„Halt´s Maul“ – Ein Göttinger Anwalt beim G8 Gipfel
von am 10. Juni 2007 veröffentlicht in G8 Heiligendamm

Der G8 Gipfel in Heiligendamm ist nun vorbei und somit auch seine Proteste. Das öffentliche Meinungsbild über all die „Chaoten“ scheint doch, trotz zum Ende vereinzelt auftretender kritischer Berichterstattung über die Strategien der Polizei, gefestigt: Demonstrierende böse, Polizei gut. Wie sollte es auch anders sein. Wir sprachen mit dem Göttinger Anwalt Sven Adam, der während der Protesttage beim Rechtsanwaltsnotdienst vor Ort mitgearbeitet hat und ein ganz anderes Bild von der Polizei mitgebracht hat, als das der deeskalierenden SchützerInnen von Recht und Gesetz.

Guten Tag, Herr Adam. Sie sind Mitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsverein. Erklären Sie uns doch kurz, was es mit diesem Verein auf sich hat.

Nun. Zur Erklärung, was oder wer der RAV ist, bedarf es einiger Sätze mehr. Gleich vorweg: Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein hat nichts mit der rechtsradikalen Partei zu tun, die sich den Namen sinnwidrig anmaßt.

Der RAV gründete sich 1979 als politische Anwaltsorganisation mit dem Ziel, für eine freie Advokatur und ein demokratisches Recht zu streiten. Damals war der Anlass für die Gründung die öffentlichen Angriffe gegenüber engagierten Kolleginnen und Kollegen, die insbesondere in politischen Strafverfahren verteidigten. Gegen diese Angriffe und Diffamierungen sollte eine schlagkräftige Interessenvertretung aufgebaut werden. Dieses Ziel wurde erreicht.

Die Rechtswirklichkeit hat sich seitdem stark verändert. Engagierte Anwältinnen und Anwälte sind in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert und exponierte RAV-Mitglieder wurden Bundes- und Landesminister oder Präsidenten von Rechtsanwaltskammern. Die Probleme unserer Mandantinnen und Mandanten sind jedoch ähnliche wie zu Gründungszeiten. Die Rechte von Migrantinnen und Migranten werden ständig beschränkt. Die Opfer einer irrationalen Drogenpolitik finden sich ebenso in den überfüllten Haftanstalten wie eine wachsende Zahl Armutskrimineller. Und die Hartz-Gesetzgebung nimmt den hiervon Betroffenen teilweise die Luft zum Atmen.

Der RAV versteht sich daher letztlich als Teil einer Bürgerrechtsbewegung und versucht, auf rechtspolitische Entwicklungen durch Teilhabe an der öffentlichen und fachöffentlichen Diskussion Einfluss zu nehmen. Hierbei streiten wir heutzutage vor allem gegen die ständige Verschärfung des Straf- und des Strafprozessrechts, gegen Polizeigewalt und die stetige Ausweitung polizeilicher Befugnisse, gegen ein rassistisches Asyl- und Ausländerrecht, für die Wahrung der Rechte von Minderheiten und für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen. In diesen Punkten bin ich mir mit etlichen Kolleginnen und Kollegen im RAV einig und deswegen bin ich auch direkt nach meiner Zulassung beigetreten.


Während des G8 Gipfels hat der RAV den Anwaltsnotdienst gestellt, bei welchem auch Sie mitgearbeitet haben. Was waren die Aufgaben dieses sog. „Legal Teams“?

Wir waren mit ca. 100 Anwältinnen und Anwälten vor Ort. Ziel war es, Betroffenen beispielsweise nach einer Verhaftung oder bei Fehlverhalten von Polizeibeamten rund um die Uhr Hilfe und rechtlichen Beistand zu bieten. Hierzu waren wir bei Festnahmen in den Gefangenensammelstellen (GeSas), um für die Betroffenen ein rechtsstattliches Verfahren zu ermöglichen. Darüber hinaus versuchten wir, mit rechtlichen Mitteln Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, Reiseverbote und ähnliches zu verhindern. Hierzu begleiteten wir teilweise bereits die Anreisenden in den Zügen und Bussen und waren zudem auf den Demonstrationen zugegen und durch unsere Westen mit der Aufschrift „Legal Team“ zu erkennen und ansprechbar.

Gab es im Vorfeld eine Zusammenarbeit mit der Polizei, die sich ja damit gerühmt hat, kooperativ und deeskalierend zu handeln?

