Interview mit dem Vize-Aussenminister von Kobanê
Rojava ist der erste Schritt
von meresh am 1. Juli 2015 veröffentlicht in Gespräche, TitelstoryIdris Nassan ist Vize-Aussenminister Kobanês - wie alle öffentlichen Ämter ist der Posten von einem Mann und einer Frau besetzt.
Von der kurdischen YPJ und YPG verteidigt, entwickelt sich in Rojava ein Gemeinwesen, das fast alles anders macht als die Nachbarländer. Denn Rojava soll basisdemokratisch, geschlechterbefreit und ökologisch sein. Wie das aussieht, hat sich Monsters vom Außenminister Kobanês erklären lassen.
In Syrien herrscht Bürgerkrieg und inmitten der unübersichtlichen Lage hat sich die demokratische, autonome Republik Rojava behauptet. Die drei Kantone Efrîn, Kobanê und Cizîrê bilden seit fast 15 Monaten eine kurdische Enklave. Nach heftigen Kämpfen um die Hauptstadt Kobanê ist es den KämpferInnen der kurdischen YPG mittlerweile gelungen, einen Teil der Provinz zu vereinen und halbwegs zu sichern.
Dabei unterscheidet sich das Rojava-Projekt grundsätzlich von anderen Regimen der Region: Die kurdische Verwaltung verfolgt ein ökologisches und diskriminierungsfreies Projekt. Auch deshalb erfährt die demokratische und autonome Republik viel Unterstützung aus Deutschland. Mehrere Initiativen haben in der Vergangenheit Spenden gesammelt, aktuell läuft die Kampagne „Feuerwehr für Rojava„.
Über den Aufbau des neuen Gemeinwesens und die Solidarität aus Deutschland hat Monsters mit Idriss Nassan gesprochen. Der Vize-Außenminister Kobanês ist vor einem Monat durch Europa getourt. Vor dem Bürgerkrieg war der 41-Jährige Englisch-Lehrer, in Kobanê ist er außerdem für das Gesundheitswesen verantwortlich. Gern hätten wir auch mit seiner Amtskollegin gesprochen, diese durfte aber nicht aus Kobanê ausreisen.
Herr Nassan, die Grenze zur Türkei ist im Moment geschlossen. Wie sind Sie eigentlich hergekommen?
Die Grenze ist nur offiziell geschlossen. Aber die kurdischen Bezirke können Druck auf die türkische Regierung aufbauen – auch wegen der öffentlichen Meinung der KurdInnen in der Türkei. Denn dort sind Millionen von KurdInnen bereit zu demonstrieren und so Druck auf die türkische Regierung aufzubauen, wenn die türkische Regierung Kobanê provoziert. Offiziell lassen sie niemanden durch und lassen keine Fotos von Hilfsgütern oder sonstigen Dingen zu, die die Grenze überqueren.
Und was wollen Sie mit Ihrer Reise erreichen?
In den Treffen geht es um den Aufbau Kobanês, außerdem diskutieren wir die demokratische autonome Verwaltung in Rojava und in den Kantonen. Auf der politischen Seite geht es darum, wie wir das Leben der Menschen organisieren, was die Ziele dieser Regierung sind und wie wir auf die Zukunft Syriens schauen. Aber natürlich sind die Menschen auf die vier Länder Syrien, Irak, Türkei und Iran verteilt. Deshalb diskutieren wir über alles, was mit den Kurden zusammenhängt und den Aspekten der Region.
Die humanitäre Situation in Kobanê ist bekanntlich schlecht, die Hälfte der Stadt ist im Kampf mit dem IS zerstört worden. Gibt es denn gegenwärtig eine funktionierende Administration?
Ja, die Administration wurde am 27. Januar 2014 etabliert, es sind also jetzt 15 Monate. Dabei geht es darum, die Gesellschaft in Kommunen zu organisieren, also von unten. In diesen Kommunen diskutieren alle mit allen, denn wir müssen alle integrieren. Wenn es beispielsweise um Frauen geht: Frauen machen 50% der Gesellschaft aus. Also geht es um 50% für Frauen und 50% für Männer. Eine Grundlage unseres Denkens ist: Frauen zu befreien, bedeutet die Gesellschaft zu befreien.
In den Kommunen organisieren sich Menschen selbst, sie diskutieren alles: Ökologie, Politik, Soziales. Sie fällen Entscheidungen untereinander. Diese Entscheidungen oder Vorschläge gehen dann an einen legislativen Rat. Den wählen ebenfalls die Mitglieder der Kommunen. So praktizieren die Menschen ihre demokratischen Rechte selbst und nicht durch RepräsentantInnen wie in traditionellen Regimen. Außerdem haben wir einen Exekutiv-Rat. Innerhalb dessen gibt es verschiedene Stabsstellen, ähnlich Ministerien. Diese Ministerien sind für die Ausführung der Beschlüsse und Vorschläge des Legislativ-Rats verantwortlich.
Könnten Sie das an einem Beispiel erläutern?
Ein einfaches Beispiel ist der Umweltschutz: Es gibt einen Baum. Wenn eine Person den fällen möchte, muss das auf Basis eines Gesetzes geschehen. Wenn es der Gesellschaft hilft, kann man ihn fällen. Der Legislativrat erteilt dann eine Order und übersendet ihn dem Exekutivrat. Der reicht ihn an die Zivilpolizei weiter, die das Gesetz ausführt.
Die autonome, demokratische Republik ist ja ein sehr komplexes System. Woher kam die Inspiration dazu?
