Tunesische AktivistInnen im Interview

„Gefahr einer Konterrevolution“
von am 13. Mai 2012 veröffentlicht in featured, Politik, Soziale Bewegungen

Über ein Jahr ist es her, dass die Revolten im nahen Osten Europa in ihren Bann zogen. Mittlerweile ist die Situation diffus und schwer durchschaubar. Jetzt waren einige AktivistInnen aus Tunesien zu Besuch in Göttingen – Monsters hat mit Ihnen über die Situation in Tunesion und den Charakter linksradikaler Bewegungen im post-revolutionären Tunesien gesprochen.

Zu Gast waren Arbi aus Sidi Bouzid („der Heimat der Revolution“) und Yousri aus Tunis. Arbi ist Mitglied und Koordinator bei der „Union der arbeitslosen Akademiker“, Yousri ist Teil des anarchistischen Zusammenhangs „Disobey“. Zur Zeit touren die beiden auf Einladung verschiedener Einrichtungen und Gruppen durch Deutschland und informieren über die Lage in ihrer Heimat. Am Mittwoch hielten sie auf Einladung des AStA einen Vortrag im ZHG unter dem Titel „Making a revolution – defending a revolution“ und gaben dem Stadtradio ein spannendes Interview zur aktuellen Lage in Tunesien. Im Gespräch mit Monsters ging es dann um linksradikale und anarchistische Bewegungen im arabischen Frühling;

Charakterisiert bitte eure Gruppen – und wie unterscheiden sie sich von anderen Akteuren der tunesischen Revolution?

Arbi: Die Union der Arbeitslosen Akademiker wurde 2006 am 25 Mai gegründet. Diese Bewegung ist eher jung, weil es in den Zeiten Ben Alis unmöglich war, Strukturen aufzubauen. Man kann sagen, dass erst nach dem Sturz der Aufbau von Strukturen möglich war. Meiner Gruppe gehören ungefähr 10000 Mitglieder an, das ist verhältnismäßig wenig, weil es in Tunesien 250000 arbeitslose Akademiker gibt. Die Mehrheit der Gruppe ist eher links, aber wie überall auf der Welt gibt es auch bei uns große Unterschiede zwischen Reformisten und Revolutionären.

Yousri: Unsere Organisation ist von ihrer Struktur her anarchistisch…aber nicht von ihren Ideen. Wir sind eine Sammlung verschiedener linker Ideen. Wir wollten nicht Mitglieder einer Partei sein, weil in einer Partei immer eine Hierarchie ist, das lehnen wir ab. Wir haben uns auf verschiedenen Aktionen getroffen und versucht dort was aufzubauen – eben hierarchiefrei und basisdemokratisch.

Wie groß war denn euer Einfluss während der Revolution und wie groß ist er heute?

Arbi: Unsere Gewerkschaft ist eine der wichtigsten Gruppen der Zivilgesellschaft, die am Sturz des Symbols der Despotie, Ben Ali, beteiligt war. Wir sprechen bewusst nur vom Symbol des Regimes, weil das Regime weiterhin existiert. Wir sind stets auf der Straße gewesen, wir haben immer wieder Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams organisiert. Wir sind bis heute sehr aktiv – auf der Straße.

Yousri: Während der Revolution und davor waren wir als Einzelpersonen in der Bewegung aktiv, weniger als Gruppe. Während der Revolution und danach haben wir dann unsere Gruppe gebildet. Wir kommen historisch aus vielen anderen Gruppen, die aber hierarchisch organisiert waren und deswegen haben wir eine eigene Gruppe gegründet.

Hatten eure Gruppen dabei lokale Schwerpunkte oder bestimmte Zielgruppen, die im Vordergrund standen, oder ist es euch gelungen, die Breite der Gesellschaft zu erreichen? Oder waren andere Akteure dabei erfolgreicher?

Arbi: Am Anfang der Revolution ging es nicht um bestimmte soziale Gruppen oder lokale Schwerpunkte – es waren eher die Forderungen, die im Vordergund standen: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das wirtschaftliche Ungleichgewicht der Entwicklung der Regionen, die Umverteilung von Wohlstand. Das waren die Forderungen, um die sich die Bevölkerung gesammelt hat. Wir haben uns um die Frage der Arbeitslosigkeit gesammelt.

Gab es denn überhaupt die eine Revolution oder war das eher das Zusammenwirken verschiedener Kräfte?

Arbi: Zu Beginn war es so, dass sich Jugendliche versammelt haben, um ihre Forderungen zu stellen – das war eher eine spontane Bewegung, die Jugendlichen haben sich um diese Forderungen gesammelt. Anfangs war es ein Aufstand Jugendlicher, die sich über Arbeitsloigkeit empört haben. Mit der Zeit haben sich mehr inhaltliche Elemente der Bewegung entwickelt, so dass sich die Menschen mehr angeschlossen haben. Das hat dazu geführt, dass Teile der Bevölkerung, ganz normale Menschen ohne Ideologie und Parteizugehörigkeit, sich um die Bewegung der Jugendlichen gesammelt haben. Dazu kommt, dass die Parteien in Tunesien der Jugendbewegung hinterhergerannt sind, weil sie die revolutionäre Atmosphäre nicht verstanden haben. Die haben nicht verstanden, wie man eine Revolution macht. Das ist bis heute so.