Vertreter des RAV haben bereits Anfang April versucht, mit der zuständigen Einsatzleitung „Kavala“ in Kontakt zu treten und einige grundsätzliche Fragestellungen wie z.B. die für ein rechtsstaatliches Verfahren erforderliche Ermöglichung von Kontaktaufnahmen zu den Festgenommenen, die Gewährleistung einer unverzüglichen richterlichen Entscheidung bei Freiheitsentziehungen und die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit von Anwälten zum Beispiel bei Straßensperren zu erörtern. Darüber hinaus wurde bereits zu dieser Zeit die mannigfaltige Rechtsprechung zu rechtswidrigen polizeilichen Ingewahrsamen und sonstigen polizeilichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Massenverhaftungen und insbesondere der Unterbringung und Behandlung der Festgenommenen thematisiert. Als einzige Mitteilung von der Polizeieinsatzleitung erhielt der RAV am 21. Mai ein Schreiben mit der lapidaren Willenserklärung, dass ein rechtsstaatliches Verfahren garantiert und Anwälten der Zugang zu Festgenommenen ermöglicht werde. Viele andere aufgeworfene Fragen wurden nicht beantwortet. Selbst die in diesem Schreiben gemachten Zusagen wurden letztlich seitens der Polizeieinsatzleitung gebrochen. Von einer Zusammenarbeit kann also leider keine Rede sein. Diese Kooperationsverweigerung zeigte schon im Vorfeld, dass wenig Interesse an der Anwendung einer deeskalierenden Polizeistrategie bestand.

Bereits am ersten Tag der Demonstrationen in Rostock veröffentlichte Ihr Verein eine Pressemitteilung, in der das gewalttätige Vorgehen der Polizei kritisiert wurde. Sogar eine Anwältin soll bedroht und tätlich angegriffen worden sein. Was genau ist da passiert und sind solche Meldungen repräsentativ für die Zusammenarbeit von Polizei und AnwältInnen während des G8 Gipfels?

Bezeichnend für die Atmosphäre am ersten Tag war insbesondere die Tatsache, dass gekennzeichnete Demonstrationssanitäter unter Einsatz von polizeilicher Gewalt an Hilfeleistungen für Verletzte gehindert wurden.

Gegen 15 Uhr stellten zwei gekennzeichnete Kolleginnen am Parkplatz an der Fischerstraße in Rostock fest, dass Polizeieinheiten verletzte Festgenommene ohne Behandlung ließen. Um den Betroffenen zumindest anwaltlichen Beistand zukommen zu lassen, versuchten sie Kontakt zu den Festgenommenen aufzunehmen. Eine der Kolleginnen wurde von einem Polizeibeamten zu Boden geschubst und dadurch verletzt, die zweite wurde mit den Worten „Ich schlag dir in die Fresse“ von einem Polizeibeamten bedroht. Kein Polizist nannte auf Nachfrage entgegen der gesetzlichen Verpflichtung einen Namen oder eine Dienstnummer, auch nicht, als der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele eintraf. Dies ist eines der unzähligen Beispiele dafür, dass die Argumente für eine Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten im Großeinsatz nicht der schlechtesten welche sind.

Derartige Vorkommnisse gab es etliche an allen Tagen des G8-Gipfels. Hierbei wurden ohne Rücksichtnahme auf rechtliche Grundlagen die Maßnahmen umgesetzt, die der Einsatzstrategie der Polizei entsprachen. Darin hatten anscheinend weder Anwälte noch Rechtssuchende Platz. Die Vorkommnisse wurden dokumentiert und werden auch Thema einer am kommenden Montag, den 11.05.2007 – 14 Uhr, stattfindenden Pressekonferenz des RAV im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin sein.

Welche besonderen Vorkommnisse haben Sie persönlich in den folgenden Tagen erlebt?

Körperliche Gewalt habe ich zum Glück am eigenen Leib nicht erfahren müssen. Nichtsdestotrotz war ich in vielen Situationen erschrocken über die Gleichgültigkeit gegenüber Rechtsstaatlichkeit und insbesondere Rechtsprechung, mit der die Polizeibeamten agierten. So kam auch ich zwei mal in den zweifelhaften Genuss, mit „Halt´s Maul“-Rufen konfrontiert zu werden, wenn ich Festgenommenen anwaltlichen Beistand leisten wollte. In den GeSas machte ich die Erfahrung, dass mir der Zugang zu den Gefangenen über viele Stunden verweigert wurde. Die Betroffenen berichteten mir teilweise, dass sie keiner gefragt habe, ob sie einen Anwalt sprechen wollen und berichteten von den Gitterkäfigen, in denen sie untergebracht sind und ständig voyeuristisch gefilmt wurden.

