Erlebnisbericht

London Realpolitik Calling
von am 26. März 2011 veröffentlicht in Hintergrund, Soziale Bewegungen, Titelstory

Bis zu 250.000 Menschen waren am Samstag wieder in London auf der Straße, um gegen die Kürzungspolitik ihrer Regierung zu protestieren. Studierende, Lehrer_innen, Pflegepersonal und Angestellte aus dem Öffentlichen Dienst machten ihrem Frust gemeinsam Luft. Unter ihnen Sozialdemokrat_innen, Kommunist_innen – und womöglich auch wieder Faschist_innen. Dass die Berührungsängste mit reaktionären Kräften in der dortigen Bewegung mitunter nicht groß sind, musste unser Autor im vergangenen November erfahren. Ein Erlebnisbericht aus London.

Als mich der Schlagstock auf den Rücken traf, konnte ich sehen, dass wir es geschafft hatten. Es war schon etwas schwierig, schließlich ging die Polizei nicht zimperlich mit dem Einsatz von Pfefferspray um; meine Augen brannten. Doch es gelang uns, die Zentrale der britischen Konservativen Partei (Tory Party) im Zentrum Londons zu stürmen und so ein mächtiges Zeichen gegen die Sparmaßen der liberalkonservativen Regierung im sozialen Bereich im Allgemeinen, und im Bildungssektor im Besonderen zu setzen. Ein wenig später tat die Belagerung von Prince Charles‘ Rolls Royce ein Übriges, um ein kräftiges „Fuck you“ gegen eine Politik zu schreien, die u.a. die Studiengebühren auf 9000 Pfund pro Jahr erhöht hat – einige Wochen später sollten diese Ereignisse meinem politischen Bewusstsein mehr Erschütterungen zufügen, als Charles und Camilla in ihrer Limo ertragen mussten. Doch eins nach dem anderen.

Großbritannien hatte Ende letzten Jahres die massivsten Studentenproteste seit mehreren Jahrzenten erlebt – in Formen, wie ich sie aus Deutschland bislang nicht kannte. Aus Göttingen kommend, mit der dortigen studentischen Linken mehr oder weniger verbunden, studiere ich seit August an der University of London und erlebe eine politische Landschaft an der Uni, die so ganz anders ist als in Deutschland. Folgende Szene beschreibt den Unterschied sehr treffend.

Als ich nach dem Sturm auf die Tory Zentrale wegen des Pfeffersprays und des Schlagstockeinsatzes heulend etwas abseits an der Themse hockte, entsetzt angesichts der Polizeigewalt, berauscht von unserem Erfolg, kam eine junge Frau zu mir, wie man sie in Deutschland vielleicht von der Düsseldorfer Kö, aber nicht von dezidiert unfriedlichen Studentenprotesten kennt: Mit großer goldenerer Sonnenbrille, Luis-Vuitton It-Bag und beschuht mit 12cm High Heels fragte sie mich, ob ich Hilfe bräuchte. Unter ihrem Pelzmantel, der wahrscheinlich echt war, guckte das blaue T-Shirt der Student Union hervor, das von den meisten der knapp 100 000 Studierenden an dem Tag getragen wurde. Wir kamen ins Gespräch und ich fragte sie, warum sie mit auf die Straße gegangen ist. Ganz einfach, erklärte sie: zum einen, sei das Bildungssystem bereits jetzt äußerst ungerecht, zum anderen sei es demokratische Pflicht, auf die Straße zu gehen, wenn einem etwas nicht passt. Ob sie auch bis vors Tory Headquarter marschiert sei, fragte ich, „Of cause! That was amazing“ war ihre Antwort. Diesem Staatsbürgerunterricht wollte ich nichts mehr hinzufügen. Wir verabschiedeten uns, nicht ohne unsere Nummern auszutauschen, wobei sie Probleme hatte meine in ihr mit Straß besetztes Smartphone einzutippen – sorry, das dauere jetzt etwas, eigentlich sei sie ja eine Blackberry-Personality, doch ihr Vater habe ihr nun mal das neue IPhone 4 geschenkt und sie wisse noch nicht so gut wie man das macht….

Wann hatte ich so was mal in Göttingen, oder Berlin, wo ich eine Zeitlang studiert habe, erlebt. Ein Protest, der alles andere als zurückhaltend war, wurde von der gesamten Studentenschaft getragen. Leute, die habituell bei uns als Hardcore-Burschies eingeordnet würden, skandierten gemeinsam mit im Hidschab verschleierten Frauen ein lautes „We fight you!“. Im Tory Headquater schlugen nicht nur VertreterInnen der studentischen Linken die Scheiben ein, sondern auch breitschultrige Jungs, die stolz die Jacken des elitären UCL Boat Clubs trugen.