Yousri:
Also für mich ist die Revolution ja genau das, also das spontane Element. Die Menschen gehen auf die Straße und versuchen ihre Interessen durchzusetzen. Es ist nicht so, dass irgendwelche Eliten oder Parteien versuchen mit Zwang oder Gewalt die Menschen von ihren Idealen und Ideen zu überzeugen und so eine Revolution beginnt. Revolution ist, wenn das Volk nicht mehr mit der Herrschaft, mit der Situation zufrieden ist und dementsprechend reagiert und damit auch Organisationsformen schafft gegen Herrschaft und Staat – das ist für mich Revolution.
Die Frage sollte sein, ob die Revolution ihre Forderungen umgesetzt hatAus meiner Sicht hat sie ihre Ziele nicht erreicht. Der Grund ist, dass da Kräfte teilgenommen haben, dass da Bewaffnung und Ideologien reingekommen sind, wie zum Beispiel Parteien, die ihren Parlamentarismus vorantreiben wollen, die keine spontanen Demonstrationen mehr zugelassen haben und sich nur noch auf Wahlen konzentriert haben. Da sehe ich die Gefahr einer Konterrevolution.

Ganz Konkret: Was sind denn eure Ziele und wie unterscheiden sie sich von den “konterrevolutionären” Elementen?

Yousri: Unsere Ziele sind, dass die Menschen menschenwürdig leben – in Freiheit und in gerechter Verteilung ihrer Reichtümer usw. Aus meiner Sicht ist der Kapitalismus das Problem, denn er schafft Menschen mit mehr und mit weniger Rechten und dieses Verhältnis wird immer wieder reproduziert. Es geht dabei nicht nur um juristische sondern auch um materielle und andere Rechte. Und dieses System muss man letztendlich überwinden. Ich sehe auch einen Widerspruch in der marxistischen Staatstheorie; Jede Form von Staat ist auch eine Form von Kapitalismus*, denn auch da gibt es Leute, die Macht haben. In diesem Sinne geht es für mich auch um die Ablehnung jeder Form von Staatlichkeit. Für mich ist es wichtig, dass sich die Leute sich selber organisieren in verschiedenen Formen, auch wenn es temporär ist.

Arbi: Für mich bedeutet die Vollendung der Revolution, dass alle Forderungen, die am 17. Dezember gestellt wurden, auch realisiert werden. Unsere erste Aufgabe ist es, das tunesische Volk über die Verschwörung der imperialistischen Länder aufzuklären und ihrer Handlanger – dem neoliberalen Islamismus. Zum anderen geht es uns um die soziale Gerechtigkeit und ihre Verteidigung. Die Konzentration auf die wirklichen Probleme des Landes – und nicht irgendwelche Nebenwidersprüche, wie Alkoholismus oder Kopfbedeckung für Frauen – das sind nicht unsere Forderungen. Es geht darum, dass das tunesische Volk über sich selber bestimmt, und nicht irgendwelche imperialistischen/ oder kapitalistischen Staaten wie die Türkei, Katar, USA und andere. Ansonsten sollte der tunesische Staat die Aufgabe erfüllen, die Vollbeschäftigung und die gleichmäßige Entwicklung des Landes in verschiedenen Regionen sicherzustellen. Ebenso wie die gerechte Verteilung des Wohlstandes.

Das heisst für euch beide spielt ein gewisses Maß an Kapitalismuskritik eine zentrale Rolle?

Arbi: Es ist wichtig, zu sehen, dass der Kapitalismus in der arabischen Welt am weitesten entwickelt ist. Ein Beispiel ist die Ehefrau des Präsidenten, die mafiöse Strukturen aufgebaut hat, die das wahre Gesicht des Kapitalismus zeigen. Es ist unser Anliegen, gegen den Kapitalismus zu kämpfen und wenn man sich die Situation in Ägypten, Tunesien usw. anschaut, dann ist es wichtig, dass dieser Kampf auf internationaler Ebene vereinigt wird.

Ist es denn wirklich so, dass die Bevölkerung bei euch gegen den Kapitalismus demonstriert? Weil es hier so nicht rüberkommt – da steht der Kampf um Demokratie im Vordergrund der Berichterstattung.

Arbi: Es gab von Anfang an Forderungen von der Straße, die eindeutig antikapitalistisch sind oder so zu interpretieren sind. Also zum Beispiel „weg mit der Bourgoisie“ oder “Arbeiter und Studenten – eine Reihe”, das kann man in Richtung einer antikapitalistischen Forderung interpretieren – teilweise sogar kommunistisch.

