Studien zu Patriotismus
Sommermärchen im Blätterwald
von Schmendi am 29. Juni 2012 veröffentlicht in Hintergrund, TitelstoryDie deutsche Fußballnationalmannschaft der Herren ist im Halbfinale aus dem Turnier geflogen und wird so schnell auf polnischem Grün keinen Sieg mehr sehen. Das Spektakel findet jedoch nicht nur auf dem Rasen statt, sondern auch und vor allem in den Innenstädten, den Stadien, den Biergärten und den Fanmeilen. Und immer wieder verschafft sich auch Kritik daran Gehör. Wenn tausende Deutsche in einem osteuropäischen Stadion stehen und ihre rhythmischen Klatscheinlagen mit lauten „Sieg!“-Rufen kombinieren, dann läuft vielen ein gruseliger Schauer über den Rücken. „Alles nur Fußball“ sagen die Einen, „nationalistischer Dreckscheiß“ sagen die Anderen. Wissenschaftliche Studien bestreiten jede Harmlosigkeit.
Studien zum Thema
Passend zur Europameisterschaft ist von Dagmar Schediwy ein zweites Buch zum Thema erschienen. Im LIT-Verlag hat sie unter dem Titel „Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold? Der Neue deutsche Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive“ eine zweite Studie rund um die neuen Entwicklungen zur Fußball-Nationalmannschaftsbegeisterung veröffentlicht. Auf Fanmeilen hat sie Interviews mit Fans geführt und dabei ebenfalls politische Motive als wesentliches Moment der neuen deutschen Fahnenbegeisterung herausgearbeitet. Dass es harmlosen Nationalstolz nicht gibt, fanden bereits 2008 die Sozialwissenschaftler Klaus Ahlheim und Bodo Heger in ihrer Studie Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirkungen heraus. Auch der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer postulierte bereits 2006 in seiner Studie Deutsche Zustände, dass es den deutschen Hurra-Patriotismus nur im Paket mit ansteigendem Rassismus gibt.
Jenseits der politischen Alltagsdiskussionen hat der Sonderforschungsbereich „Reflexive Modernisierung“ an der Universität München bereits anlässlich der WM 2006 eine Studie in Auftrag gegeben, um dem gesellschaftspolitischen Charakter der in jüngerer Zeit üblich gewordenen Schwarz-Rot-Goldenen Begeisterungsstürme zu ergründen. Heraus kam eine durchaus lesenswerte Studie von Dagmar Schediwy, die bereits 2008 im Tectum-Verlag unter dem Titel ,Sommermärchen im Blätterwald‘ veröffentlicht wurde.
Schediwy hat für die Studie die Berichterstattung in ausgewählten, in Deutschland erscheinenden Zeitungen untersucht. Neben der BILD, der FAZ, dem Spiegel und der taz sind interessanterweise auch die Hürriyet und die Jüdische Allgemeine in ihrer Auswahl gelandet. Sie fragt nach den Ursachen des nationalen Freudentaumels, der während der in Deutschland ausgetragenen Männer-WM ausgebrochen war. Und ihre Antwort ist eindeutig: nicht die guten Leistungen der deutschen Herren-Nationalmannschaft seien die Ursache für die breite Unterstützung gewesen, sondern eine umfassende, nicht zuletzt von der BILD initiierte, nationale PR-Kampagne, die Widerspruch und Kritik am Fähnchenschwenken ins Abseits geraten ließ. Die Folge sei eine Renationalisierung der öffentlichen Debatte, in der (politisch motivierte) positive Bekenntnis zur deutschen Nation neu etabliert werden konnten.
Als „nationale Selbstvergewisserung“, so Schediwy, sei zu bezeichnen, was von Medien und Publikum seinerzeit zelebriert wurde. Detailliert zeichnet sie die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Diskursverläufe in den einzelnen Medien nach, wobei neben der Darstellung der BILD-Kampagne vor allem die Analysen von Hürriyet und der Jüdischen Allgemeinen auch für diejenigen, die die Abläufe seinerzeit in der Tagespresse verfolgt haben interessante Aspekte zu Tage fördern.
Obwohl Schwediwy eine in weiten Teilen lesenswerte Studie vorgelegt hat, die gerade für diejenigen, die von nationalistischem Überschwank nichts erkennen wollen, wenn für deutsche Tore gejubelt wird, interessant ist, so bleibt die Studie vor allem inhaltlich an einigen Stellen eher dünn. Zwar wird der Diskurs in der deutschen Presse plausibel nachgezeichnet, über die Annahme einer geschickt initiierten Kampagne des Springerverlages kommt die Studie bei deren Erklärung jedoch nicht hinaus. Darüber hinaus scheint die argumentativ überzeugende Studie allerdings insofern unsauber gearbeitet zu sein, als dass sich einige inhaltliche Punkte an mehreren Stellen nahezu identisch wiederholen.
Dagmar Schediwy:
Sommermärchen im Blätterwald
Die Fußball-WM 2006 im Spiegel der Presse
Mit einem Vorwort von Heiner Keupp
Tectum Verlag
Marburg 2008