Auf den Londoner Campi deutet sich diese Heterogenität der Demonstrierenden schon Tage zuvor an: Alle Student Societies, wie die studentischen Interessenvertretungen heißen, hatten an Ständen mit Flugblättern zu den Protesten aufgerufen. Ich sah das bizarre Bild, dass in einer Reihe vier solcher Stände aufgebaut waren, die in meiner politischen Mind Map nicht zusammen passten: Die Student Socialist Society, Muslim Student Society (MSS), German Society und die LGBT-Society haben klar gemacht, dass man gemeinsam den Politikern in den Arsch treten werde. Die Proteste wurden gar als eine Art Polit-Event verhandelt; manche tauschten sich über Facebook aus, was man am besten anziehe, und eine hitzig debattierte Frage war, ob man sein Smartphone lieber zu Hause lässt wegen Wasserwerfern und so.

Wenn ich daran denke, wie der Bildungsstreik in Gö ablief, als man tatsächlich Leuten erklären musste, warum Studiengebühren scheiße sind, als man von KommilitonInnen ausgelacht wurde, wenn man versucht hat zu mobilisieren… In London undenkbar. Ich will nicht auf wilde Sozialpsychologien eingehen, etwa, naja, die Engländer schlafen eben mit der Magna Charta ein und wachen mit der Habeas Corpus Akte auf – das wäre zu einfach bzw. zu schwierig, aber wahrscheinlich doch irgendwie treffend.

Ich möchte lieber auf das zweite eingehen, was so anders ist, nämlich die öffentlich Rezeption der Proteste: Zunächst haben ProfessorInnen nicht nur Solidaritätsadressen gegeben, sondern viele sind auch mit gelaufen. Ein Lecturer (etwa akad. Oberrat/Juniorprofessor), der an der ehrwürdigen London School of Economics and Political Science liest, wurde gar festgenommen, weil er das Tory Gebäude mit besetzt hat. In den Kommentarspalten der Zeitungen haben an den folgenden Tagen Professoren aus dem ganzen Land nicht nur ihr Verständnis mit den Protestierenden ausgedrückt, sondern auch ihre Unterstützung. Freilich haben sie klar gemacht, dass Gewalt keine Lösung sei, doch immer mit der Volte, dass die Gewaltbereitschaft nachvollziehbar sei. Und die Zeitungen? Hierbei muss man wissen, dass die Tabloids eher old-labour sind. Der Boulevard mag zwar brutaler sein als die BILD-Zeitung, doch mit gleicher Aggressivität richtet er sich in politischen Dingen gegen die Obrigkeit.

Die Tabloids hatten mit „Anarchy in the U.K.“ schnell ihre Headline gefunden und berichteten auch ansonsten ziemlich reißerisch über die Proteste. Aber: sie waren auf Seiten der Studierenden, und die Gewalt verurteilten sie erst ausdrücklich, als des Thronfolgers Auto angegriffen wurde. Schuld an der Massivität, so die Printmedien einhellig, sei aber die liberalkonservative Politik, die den Thatcherismus in den Punkten zu Ende führe, in denen Blair zu zurückhaltend gewesen sei, und damit die Marktlogik systemübergreifend entgrenze. Dass nun die Leute rebellieren, sei doch ganz klar. Sicher, denkt man sich erst mal, very elaborated interpretation, doch dann: in welchen deutschen „bürgerlichen Medien“, geschweige denn der BILD, liest man so was?

Mittlerweile steht die Regierung unter Feuer und massivem Druck; sie hat eine Kommission eingesetzt, die eine Reform der Bildungsreform erarbeiten soll, was – so die politischen Kommentatoren – zur Folge habe, dass die Studiengebühren wieder reduziert werden würden. Im linksliberalen Guardian hieß es, dass die Studentenproteste den Regierungsparteien – mit ihre Intensität und der allgemeinen Zustimmung – die Grenzen des politisch Möglichen aufgezeigt hätten, was beispielsweise eine Liberalisierung des maroden Gesundheitssystem auf dem Rücken der unteren Klassen verhindern würde. Man müsse sich das nur mal in der BRD vorstellen, dass Studentenproteste dazu führen könnten, etwa das Harz IV Regime anzugreifen und der weiteren Verschärfung der Arbeitsgesetze Einhalt zu gebieten.

Es war diese Wirksamkeit des Protests, die mich umgehauen hat, mir gezeigt hat, hier bin ich richtig, richtiger als in Deutschland, wo Solidarität dann aufhört, wenn sie was kostet, und Protest keine Selbstverständlichkeit, sondern immer eine marginale Praxis bedeutet. Doch viel nachhaltiger sollte mich nicht diese Perzeption nachdenklich machen, sondern ein Gespräch, das ich einige Wochen danach hatte.