In einigen gerichtlichen Eilverfahren war ich zudem mit weitgehender Unkenntnis der Richterinnen und Richter hinsichtlich des für diese Verfahren maßgeblichen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes des Landes Mecklenburg-Vorpommern (SOG-MV) konfrontiert. Den beispielsweise eingeteilten Zivilrichtern schien diesbezüglich keinerlei Schulung oder Fortbildung zu Teil geworden zu sein. Hierdurch – ich muss schon fast sagen verständlich – zustande gekommene gänzlich falsche gerichtliche Beschlüsse, durch die die Fortdauer des Gewahrsams angeordnet wurde, mussten von mir durch sofortige Beschwerde an das Landgericht Rostock angegriffen werden. Die laut Anordnung des Landgerichts dann unverzüglich Freizulassenden wurden trotzdem erst nach vielen – teilweise bis zu 6 – Stunden von der Polizei wortlos entlassen ohne ihnen die beschlagnahmten Gegenstände wie z.B. Handys wieder zu geben. Solche Erfahrungen sind aber nichts im Vergleich zu dem, was die Festgenommenen über Stunden und Tage in den GeSas durchgemacht haben.

Wie ist ein solches Vorgehen der Polizei mit dem Gesetz zu vereinbaren, welches sie ja eigentlich schützen sollte?

Ganz klare Antwort: Gar nicht. Derzeit werden diverse Strafanzeigen gegen die Polizeieinsatzleitung und die jeweilig verantwortlichen Beamten wegen Freiheitsberaubung von uns vorbereitet. Erfahrungsgemäß dauern diese Verfahren aber sehr lange.

Haben Sie mit einem solchen Verhalten der Polizei im Vorfeld gerechnet oder waren Sie überrascht über das Ausmaß der Unrechtmäßigkeiten?

Nun – einiges kannte ich schon von den Berichten aus dem Wendland anlässlich der Anti-Castor-Proteste. Viele der offenbar eingeschliffenen Verhaltensweisen der Polizei bezüglich der Ingewahrsamen sind in der Vergangenheit von den Gerichten für rechtswidrig befunden worden. Erschrocken hat mich, wie bereits gesagt, die Gleichgültigkeit, mit der sich auch über die eindeutige Rechtsprechung hinweggesetzt wurde.

Der RAV strebt gerade eine Klage gegen die BILD Zeitung wegen falscher Berichterstattung an. Was ist der konkrete Vorwurf und wie beurteilen Sie die Rolle der Presse im Zuge des G8 Gipfels?

Am 5.6.2007, gegen 19.00 Uhr, wurde eine Gruppe von fünf Polizeibeamten in Zivil durch Demonstrantinnen und Demonstranten bei der Blockade am Osttor des Sicherheitszaunes entdeckt. Die Zivilpolizisten waren im Stil des so genannten Schwarzen Blocks gekleidet. Als auf dem Hubschrauberlandeplatz hinter der Polizeikette einige Hubschrauber landeten, versuchten die Zivilbeamten – das ist mittlerweile durch Zeugen belegt – die anwesenden Umstehenden zu Straftaten anzustacheln. Sogar ein Stein soll von einem der Beamten geworfen worden sein. Auf Aufforderung der Blockade-Organisatoren entfernten sich dann vier von fünf Zivilpolizisten und wechselten auf die Seite der uniformierten Beamten. Der fünfte Zivilpolizist, der sich wie seine Kollegen geweigert hatte, seine Identität offen zu legen, wurde dann von zwei Kolleginnen und den Blockade-Organisatoren auf eigene Bitten hin (!), zu seinen uniformierten Kollegen begleitet, um eine Gefährdung des Beamten durch aufgebrachte Demonstrantinnen und Demonstranten zu verhindern.

Unter der Fotoüberschrift „Aufgebrachte Schläger versuchen, einem Zivilpolizisten die Kapuze vom Kopf zu reißen“ zeigt die Bild-Zeitung vom 06.05.2007 ein Foto, welches eine meiner Kolleginnen abbildet. Die betreffende Anwältin ist zu sehen, wie sie mit dem Zivilbeamten darüber spricht, wie er sich zu seinem eigenen Schutz auf die andere Seite der Polizeikette begeben kann. Diese Fotoüberschrift ist also offensichtlich falsch. Sie suggeriert in böswilliger Absicht, dass die auf dem Bild erkennbaren Personen, die tatsächlich den als Agent Provocateur agierenden Polizeibeamten geschützt haben, Gewalttäter seien.

An der tendenziösen Berichterstattung der Bild-Zeitung kann wohl kein Zweifel bestehen.

