herausgestellt.
Nach Einsetzen der Dämmerung begann die Kundgebung mit ein paar einführenden Worten von Aktivistinnen der Initiative „Rassismus tötet“. Dann lösten sich Videobeiträge und Redebeiträge ab, bei denen an das Pogrom, aber auch die gesellschaftlichen Ursachen erinnert wurden. Neben der Initiative beteiligten sich auch die Gruppe redical M, die Anarchosyndikalistische Jugend, das Antirassistische Aktionsplenum und die Basisgruppe Sozialwissenschaften an der Kundgebung.
Erschreckend klar wurde auch, dass die rassistischen Übergriffe eben nicht einfach als Vergangenheit beiseite gelegt werden können. Im vergangenen Jahr, als die Übergriffe sich zum zwanzigsten mal jährten, zeigte die Stadt Hoyerswerda, wie sie sich die eigene Geschichte zurecht gelegt hat. Aus rassistischen, rechtsextremen Übergriffen wurden auf einer schamhaft kleinen Säule die „extremistischen Übergriffe“. Während eine große Demonstration sich unter Bewachung eines Polizeigroßaufgebots umherscheuchen lassen muss, steht am Gedenkstein auf dem von der Stadt unterstützten „Fest der Heimat“ ausgerechnet der „Bund der Vertriebenen“. Am Rand stehen Nazis, grölend, den vorbeiziehenden Demonstrationszug verhöhnend.
In den Redebeiträgen wurde auch noch einmal die Rolle der Polizei bei den rassistischen Übergriffen herausgestellt. Oft wurde nicht eingeschritten, wurden erst mit großer Verspätung überhaupt Streifenwagen geschickt. Und oft war es nicht der rassistische rechte Mob, der für die Lösung des „Problems“ in die Pflicht genommen wurden, allzu häufig wurden die Opfer des Mobs hier ein weiteres Mal Opfer von Schikane und Polizeigewalt.
Die Videoausschnitte, die auf der Kundgebung in Göttingen immer zwischen den Redebeiträgen gezeigt werden, machen schrecklich anschaulich, dass Hoyerswerda nicht gelernt hat und auch nicht lernen will. Sie sind das perfekte Stilmittel, die Redebeiträge zu unterstreichen, zu illustrieren. Das Konzept der Videokundgebung ist dabei aufgegangen, auch wenn am Montagabend gegen acht nicht mehr allzu viele Passant_innen zu erreichen waren.
Hallo liebe Genossinnen und Genossen, hallo Bürgerinnen und Bürger der Stadt Göttingen, wir sind heute hier, um an das Pogrom in Hoyerswerda in Ostsachsen zu erinnern, welches am 17.September 1991, also vor genau 21 Jahren begonnen wurde.
Das Pogrom in Hoyerswerda war der erste Akt einer Reihe von rassistisch motivierten Gewalttätigkeiten in dem wiedervereinigten Deutschland. Wie konnte es dazu kommen, dass Nazis und Bürger gemeinsam agierten? Gemeinsam agierten, Sie haben richtig gehört! Denn allein das Zuschauen bei diesem Akt nationalen Selektionswillens macht die BürgerInnen Hoyerswerdas und vieler weiterer rassistischer Kacknester zu Tätern. Vom 17.- 19. September 1991 dauerte das Pogrom von Hoyerswerda. BürgerInnen und zugereiste und vor Ort lebende Nazis handelten gemeinsam, um AsylbewerberInnen und ehemalige Vertragsarbeitern aus Vietnam zu zeigen, dass sie im wiedervereinigten Deutschland nichts zu suchen hätten. Die Polizei war damals nicht im Stande oder Willens die marodierenden Deutschen aufzuhalten.
Im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Pogrom wurde deutlich, wie das wiedervereinigte Deutschland tickte. Es tickte und tickt auch nach wie vor national. Von dem Einheitsrausch ab 1989 bräsig gefreut, wollten die BewohnerInnen Deutschlands „blühende Landschaften“ und wie immer, wenn hart gefeiert wurde, kam der Kater prompt. Die Versprechungen Kohls und Co. konnten logischerweise nicht nur nicht eingehalten werden, sondern führten dazu, dass komplette Industriezweige und Unternehmen eingestampft wurden und der Plattenbau zur Insignie für Arbeitslosigkeit und Orientierungslosigkeit wurde.