In einem Seminar von Chantall Mouffe, die natürlich die Proteste öffentlich unterstützt hat, habe ich Alex kennen gelernt, der in einer linksradikalen Gruppe in London institutionalisiert ist und auch die deutsche „Szene“ einigermaßen kennt. Ich habe ihn gefragt, warum die Wirksamkeit der Proteste und deren soziale Heterogenität in England derart möglich sind. Alex‘ Antwort zeigte mir wieder einmal, dass das Theorie und Praxis-Problem die Nemesis der Linken ist. Denn trotz seines schlechten Deutschs würde er die Phase 2 im Internet nachlesen und sowieso sei im deutschen Antifa Milieu eine Diskussionstiefe zu finden, die man in London nur in Uni-Seminaren. In Deutschland würde man sehr theoretisch argumentieren, in England sehr pragmatisch – deutsche Totalität und angelsächsischer Empirismus drückten sich hier aus. Beides habe Vor- und Nachteile.

In seiner Gruppe habe es beispielsweise vor den Novemberprotesten die Frage gegeben, ob man zu einer Demo aufrufen könne, zu denen auch die MSS aufruft. Letztere sei schließlich bekannt für ihre gay-feindlichen und antisemitischen Überzeugungen. Doch letztlich wäre diese Frage mit folgender Rechnung beendet wurden: Die MSS London könne ca. 5000 Leute mobilisieren, 5000 Leute, die gegen die Studentenproteste demonstrieren, was ja das Primärziel sei. Außerdem würde dies großen Rückhalt bei der muslimischen Bevölkerung bedeuten.

Ich fand diese Logik erschreckend, schließlich heißt dies, dass man folglich auch mit der faschistischen National Front gemeinsame Sache machen würde, wenn das Ziel dasselbe sei – in Deutschland etwa ist ja auch die NPD gegen Studiengebühren. Alex meinte, ja, das würde es bedeuten, und es seien übrigens beim Sturm auf die Tory Zentrale welche von der National Front dabei gewesen!

Das Gefühl, das mich überkam, als ich mir vorstellte gemeinsam mit FaschistInnen, wohlmöglich noch Arm in Arm, demonstriert zu haben, war schlimmer als die Wirkung von Schlagstock und Pfefferspray. Ich protestierte scharf, doch Alex entgegnete: „Well, was meinst Du, wenn in fünf Jahren die Kinder der v.a. schwarzen und bengali-stämmigen Unterschicht noch an die Unis gehen können, weil sie keine 9000 Pfund zahlen müssen. Wird denen das nicht völlig egal sein, dass ein paar Faschisten das mit ermöglicht haben? Muss man die Emanzipation der migrantischen Subalternität verhindern, wenn sie nur mit Hilfe von Faschisten erreicht werden würde?“ Vielleicht weil man Englisch für eine solche Diskussion zu schlecht war, oder vielleicht, weil ich auch keine deutsch formulierbare Antwort wusste, wählte ich den schnellen Themenwechsel und beklagte mich über den Regen, das U-Bahn System und die vielen deutschen Touristen in London.

Alex fiel nicht drauf rein und wollte mir’s noch weiter geben „Klar, wir hätten rufen sollen, wir wollen keine Almosen im Sinne eine repressiven Toleranz, sondern den Kommunismus! Doch dann wären wir nur 1000 Leute gewesen, keine Professoren – außer vielleicht Mouffe – hätten uns unterstützt, die Presse hätte uns ausgelacht, und in 5 Jahren wäre die weiße obere Mittelschicht alleine an den Unis wie vor 50 Jahren und hätte das erreicht, was die Faschisten heute fordern … Aber wir Linken hätte immerhin unsere intellektuell-moralische Integrität behalten.“

Und schließlich bemerkte er im schönsten Oxford Englisch ganz trocken: „Wasn’t it a German who said ‚politics is the art of the possible‘?“ „Yes, Germans are assholes even if they thought pragmatically as the English do.”

Fotos: bobaliciouslondon

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3 Kommentare auf "London Realpolitik Calling"

  1. kimkin sagt:

    toller text, auch wenn das ‚gespräch“ am ende etwas konstruiert wirkt…aber: mehr davon!

  2. doppelell sagt:

    Finde ich auch: Schöner Einstand. Das mit den Tabloids hab ich gar nicht gewusst. Der Pragmatismus der Linken in England hat allerdings auch einiges damit zu tun, dass es dort noch viele radikale Sozialisten gibt – im Unterschied zu den deutschen demokratischen Sozialisten -, viele davon Trotzkisten. Permanente Revolution bedeutet für sie, dass der erste Schritt sein muss, die Menschen in gemeinsame Bewegung zu versetzen. Woher eine/r (in durchaus schillerndem Sinne) kommt, spielt dabei im Grunde keine Rolle.

  3. hubertW sagt:

    Super Text, aber: glaubst Du nicht, dass die Leute hierzulande bei 9.000 € Studiengebühren auch auf die Straße gingen? Oder, dass die Briten bei „lächerlichen“ 700 € vielleicht doch die Füße stillhielten?

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