Es ist Teil der demokratischen Nation von Abdullah Öcalan, der nach Jahren des Kampfes und in einem türkischen Gefängnis zu dem Schluss kam, dass alle Menschen mit allen klar kommen müssen, abseits der klassischen Nationalstaaten oder Religionsstaaten oder sektiererischen Staaten. Es sollen also Menschen miteinander interagieren, es geht nicht um Religion, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit des einzelnen. Die Menschen sollen Ideen gemeinsam diskutieren, von Angesicht zu Angesicht – anders als in den traditionellen Strukturen der Macht.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Im Moment haben wir im Jazira-Kanton Christen, Muslime, Juden. Und wir haben TurkmenInnen, KurdInnen, AraberInnen, JezidInnenen und AssyrerInnen. All diese Menschen haben miteinander Konflikte in anderen syrischen Städten. Im Jazira-Kanton teilen sich diese Menschen die Administration. Weil es eine demokratische, autonome Administration ist, geht es nicht um Staats- oder Religionszugehörigkeit. Sie können einfach grundlegende Rechte ausleben. Also politische und soziale Rechte.
Es geht auch um die Sprache: Syrien ist die „syrische, arabische Republik“, das heißt, die einzige Amtssprache ist Arabisch. In Jazira gibt es Kurdisch, denn die meisten Menschen dort sind KurdInnen. Und dann wird weiterhin Arabisch und auch Assyrisch gesprochen. Und auch alle anderen Minderheiten dürfen in ihrer Sprache lernen, lesen, schreiben und sprechen.
Im Nahen Osten gibt es kein vergleichbares politisches Projekt. Funktioniert das?
Natürlich, Rojava ist nun ein Beispiel für Demokratie und die Partizipation in allen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft. Bernard Kouschner, der ehemalige französische Außenminister, und auch der ehemalige US-Botschafter in Kroatien sagen ganz klar, dass Rojava die demokratischste Administration in Syrien und der ganzen Region ist. In dem Chaos in Syrien und den ganzen Konflikten der Region können wir etwas anders machen als all die etablierten Regime. Und Rojava ist der erste Schritt.
Das heißt, Sie hoffen auch andere Menschen im Nahen Osten zu inspirieren?
Ja, wir sehen in unserer Administration ein Vorbild für die Menschen, die nach Freiheit oder demokratischer Teilhabe suchen. Sie können diesem Vorbild folgen und es wird eine Lösung für alle Menschen im Nahen Osten sein, denn der Nahe Osten ist multikulturell, multistaatlich und multireligiös. Es wird keine andere Lösung geben als eine solche Art von Administration.
Inwiefern ist die Republik Rojava dabei auf internationale Unterstützung angewiesen?
Die ist sehr wichtig, jetzt wo wir gegen die TerroristInnen vom Islamischen Staat kämpfen. Dieser Terror bedroht nicht nur Kobanê, nicht nur Rojava. Sie sind eine Bedrohung für alle Demokratien dieser Welt. Hätten sie die Kontrolle über Kobanê und Rojava, würde das bedeuten, dass sie ganze Gesellschaften kontrollieren. Das sagen wir seit dem Anfang und wir versuchen immer noch eine Koordination zwischen der Türkei, Syrien, Kobanê und anderen Teilen der syrischen Gesellschaft. Es geht um eine Koordinierung gegen die TerroristInnen, um sie aufzuhalten und zu kämpfen, bis der Kampf gewonnen ist. Nicht nur mit Truppen auf dem Boden, sondern auch mit dem Gedanken an eine andere Form von Organisation.
Letztes Jahr haben Gruppen in Deutschland über 100.000 Euro für Rojava gesammelt und den kurdischen Behörden übergeben. Inwiefern hilft denn diese „Graswurzel-Hilfe“?
Unglücklicherweise geht die meiste Hilfe an die Irakische Republik Kurdistan. In Rojava ist kein Geld von der Bundesrepublik angekommen und auch nicht aus anderen Staaten. Nur einige humanitäre Organisationen entlasten uns mit Medizin, Essen und anderen Dingen. Aber es gibt keinen Zugang zu Kobanê, was ein Problem ist. Manchmal schicken sie etwas durch die kurdischen Behörden in der Türkei. Aber die Hilfen sind sehr gering und gehen an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Wenn ich sage, die humanitäre Situation ist sehr schlecht, dann meine ich, dass keine humanitäre Organisation eine Bestandsaufnahme macht, was die Menschen in Rojava brauchen.
Um zum Anfang zurück zu kommen: Sie haben auf ihrer Reise eine Reihe kleinerer Städte besucht. Geht es auch darum, Partnerschaften aufzubauen?
Wir haben eine Partnerschaft mit der Stadt Rom und die Bezirke Kobanê und Neapel steuern auch in diese Richtung. Graz in Österreich hat versprochen, etwas ähnliches zu prüfen. Wir besprechen das auch mit allen PartnerInnen, die wir hier treffen. Und wenn wir keine Partnerschaften mit Bezirken haben, können es auch Partnerschaften zwischen Schulen oder Krankenhäusern sein, weil wir einfach alle Hilfe brauchen. Also würde jeder Schritt in diese Richtung einer in Richtung des Wiederaufbaus von Kobanê sein. Weil es die Hauptstadt eines Symbols für alle demokratischen und humanistischen Menschen gegen den Terrorismus des Islamischen Staats ist.
Danke Herr Nassan für das Gespräch!
Von Meresh und Topf