Kann das eine Erklärung dafür sein, dass der deutsche Mob in diesen Regionen frei drehte und vermeintliche AusländerInnen umbringen wollte? In der westlichen Presse wurde es damals als Folge des Totalitarismus verhandelt: Die von der DDR zugerichteten Zonis, haben nicht nur ihre politische Orientierung verloren, sondern viele seien darüber hinaus Wendeverlierer ohne Job und Perspektive. Auch wenn es schlimm war, was in Hoyerswerda passiert ist ein gewisses Verständnis brachte man dem wütenden Mob entgegen. Und was wollte man von politischer Seite mit den Nazis machen? Die Antwort hieß akzeptierende Sozialarbeit. Also, wollte man den Nazis pädagogischen und logistischen Support zukommen lassen, auf dass sie sich als demokratische BürgerInnen entwickeln. Wohin die staatliche Betreuung von Nazis in den 1990ern führte, sieht man ja gerade im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Akten.
Um jedoch die Verhältnisse der frühen 1990er einordnen zu können, muss noch einmal deutlich gesagt werden, dass der voluntative Akt der Regression nicht vom Himmel gefallen ist, sondern unmittelbar mit der spezifisch nationalen Vergesellschaftung in Deutschland in den 1990ern zusammenhängt. Der Mainstream dachte strikt national. Das heißt selbstverständlich nicht, dass alle BürgerInnen zu der Zeit Nazis waren, aber der Wunsch der eigenen Anspruchsberechtigung im Rahmen des nationalen Kollektivs Ausdruck zu verleihen, war allgegenwärtig. So fand z.B. nicht nur die Metapher des zu vollen Bootes wieder Eingang in den politischen Diskussionsprozess, sondern endete zumindest in dieser rassistischen Welle mit der faktischen Abschaffung der Asylgesetze. In dem Dreiklang „Rostock, Mölln, Solingen“ werden die rassistischen Übergriffe und Anschläge verbal zusammengefasst. Dabei fehlen nicht nur eine Menge weiterer Orte und Städte, die symptomatisch für Naziübergriffe stehen, sondern kennzeichnet auch den Umgang der BürgerInnen mit diesen Übergriffen und Anschlägen.
Heute wird von den BürgermeisterInnen der jeweiligen Städte zumeist beklagt, dass es unfair sei und massiv den Standort schädige, wenn ihre Städte mit Nazis in Verbindung gebracht werden. Des Weiteren hätten die Städte alles gemacht, um die Thematik aufzuarbeiten. Dann werden noch ein paar Initiativen genannt, die sich für Integration von sogenannten Ausländern in den Städten einsetzen. Und alles ist gut. Mitnichten!!! Wer die Rede in Rostock oder besser, das pfäffische Geseier des Bundespräsidenten zur Kenntnis genommen hat, musste feststellen, dass sich an der Verfasstheit des deutschen Umgangs mit seiner jüngeren Geschichte kaum etwas geändert hat. Die Situation sei schwer gewesen, die Politik vor Ort habe versagt. Stimmt, die konsequente Umsetzung solcher Aussagen wäre gewesen, nicht dem deutschen Mob die Gewalt gegen Migrantinnen zu überlassen, sondern man hätte sie von Staats wegen, von vornherein nicht so nah an Wohnungsgebieten ansiedeln dürfen. Die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort hätten aber auch so bleiben können.
Dann wäre auch das Bild des sich eingepissten Deutschlandfans, eh… Pardon mit Bier im Schritt betreufelten ideellen Gesamtdeutschen seiner Zeit, der den Hitlergruß zeigt, nie in Rostsock aufgenommen worden. Und genau dies ist der Knackpunkt der Auseinandersetzung mit den rassistischen Pogromen der 1990er Jahre. Leugnen wäre zwecklos, daher nur so viel zugeben, wie eben nicht angezweifelt werden kann und das kann bisweilen in Deutschland sehr weit gehen. Gewisse moralische Standards und Empathievermögen gegenüber MigrantInnen werden heutzutage von der Gesellschaft als Gutmenschentum bezeichnet und als negativ begriffen.
Die Kommentarspalten zu diversen Themen in öffentlichen Medien quellen über vor rassistischer, kulturalistischer und nationalistischer Kackscheisse. Jeder Trottel gilt als Tabubrecher sobald er das Maul aufmacht und ausspricht, was eh viele schon denken. Die ideologische Formation in der deutschen Gesellschaft steht auf Sturm in der Krise. Die Frage nach der Möglichkeit heutiger Pogrome also BürgerInnen, die Hand in Hand mit Nazis agieren, muss mit einem klaren ja beantwortet werden. Das einzige, das anders als in den 90ern wäre, wäre dass die Polizei keine Ausreden mehr hätte, nicht eingreifen zu können.