Yousri: Die Forderung der TunesierInnen nach Vollbeschäftigung und Gerechtigkeit ist ja eine Forderung gegen den Kapitalismus – auch wenn es den Tunesiern vielleicht nicht bewusst ist. Am Anfang war es so, dass die Intellektuellen und Parteimitglieder wussten, dass das den Sturz des Systems* impliziert. Währenddessen wusste es die einfache Bevölkerung nicht. Ich denke, dass wir alle Teil des Kapitalismus sind. Auch ist der Sturz des Kapitalismus nicht möglich, indem alle Völker dieser Welt an einem Tag demonstrieren und sagen: “Wir wollen den Kapitalismus nicht.” Es geht darum, andere Organisationsformen zu schaffen, denn wir sind alle der Kapitalismus.

Und wie sind die gegenwärtigen Entwicklung in der tunesischen Politik in Bezug auf den Kapitalsmus?

Arbi: Bezüglich der Wirtschaftspolitik gibt es Fakten über die Politik des liberalen Islamismus in Gestalt der Ennahada-Partei. Es gab und gibt einen Sturm von sozialen Forderungen seitens des tunesischen Volkes. Eine Forderung war die Entschuldung des Landes, weil es 4 Milliarden Dollar Schulden gab, die die Schulden Ben Alis und nicht des Volkes sein sollten. Die neue Regierung aber hat einen Vertrag mit der Weltbank zur erneuten Verschuldung geschlossen. Außerdem verhandelt sie eine Ausweitung der Freihandelsabkommen mit der EU, um so eine weitere Liberalisierung zu erreichen. Früher war es so, dass der Imperialismus versucht hat, Revolutionen durch Ermordung und Attentate zu stoppen. Heute läuft das anders – “zivilisierter”, man versucht das durch Verschuldung, so dass die Länder sich nicht weiter entwickeln können. Wenn man guckt, wie die Situation jetzt aussieht, dann ist es zwar nicht mehr wie die Politik Ben Alis, sondern schlimmer.

Ich würde den Themenkomplex Ökonomie jetzt gerne schließen. Yousri, du hast eben Kapitalismus auch als Herrschaftsverhältnis betrachtet – daran anknüpfend auch die Frage nach anderen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, insbesondere männliche Dominanz und Patriarchat. Spielt das für euch bei euren politischen Auseinandersetzungen eine Rolle?**

Yousri: Für uns als hierarchiefreie Gruppe gibt es keinen Grund zu sagen, wir lehnen bestimmte Herrschaftsformen ab und andere nicht. Und deswegen haben wir natürlich auch Kritik am Patriarchat. Und wenn die Männer für die Rechte der Frauen kämpfen würden, wäre das ja auch eine Form von Patriarchat – deshalb sollten vor allem die Frauen selber für ihre Rechte kämpfen.

Und zum Abschluss: Wie könnte eine erfolgreiche Kooperation zwischen europäischen/deutschen und arabischen Bewegungen aussehen?

Arbi: Es geht darum, dass man versucht, die spontanen Bewegungen, die sich gegen diese Gesellschaft in der ganzen Welt entwickeln, zu bündeln. Es gab früher Versuche, aus diesem System auszubrechen, die scheiterten, weil sie ihre Fehler hatten – aber auch, weil sie nicht international stattgefunden haben. Das heisst: Wir müssen berücksichtigen, dass wir unterschiedliche Lebensbedingungen haben und trotzdem einen gemeinsam einen Nenner für Aktionen auf der Straße zu entwickeln. Man muss halt versuchen, die Kommunikation zu verbessern.

Yousri:
Wir haben einen organisierten Gegner vor uns – und wir müssen Organisationsformen entwickeln, um diesen Gegner zu schlagen. Es ist notwendig, sich international zu vernetzen. Es ist auch wichtig, dass man gemeinsam revolutionäre Medien schafft, die Informationen aus der gesamten Welt bündeln und verteilen. Ganz wichtig ist es auch, einen Erfahrungsaustausch zu bewerkstelligen. Es ist wichtig, dass die revolutionären Bewegungen – trotz ihrer Eigenarten – in ihrer Unabhängigkeit unterstützt werden; medial, finanziell und ideell, denn im Moment sind sie isoliert. Und das wäre die Aufgabe der europäischen Genossen, sie zumindest ideell zu unterstützen. So das wir unsere Unabhängigkeit behalten.

Danke für das Interview.

* Das Interview wurde auf arabisch geführt – dementsprechend können Termini nicht 100%ig akkurat genutzt sein. Jede Übersetzung bringt immer auch einen Verlust von Konnotationen und eine Umdeutung des Inhalts mit sich.

** Eigentlich hätten wir gerne mehr über die Rolle der Frauenbewegung in Tunesien gesprochen und ursprünglich sollten auch zwei Vertreterinnen aus Tunesien am Interview teilnehmen. Leider hat sich hier die Visa-Politik des Schengen-Raums einmal mehr als problematisch erwiesen, den Aktivistinnen wurde die Einreise verweigert. Dementsprechend konnten wir diesen Teil der Thematik leider nicht so ausführlich besprechen konnten, wie es geplant war.

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