Eine allgemeine Aussage über die Rolle der gesamten Presse im Zuge des G8-Gipfels ist hieraus aber nicht abzuleiten. Andere Medien begannen spätestens seit Dienstag, den Ausführungen der Polizeieinsatzleitung auch zu den Ereignissen von Samstag in Rostock nicht mehr vorbehaltlos Glauben zu schenken und auch andere Darstellungen zu berücksichtigen. Diesbezüglich kann ich aber derzeit nichts weiter sagen, da ich mir vorher gerne einen Überblick über die Berichterstattung an sich verschaffen will. Während der Arbeit in Rostock blieb hierfür keine Zeit.

Was kann die Polizei Ihrer Meinung nach für ein Interesse am Einsatz so genannter „Agents Provocateurs“ haben? Mit Deeskalationstaktik scheint das ja nicht mehr viel zu tun zu haben.

Die „Agents Provocateurs“ sind an sich in polizeilichen Ermittlungsverfahren in nahezu allen Bereichen des Strafrechts nicht unüblich. Und das obwohl sie von Anfang an verfassungsrechtlich hoch umstritten waren und nach dem Bekannt werden derartiger Einsätze von Zivilbeamten auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies beanstandet hat.

Der Einsatz von „Agents Provocateurs“ in Heiligendamm würde mich nach den Erfahrungen anlässlich der Proteste gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Genua 2001, wo solche Beamte erwiesenermaßen zuhauf unter den Protestierenden waren, zumindest nicht wundern. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das selbstverständlich nichts zu tun. Denn machen wir uns nichts vor: Diese Beamten machen sich gegebenenfalls im Auftrag der Polizeieinsatzleitung strafbar. Sie werfen teilweise selbst Steine, um den Protest anzustacheln und gefährden die eigenen Kolleginnen und Kollegen.

Dieser Einsatz muss vor allem dann aber auch politische Konsequenzen haben, wenn die „Agents Provocateurs“ ihre Tätigkeit bei medial so sensiblen Situationen wie den Protesten in Heiligendamm entfalten und letztlich gegebenenfalls mitverantwortlich sind für eine Eskalation der Gewalt. Man kann hier durchaus von der so genannten „Strategie der Spannung“ sprechen, einem Oberbegriff für verdeckte Maßnahmen zur psychologischen, gesellschaftlichen oder politischen Verunsicherung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder eines gesellschaftlichen Protestes. Denn während der gesamten Woche fand selbstverständlich auch ein politisch und medial geführter Meinungskampf über die Legitimation des Protestes statt. Und Bilder von gewalttätig agierenden Protestierenden können in der Öffentlichkeit dazu genutzt werden, auch rechtswidriges polizeiliches Verhalten gegenüber friedlichen Protestierenden zu rechtfertigen oder eine Forcierung der Spaltung der Protestierenden zu bewirken. Damit könnte auch die gestellte Frage nach einem möglichen Interesse der Polizeieinsatzleitung an derartigen Einsätzen beantwortet werden. Dass dies auch nichts mit Deeskalation zu tun hat und möglicherweise die Ereignisse vom Samstag in Rostock in einem anderen Licht erscheinen lassen, dürfte jedem klar sein.

Eine Demokratie, die ihren Namen verdient, sollte den Einsatz von „Agents Provocateurs“ auf Großereignissen kategorisch unterbinden bzw. das Verbot des Einsatzes gesetzlich klarstellen, um dieser Gefahr der unverantwortlichen Meinungsmache vorzubeugen.

Nach dem G8 Gipfel forderte nun August Hanning, Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, eine stärkere Überwachung der so genannten Autonomen. „Mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen – seien es V-Leute, Observationen oder abgehörte Telefonate“ soll nach seinen Vorstellungen die Überwachung der linken Szene ausgebaut werden. Spätestens nach der medialen Berichterstattung über die Proteste gegen den G8 Gipfel dürften solche Forderungen auch Rückhalt in der Bevölkerung haben. Wie beurteilen Sie diese Forcierung von weiterem Grundrechteabbau und werden sich solche durchsetzen lassen?

Der RAV wendet sich zu Recht schon seit seinem Bestehen gegen die immer weiter zunehmende Verschärfung des Straf- und Strafprozessrechts und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse auch im Vorfeldbereich von möglichen Straftaten. An dieser grundsätzlichen auf die Freiheit der Gesellschaft gerichteten Position verändere ich auch dann nichts, wenn anlässlich eines Großereignisses Straftaten begangen werden und die entsprechenden Bilder oder die Bilder eines besonders krassen Falles von Kriminalität von einzelnen Politikerinnen und Politikern genutzt werden, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit heraufzubeschwören.

