Menschenrechte

Krankenschein für Papierlose
von am 14. März 2011 veröffentlicht in Hintergrund, Titelstory

Die medizinische Grundversorgung von illegalisierten Menschen im Raum Göttingen will die Medizinische Flüchtlingshilfe verbessern. Bislang können sie medizinische Hilfe nur über Umwege in Anspruch nehmen, auf dem regulären Weg droht ihnen am Ende die Abschiebung. Ein Anonymisierter Krankenschein könnte Abhilfe schaffen.

Sie führen ein Leben in der Illegalität, vor den Augen der Gesellschaft: Illegalisierte Flüchtlinge, auch Papierlose oder irreguläre Migrant_innen genannt. Offiziell sind sie gar nicht hier, haben weder eine Aufenthaltsgenehmigung, noch einen angemeldeten Wohnsitz, eine Steuernummer oder eine Krankenversicherung. Sie können keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen und auch keine Sozialhilfe bekommen.

Trotzdem leben sie in Deutschland, auch in Göttingen. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Ihr Leben ist bestimmt von der Angst, entdeckt zu werden. Jeder Behördenkontakt würde zur Abschiebung führen. Bei Rot über die Ampel zu gehen kann zum Schicksalsschlag werden, wird man von der Polizei erwischt.

Bei Arztbesuch: Abschiebung

Ähnlich sieht es bei der Gesundheitsversorgung aus. Zwar haben diese Menschen einen rechtlichen Anspruch auf medizinische Notversorgung, der sich aus dem Asylbewerberleistungsgesetz ergibt. Doch bereits per Gesetz ist diese Versorgung auf das Nötigste eingeschränkt. Und faktisch gibt es überhaupt keinen freien Zugang für die irregulären Migrant_innen zu einer medizinischen Versorgung: das Problem liegt in der Bezahlung der medizinischen Leistungen. Denn dafür wären die Sozialämter zuständig, die wiederum verpflichtet sind, Illegalisierte der Ausländerbehörde zu melden. Eine verhängnisvolle Kettenreaktion, die mit der Abschiebung enden kann.

„Im Krankheitsfall stehen Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus deshalb vor schwerwiegenden Problemen“, berichtet einer Sprecherin der Medizinischen Flüchtlingshilfe Göttingen. „Der Aufschub einer ärztlichen Behandlung führt in vielen Fällen zu einer Verschlimmerung und Chronifizierung von Erkrankungen.“ Gehen diese Menschen also aus Angst vor der Abschiebung nicht zum Arzt, verschlimmert sich ihre Erkrankung oftmals.

Anonymisierter Krankenschein soll helfen

Weil sie eine befriedigende Lösung auf Bundesebene für nicht absehbar halten, haben Flüchtlingsinitiativen Notlösungen auf lokaler Ebene entwickelt. In Göttingen versucht die Medizinische Flüchtlingshilfe, Menschen ohne Krankenversicherung einen Arztbesuch zu ermöglichen. Zumeist übernimmt die Gruppe die Behandlungskosten, im Jahr 2010 insgesamt 6898,76 Euro. „Es gibt auch Ärztinnen und Ärzte, die ehrenamtlich mit uns Zusammenarbeiten und nur die Sachleistungen in Rechnung stellen“, erzählt die Gruppensprecherin. Ein Konzept, dass nur aufgrund zivilgesellschaftlichem Engagements funktioniert und auf Dauer keine Lösung sein kann.

Eine solche Lösung auf kommunaler Ebene soll der anonymisierte Krankenschein sein. Seine Einführung forderte die Medizinische Flüchtlingshilfe Anfang März auf einer Sitzung des städtischen Sozialausschusses. Er soll Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus den Zugang zur medizinischen Regelversorgung ermöglichen, zudem wäre eine freie Arztwahl möglich.

Das Konzept des Anonymisierten Krankenscheins sieht die Einrichtung einer Vergabestelle im Gesundheitsamt vor, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt. Dort könnten Nicht-EU-BürgerInnen ohne legalen Aufenthaltsstatus, im Asylverfahren oder mit einer Duldung und auch EU-BürgerInnen ohne ausreichenden Versicherungsschutz den Krankenschein erhalten. Die Papierlosen könnten mit diesem Dokument eigentständig ÄrtztInnen und Krankenhäuser aufsuchen. Die Abrechnung könnte über einen anonymen Code auf dem Krankenschein wie bislang über das Sozialamt laufen.

Stadt will prüfen

Die Stadt selbst unterstützt die Medizinische Flüchtlingshilfe mit 5.000 Euro im Jahr und deligiert so die Verantwortung für die medizinische Versorgung der Illegalisierten an die ehrenamtlich arbeitende Gruppe. Auf die Idee, einen anonymen Krankenschein einzuführen, ist die Kommune von selbst nicht gekommen. Die Flüchtlingshilfe hofft trotzdem auf ihre Unterstützung: die Reaktion auf die Konzeptvorstellung im Ausschuss sei „überwiegend positiv“ gewesen. Es solle nun ein runder Tisch durchgeführt werden, der die medizinische Versorgung der irregulären Migrant_innen zum Thema haben soll.

„Die Medizinische Flüchtlingshilfe wird auch weiterhin die Kommune in die Pflicht nehmen, auch Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus das in den Menschenrechten verankerte Höchstmaß an körperlicher Gesundheit zuzugestehen“, heißt es von Seiten der Flüchtlingshilfe. Sozialdezernentin Dagmar Schlapheit-Beck (SPD) sagte in der HNA, eine endgültige Stellungnahme der Stadt zum anonymisierten Krankenschein gebe es noch nicht: „Wir wollen das intensiver prüfen.“

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