Für Linke ganz speziell in Göttingen kann es daher jetzt nur heißen sich ernsthaft für Konflikte mit Nazis zu wappnen und Argumente gegen Staat, Nation und Kapital den BürgerInnen begreifbar zu machen. Die Losung muss Emanzipation statt Regression lauten nicht nur in der Krise, aber jetzt besonders deutlich und nachhaltig!
Das, was die Redical M etwas schwurbelig als „unmittelbar mit der spezifisch nationalen Vergesellschaftung in Deutschland in den 1990ern zusammenhängt“ bezeichnet, könnte auch schlicht als Wiedererstarken des deutschen Imperialismus bezeichnet werden, der mit der Einverleibung der DDR 1990 und dem 2+4-Vertrag die letzten Fesseln des Potsdamer Abkommens abwerfen und seine „Normalform“ annehmen konnte. Die Konsequenz daraus ist heute bereits sichtbar: ökonomische Expansion (in Form von Waren- und v.a. Kapitalexport) und damit einhergehende Schaffung eines eigenen ökonomischen Hinterhofs, aggressive Kriegspolitik nach außen, Militarismus und Ausbau der Polizei- und Geheimdienste nach innen, faktische Abschaffung des Asylrechts und brutales Abschieberegime, Schleifung des Sozialstaats und Schaffung von immer neuen Niedriglohnsektoren, systematische Absenkung des Reallohns und gleichzeitig des Spitzensteuersatzes, Aufbau und (Teil-)Finanzierung von faschistischen Banden (vgl. die beiden allzu „staatsnahen“ Organisationen Thüringer HS und NPD, wobei das nur die bekanntgewordene Spitze des Eisbergs ist).
Es waren die SBZ und die DDR, die seit 1945/1949 als Stachel im Fleisch des deutschen Imperialismus diesem faktische Grenzen gesetzt hatten. Seitdem das sozialistische Deutschland 1990 annektiert wurde, fand ein grundlegender Umbau der Gesellschaft im Sinne der auf ökonomische/militärische Expansion orientierten Teile der Bourgeoisie statt. Der „voluntative Akt der Regression“, also Rassismus, antimuslimische Hetze, Sozialdemagogie und nationalchauvinistisches Herrenmenschentum sind dabei bewusst forcierte Erscheinungen, die diese „neue“ (im Grunde ja traditionelle) Orientierung des deutschen Imperialismus nun ideologisch flankieren und begleiten.
Unser Ansatz als Linke darf daher nicht beim (rein ideologischen) Kampf gegen bürgerlichen Nationalismus stehenbleiben (denn der ist nur eine abgeleitete Erscheinungsform), sondern muss vielmehr gegen die bürgerliche Klasse in Deutschland selbst gerichtet sein. – Oder in Anlehnung an den bekannten Ausspruch Karl Liebknechts: Der Hauptfeind steht im eigenen Land und heißt deutscher Imperialismus!
Die Bundesrepublik hat die DDR nicht „annektiert“. Vielmehr ist folgendes richtig: Nachdem im März 1990 in der DDR die ersten freien Wahlen ihrer Geschichte statt gefunden hatten, entschied sich die erste Volkskammer, die diesen Namen wirklich verdient hatte, dafür der Bundesrepublik nach Art. 23 GG beizutreten.
Weiterhin frage ich mich, warum denn so viele Menschen gegen das SED-Regime auf die Straße gegangen sind und ab November 89 auch für die deutsche Einheit demonstrierten, wenn sie doch deiner Meinung nach im „besseren“ Deutschland lebten?!
Sie fühlten sich nämlich durch Wahlbetrug, fehlenden gesellschaftlichen und politischen Pluralismus, sozialistische Mangelwirtschaft, massive Umweltverschmutzung, Militarisierung der Gesellschaft, fehlende Berufsfreiheit, fehlende Reisefreiheit, fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit usw. gegängelt und wollten dies nicht mehr hinnehmen!
Zudem ist es lächerlich die DDR als friedlichen Staat hinzustellen. Walter Ulbricht wollte 1968 mit der NVA den Prager Frühling niederschlagen. Zum Glück hatte die Sowjetunion dies damals verhindert. Nur 30 Jahre nach der Annektion durch die Nazis hätten wieder deutsche Truppen in Prag gestanden. Damit hätte die SED kein Problem gehabt!