Durch mehr Überwachung werden z.B. Straftaten nicht verhindert, sondern bestenfalls einige wenige mehr aufgeklärt. Der Nutzen der Überwachung ist selbst nach Angaben des Bundeskriminalamtes für die Aufklärung von Straftaten nicht besonders groß.

Wer nun, wie August Henning, einzelne Großereignisse oder auch eine einzelne, schreckliche Straftat in den Mittelpunkt stellt, um mehr Überwachung zu fordern, ignoriert, dass die Nachteile eines Ausbaus der Überwachung deren Nutzen bei weitem überwiegen.

Der Staat verfolgt nicht nur Straftäter, er ermittelt auch gegen Verdächtige. Darunter befinden sich viele Menschen, deren Unschuld sich erst später herausstellt oder deren Ausforschung als vermeintlich notwendiges Übel scheinbar mit einkalkuliert wird. Die Instrumente der Strafverfolgungsbehörden (z.B. Telefonüberwachung, Observation, Nachbarbefragung, Untersuchungshaft) treffen daher in vielen Fällen Unschuldige. Weil jeder Opfer eines Irrtums oder einer Falschverdächtigung werden kann, müssen wir zu unserer eigenen Sicherheit dafür sorgen, dass die staatliche Macht begrenzt bleibt.

Insgesamt dienen die in unserem Grundgesetz verankerten Grundrechte der Erhaltung einer freien Gesellschaft und einer lebendigen Demokratie, letztlich also dem Wohl der gesamten Bevölkerung. Diese Werte gilt es jetzt mehr denn je zu verteidigen. Der diesbezügliche Erfolg hängt auch davon ab, inwieweit sich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes nicht unter einen Generalverdacht stellen lassen wollen, sondern die Stimme gegen die Einschränkungen ihrer Privatsphäre erheben.

Wie beurteilen Sie rückblickend den G8 Gipfel aus rechtsstaatlicher Perspektive? Es gab offensichtlich flächendeckend gewalttätige Übergriffe der Polizei, Aushebelungen des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit und bereits im Vorfeld Verschärfungen so genannter Sicherheitsgesetze.

Ein Rechtsstaat ist ein Staat, in dem die öffentliche Gewalt an eine in ihren Grundzügen unabänderliche und im Ganzen auf Dauer angelegte objektive Wert- und Rechtsordnung gebunden ist. Wir haben diese Wert- und Rechtsordnung vor allem in Form des Grundgesetzes mit den darin kodifizierten Freiheitsrechten. Die daran gemessene Rechtsstaatlichkeit ist während der Protesttage vielfach auf der Strecke geblieben. Dies muss sowohl ein politisches als auch ein juristisches Nachspiel haben. Wenn hier die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wirft das kein gutes Licht auf unsere Demokratie. Es muss sichergestellt werden, dass das Grundgesetz mit den darin enthaltenen Freiheitsrechten auch in Ausnahmesituationen mehr wert ist als das Papier auf dem es geschrieben steht. In diesem Zusammenhang müssen auch die neuen Sicherheitsgesetze einer gründlichen Prüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin untersucht werden. Hierfür gilt es sowohl von der Politik, von der Rechtsprechung als auch von allen gesellschaftlichen Schichten zu streiten.

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3 Kommentare auf "„Halt´s Maul“ – Ein Göttinger Anwalt beim G8 Gipfel"

  1. Rakete sagt:

    Wer diesbezüglich mal richtig kotzen möchte, kann ja jetzt mal sabine christiansen einschalten

  2. Mrs. Smith sagt:

    Das war richtig gruselig, was da bei Christiansen abging.

  3. Das Legal Team/Anwaltlicher Notdienst des RAV arbeitet derzeit an einer umfassenden Dokumentation der Maßnahmen rund um den G8-Gipfel. Einerseits sollen eigene Verfahren (Beschwerden/Widersprüche) gegen die rechtswidrigen Polizeimaßnahmen angestrengt, andererseits müssen betroffene AktivistInnen verteidigt werden. Um die gesamte Nachbereitung politisch begleiten zu können, ist es notwendig, dass sämtliche Verfahren koordiniert werden, auch, um ggf. Sammelklagen anstrengen zu können. Daher hier der Aufruf: wenn Ihr von Repression betroffen seid, meldet Euch, damit eine Koordination stattfinden kann! Sagt dies ggf. auch Euren AnwältInnen. Eine Vernetzung aller Verfahren ist notwendig, um der Welle der Repression eine breite Bewegung entgegensetzen zu können.

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